IASLonline

Rompilgerführer

  • Nine Robijntje Miedema: Rompilgerführer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Die »Indulgentiae ecclesiarium urbis Romae« (deutsch / niederländisch). Edition und Kommentar. (Frühe Neuzeit 72) Tübingen: Max Niemeyer 2003. X, 554 S. 43 Abb. Leinen. EUR (D) 128,00.
    ISBN: 3-484-36572-2.
[1] 

Nine Miedema hat einen beträchtlichen Teil ihrer bisherigen wissenschaftlichen Arbeit den Rompilgerführern gewidmet, die auf den Titelblättern der spätmittelalterlichen Druck-Ausgaben oder in der literaturwissenschaftlichen Tradition zum Teil den Titel Mirabilia Romae führen. Nach einer Zusammenstellung der Gesamtüberlieferung der verschiedenen lateinischen Texte (Initium der ›eigentlichen‹ Mirabilia: Murus civitatis Romae habet turres..., in den Inkunabeln meist 6–10 Blatt) und der Edition verschiedener deutsch- und niederländischsprachiger Übersetzungen in ihrer Dissertation 1 und einem Kompendium über das Bild der römischen Kirchen in diesen Texten 2 legt sie nun ein drittes Buch vor, das nach seinem Titel zwei Schwerpunkte hat.

[2] 

Rompilgerschaft
im Spätmittelalter

[3] 

Der Haupttitel Rompilgerführer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit meint vor allem erst einmal das ganze Pilgerwesen, und da Miedema sich auf handschriftliche und gedruckte Quellen bezieht, geht es konkret um die ganze Zeit des Entstehens dieser Texte: von der ›Handschriftenzeit‹ über Gutenbergs Erfindung bis in das erste Drittel des 16. Jahrhunderts. Sie führt uns dazu eingehend das breite Spektrum der dazugehörenden Hintergründe und Usancen vor Augen: die Gewohnheit der Rom-Reise zuerst – es überrascht vielleicht doch, sich über Jahrhunderte hin diesen steten Strom von Pilgern vorzustellen, der zu den Jubeljahren noch periodische Höhepunkte erlebte. Bekanntlich aber nahm ›man‹ (Mann ?) damals nicht aus touristischen Gründen solche Strapazen und Gefahren auf sich, im Mittelpunkt des Interesses der Pilger standen fromme Ziele. (Auch wenn wir humanistische Bildungsbedürfnisse nicht vergessen dürfen. Sie aber dürften wohl nicht vorrangig durch die Mirabilia befriedigt worden sein.)

[4] 

So zeigt Miedema in einem Kapitel »Reliquienverehrung, Wallfahrt, Ablaß« die mentalitätsgeschichtlichen und eher praktischen Probleme auf: Konnten kirchenrechtlich auch die vielfach geteilten Reliquien, zudem wenn die Pilger sie nicht zu sehen bekamen, ihre heilsame Wirkung entfalten, wie verhielt es sich mit den Ablässen und den oft inflationär wirkenden Gnadenversprechen? Ein moderner Leser mag sich fragen, was Leute auf dem Kerbholz hatten, die die Befreiung von Hunderten und Tausenden von Jahren Strafe im Fegefeuer anstrebten? Ja, und solche ›Verbrecher‹, die wir instinktiv gern den ›unteren‹ Gesellschaftsschichten zuordnen, haben sie nach Rom reisen (, die von Miedema behandelte gedruckte Pilger-Baedeker in ganzen Auflagen kaufen) und überhaupt lesen können?

[5] 

Natürlich war um 1500 der Weg nach Rom ein entbehrungsreiches, kostspieliges Abenteuer. Wir erfahren, daß man sich davon freikaufen und einen Stellvertreter entsenden konnte. Körperlich und sozial Schwachen mit dem Wunsch nach einem Gnadenerweis blieben Wallfahrten im Geiste, die auch für Klosterinsassen die einzige Möglichkeit einer Pilgerschaft bildeten, da sie sich ja allgemein aus ihrem Konvent nicht länger entfernen durften. Daneben bot die Kirche Wallfahrten in nähere, nördlich der Alpen gelegene Städte, die auf Zeit stellvertretend (Stellvertreterwallfahrten) die heilsbringende Funktion von Rom erfüllten. So wurden Städte wie Erfurt, Nürnberg oder Amsterdam zu ›Rom‹ erklärt, und die heimischen Kirchen wurden umfunktioniert, so daß man dort an dem Gnadenschatz der Peterskirche oder anderer römischer Kirchen teilhaben konnte.

[6] 

Die Texte und
ihre Versionen

[7] 

Zur ›Begleitung‹ im weitesten Sinne, Einstimmung, Orientierung und Information war jene Gattung der Rom-Pilgerführer entstanden, der Miedemas langjähriges Augenmerk gilt und aus der sie nun mehrere volkssprachliche Versionen ediert. Dieser Textabdruck bildet entsprechend dem Untertitel den Hauptinhalt des Buches. Die Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae werden in deutscher Übertragung nach drei Handschriften gegeben: Wolfenbüttel (1448, aus Augsburg), Trier (um 1500, aus dem Trierer Raum) und München (1472, mittelbairische Schriftsprache), die Indulgentiae (in einen Kalender integriert) nach einer niederländischen Handschrift (Haag, zweite Hälfte 15. Jahrhundert, mittelniederländisch), die Stationes cum indulgentiis deutsch (Nürnberg: Peypus 1516) und niederländisch (Antwerpen, nach 1500, Nijhoff-Kronenberg 1948), die Historia et descriptio deutsch (Rom: Guldinbeck, 28.VIII.1487, Hain 11211) und die niederländischen Figuren van den seuen kerken van Romen (Gouda: Collaciebroeders, nach Sept. 1494, ILC 1599).

[8] 

Als bibliothekarischer Leser bin ich leider nicht imstande, Miedemas editorische Leistung philologisch zu würdigen oder ihre Textauswahl im Überlieferungskontext zu werten. Dies bleibt der Germanistik vorbehalten. Sie hat nun weitere Texte dieses Genres in einer modernen Ausgabe, und das wird Nutzen bringen! Ich kann nur bibliothekarische Schlußfolgerungen ziehen, denn eine solche Forschungsleistung bedeutet, daß die in Bibliotheken vorhandenen Texte nun entsprechend präsentiert werden müssen. Da geht es nicht (mehr) an, diese Pilgerführer lapidar als Mirabilia Romae zu katalogisieren, auch wenn die Worte auf so manchem Titelblatt stehen. Die einschlägigen Datenbanken 3 weisen unter diesem Begriff allein für die Inkunabelzeit über hundert Druck-Ausgaben nach!

[9] 

Doch nun beginnen die Schwierigkeiten: Wenn ich lese »In bezug auf die ›Historia et descriptio‹ liegt der relativ seltene Fall vor, daß ein ursprünglich lateinischer Text (die ›Indulgentiae‹) mehrfach ins Deutsche übertragen wurde, wonach eine dieser deutschen Textfassungen (mit anderen Texten zur ›Historia et descriptio‹ zusammengestellt) als Basis für die Rückübertragung in die lateinische Fassung diente« (S. 47), so teile ich Miedemas Bedauern »... die lateinische Überlieferung dieses Textes, vor allem die spätmittelalterliche, wartet weiterhin auf einen Bearbeiter« (S. 8) und beklage schmerzlich ihren Entschluß, nicht Beispiele jener lateinischen Texte in Lesefassung abzudrucken (soweit vorhanden), von denen sie die volkssprachigen Versionen ediert.

[10] 

Dies wäre ohne sonderliche philologische Skrupel akzeptabel gewesen, da sie selbst – auch für ihre volkssprachigen Fassungen – einräumt, daß dies im Spätmittelalter Gebrauchstexte waren (»... daß es sich bei den genannten Texten eher um Textkomplexe als um festumrissene und invariable Einzeltexte handelt...« S. 463; S. 35 hatte sie vorgeschlagen, »den Titel ›Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae‹ nicht als den Titel eines festumrissenen Textes zu betrachten, sondern vielmehr als einen Sammelnamen für untereinander stark divergierende Fassungen...«). Tatsächlich ist es plausibel anzunehmen, daß die Drucke in den Offizinen durch Setzerhand (auch unwillkürlich) verändert wurden, muß man sich doch vergegenwärtigen, daß ein Großteil der Druckausgaben in Rom gedruckt wurde – sicher von zugewanderten deutschen Setzern, die auch die lateinischen Texte zu betreuen hatten, und wohl manchmal in Zeitnot. Zudem spielten bei der Einrichtung der Ausgaben technische oder ganz ›triviale‹ Reklameaspekte eine Rolle, so daß zum Beispiel Vacat-Seiten (S. 223) nun wirklich nichts zu bedeuten haben.

[11] 

Offene Fragen

[12] 

Geheimnisvoll, unverständlich bleibt manches, und daran ›schuld‹ ist nicht die Autorin! Einiges an ihrer Argumentation mag man freilich auch anzweifeln.

[13] 

So verwundert schon die Sicherheit, mit der sie das Blockbuch der deutschen Historia et descriptio (verzeichnet bei Hain 11208) für einen süddeutschen Druck hält. Die Ausgabe ist mit keinem Impressum versehen, so daß es gilt, Indizien für die Lokalisierung zu finden. Die Sprache trägt nach allgemeinem Urteil süddeutsche Züge, und die Holzschnitte sollen süddeutsche Stilmerkmale zeigen. Beides würde auch für Rom nicht befremden, kann man doch unter den tausenden Pilgern auch Holzschneider und (wie erwähnt) Drucker vermuten: Nach Geldners Handbuch Die deutschen Inkunabeldrucker (Bd. 2, Abschnitt Rom, S. 29–61) stammen später die Hauptproduzenten der Mirabilia-Ausgaben (gleich welcher Textfassung) aus süddeutschen Regionen: Diözesen Passau (Plannck), Konstanz (Guldinbeck) und Würzburg (Silber), ferner Württemberg / Besigheim (Besicken) und Mengentheim (Sigismund Mayer).

[14] 

Da ist leicht vorstellbar, daß die Muttersprache Spuren in den deutschen Drucken hinterlassen hat. In solcher Situation scheint das Papier, auf dem gedruckt wurde, die einzige Chance einer ›Annäherung‹ an den Druckort zu bieten. Miedema jedoch wies bereits 1991 in ihrem Aufsatz Überlegungen zu den Mirabilia Romae 4 Feststellungen Lamberto Donatis zurück, das italienische Papier deute auf Rom als Druckort: »... da italienisches Papier in ganz Süddeutschland benutzt wurde« – und ist dieser Anschauung treu geblieben. Gewiß, der italienische Papierhandel nach Deutschland ist belegt, aber ›daneben‹ wurde in Deutschland auch einheimisches Papier verwendet. Die Tatsache, daß sich zum Beispiel auch die Katalogbearbeiter von Christie’s (London, Auktion vom 11.VII.2000, Nr. 231) bei der Beschreibung des Foyle-Exemplars des Blockbuchs auf Briquet bezogen – und offensichtlich keiner in den zahlreichen Findbüchern Gerhard Piccards Erfolg hatte, deutet für mich (bei aller Vorsicht) darauf hin, daß bei den Exemplaren William Foyles und der in München und London kein ›deutsches‹ Papier ›dabei‹ war. Somit sollte die Rom-Hypothese doch mit allen Konsequenzen durchdacht werden!

[15] 

Gebrauchssituation,
Autorenperspektive, Textsorten

[16] 

Manches an diesen Texten ist aber ›an sich‹ unverständlich, nicht aus persönlicher Interpretation. Zwei Aspekte haben mich besonders beeindruckt: Im Kapitel »Zur Textgeschichte der ›Indulgentiae‹« versucht Miedema, die Abfolge der Behandlung der Kirchen in einigen handschriftlichen Textzeugen zu verstehen (S. 32–33). Sie endet mit der Charakterisierung »unsystematisch«. Wenige Seiten später betont sie, daß ein Drucker eine Veränderung in der Reihenfolge der Kirchen in Ausgaben der deutschen Historia et descriptio vorgenommen hat und den Text »... somit einem an der Topographie der Stadt orientierten Rundgang anpaßt« (S. 43).

[17] 

Wir haben also von völlig verschiedenen Gebrauchssituationen auszugehen (S. 10), aber deutlich auch von abweichender Autorenperspektive. Wenn ein nördlicher Autor, vielleicht nach einer Rom-Reise, einen Bericht über die (Gnaden-)Wunder Roms verfaßte, so spielten für seine Umgebung Entfernungen und Ablaßzusagen keine Rolle. Vielleicht hatte er nach der langen Reise (ohne die heutigen Taschenpläne in ›Patentfaltung‹) die innerstädtischen Wegstrecken in Rom längst vergessen. Wenn ihm beim Text der Stoff ausging, konnte er sich an Quellen orientieren, die in seinem Umfeld vorhanden waren. Dem entspricht, daß wir in Abbildung 31–33 zu den Figuren van den seuen kerken von Romen gänzlich unspezifische Bilder einer Kirche finden, wie sie wohl in jeder Stadt Nordeuropas steht, als italienisch empfinden wir höchstens den Campanile. Ähnlich betont Miedema zu den Holzschnitten des Straßburger Druckes d 20 (C 4057): »Diese Gebäude sind jedoch keine Versuche einer realistischen Darstellung der römischen Kirchen.« (S. 84).

[18] 

Die Drucke aber mußten ›stimmen‹, sonst hätten sie den Pilgern keine Hilfe geboten, und diese hätten sie nicht gekauft. Im Berliner Exemplar von Stephan Planncks Druck der Historia et descriptio vom 20.XI.1489 (Miedema d8) sind von einem zeitgenössischen Besitzer alle Passagen über die Ablässe rot unterstrichen. Dies bedeutet, es ist zur Orientierung genutzt worden. Zwei andere Berliner Inkunabelexemplare zeigen keine Gebrauchsspuren (Miedema d6, Hain 11211, der Leittext für die Edition S. 223–294, und der Nürnberger Druck Peter Wagners, Miedema d9, Hain 11212). Der erste der beiden Drucke muß als Erzeugnis der Offizin des Bartholomaeus Guldinbeck in Rom gewesen sein, aber der Nürnberger? Blatt 1 und 2 sind rubriziert und koloriert – wie wenn jemand in einem Kloster damit begonnen und die Arbeit weggelegt hat.

[19] 

Vergegenwärtigt man sich Miedemas Inhaltsangaben mancher Texte, so mögen einem Zweifel aufsteigen, ob hier nicht unter dem Stichwort Pilgerführer verschiedene Textsorten zusammengetan wurden, die gänzlich anderen Zwecken dienten. Die einen hatten eine eher theoretische Absicht (und waren keine Reise-›Führer‹), die anderen waren praktisch zu nutzen. Zwar haben die Buchhistoriker längst die Erfindung des Taschenbuchs bestimmten Offizinen und Drucker-Heroen zugeschrieben, doch auch die circa 50–60 Blatt starken Ausgaben der deutschen Historia et descriptio konnte man bequem (auch mit Holzdeckelbindung) in eine (Westen- und) Pilgertasche stecken! Diese Frage ist, zugegeben, nicht germanistisch-philologischer Natur, aber vielleicht bringt uns ihre Erörterung (in einem anderen Buch) dem Verständnis mancher ›Geheimnisse‹ dieser Texte näher? Wer sich künftig an solche Fragen macht, wird Nine Miedemas Editionen dankbar nutzen.



Anmerkungen

Nine Robijntje Miedema: Die ›Mirabilia Romae‹. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung mit Edition der deutschen und niederländischen Texte (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 108) Tübingen 1996.   zurück
Nine Robijntje Miedema: Die römischen Kirchen im Spätmittelalter nach den ›Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae‹ (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 97) Tübingen 2001.   zurück
Nine Robijntje Miedema: Überlegungen zu den ›Mirabilia Romae‹. In: Blockbücher des Mittelalters. Bilderfolgen als Lektüre. Ausstellung Mainz, 22. Juni – 1. Sept. 1991. Mainz 1991, S. 329–340, hier S. 330.   zurück