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Himmlische Zeichen

Kosmoslektüren zwischen Mimesis- und Autonomieästhetik

  • Barbara Hunfeld: Der Blick ins All. Reflexionen des Kosmos der Zeichen bei Brockes, Jean Paul, Goethe und Stifter. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 121) Tübingen: Max Niemeyer 2004. VII, 223 S. Kartoniert. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 3-484-32121-0.
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Zeichenordnungen

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Kosmosdarstellungen in der Literatur sind zumindest aus mentalitäts- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive kein neues Thema literaturwissenschaftlicher Forschung. Die Besonderheit der Arbeit von Barbara Hunfeld liegt jedoch nicht in der Rekonstruktion von Einflüssen, die naturwissenschaftliche Entdeckungen im Bereich der Literatur hinterlassen haben, sondern in ihrem dezidiert zeichentheoretisch orientierten Zugang, der den Blick ins All nicht als Thema, sondern als semiotisches Paradigma untersucht. Insofern die Betrachtung des Himmels seit der Antike immer auch ein Lektüreakt war, der die Ganzheit einer sinnstiftenden Ordnung vermittelte, erproben die imaginären Allreisen, so Hunfeld, seit der Frühaufklärung den Aufstieg in einen Kosmos, dessen Zeichen keine eindeutigen Referenzen mehr ermöglichen. Im literarischen Blick ins All verbinden sich daher kosmosgeschichtliche Entwicklungen und ästhetische Debatten um die Funktion von Zeichen im Übergang von der Mimesis- zur Autonomieästhetik.

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Diesen Übergang rekonstruiert die Verfasserin bei vier ausgewählten Autoren, deren Texte zugleich literarhistorische Schwellen darstellen. Den Schwerpunkt ihrer äußerst minutiösen Lektüren bilden dabei die umfangreichen Werke Barthold Heinrich Brockes’ und Jean Pauls. Dass Goethe und vor allem Stifter ein wenig kurz kommen, schmälert nicht das Vergnügen an der Genauigkeit der Analysen und dem theoretischen Niveau der dargebotenen Reflexionen. Eine einführende Darstellung historischer Kosmosvorstellungen und ihrer semiotischen Konzeptionen bildet den Rahmen der literaturanalytischen Arbeit.

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Die Öffnung des Himmels

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Der Himmel ist seit der Antike Spiegel göttlicher Ordnung, die Erde lediglich unvollkommenes Abbild des göttlichen Urbildes, an dessen Harmonie und Gleichmaß kein Zweifel besteht. Das Göttliche jedoch liegt jenseits der Weltgrenze, das Licht der Gestirne, die Himmelszeichen können lediglich darauf verweisen. Selbst die durch astronomische Betrachtungen wahrgenommenen Ungleichmäßigkeiten der Planetenbahnen können am kosmischen Harmoniemodell, wie Hunfeld darlegt, nichts ändern. Das Ziel mathematischer und astronomischer Berechnungen bleibe stets die bessere Beschreibung einer regelgeleiteten Schöpfung, nicht aber die Bestimmung des Kosmos mit den Mitteln der Astronomie. Noch Kopernikus, der die Sonne zum neuen Zentrum erklärt, suche nach der wahren Ordnung des Himmels. Doch trotz der damit verbundenen Unterordnung der Astronomie unter die metaphysische Geschlossenheit der aristotelisch geprägten Sphärenwelt eröffnet Kopernikus’ Verschiebung des Zentrums, das den irdischen Betrachterstandpunkt relativiert, zugleich die Möglichkeit, den Kosmos gedanklich zu erobern. »Die Vernunft«, so Hunfelds Fazit, »war an keinen Ort im All gebunden« (S. 12).

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Dass sich das geschlossene Sphärenmodell Aristoteles’ gegen das vom griechischen Atomismus beeinflusste Bild eines grenzenlosen Universums überhaupt durchsetzte, ist laut Hunfeld nicht nur einem Mangel an Evidenz geschuldet, sondern auch dem Bedürfnis des Himmelsbetrachters nach einem sicheren Beobachterstandpunkt. Wenn Giordano Bruno das Weltall schließlich als unendlich deklariert, dann liege, wie die Autorin darlegt, die semiotisch entscheidende Wende vor allem darin, dass der göttliche Raum eine Umdeutung erfahre: Denn nicht mehr die Transzendenz eines unbetretbaren Absoluten, sondern ein vom Göttlichen durchzogenes räumliches Unendliches sei für Brunos Kosmosvorstellung maßgeblich. Die als räumlich verstandenen Grenzen des Kosmos seien damit zumindest gedanklich überschreitbar gewesen. Dies habe allerdings, wie Hunfeld anhand der Schriften Thomas Digges’ zeigt, Konsequenzen für das Verhältnis von Signifikant und Signifikat. Denn insofern die Himmelszeichen nicht mehr auf ein unverfügbares Anderes verweisen, sondern das göttliche Signifikat lediglich als räumlich entrückt erscheint, sei das Denken durch keine äußere Instanz mehr gesichert und drohe tendenziell nirgendwo mehr anzukommen. Der Literatur komme an dieser Stelle die Funktion zu, die neue Ordnung des Kosmos zu fassen, gründe doch die Affinität von Literatur und Kosmos »in den beiden gemeinsamen Instrumenten ihrer Erschließung, den Zeichen und der Einbildungskraft.« (S. 36)

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Gott lesen lernen

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Beispielhaft für die frühe aufklärerische Verknüpfung von Kosmosschau und Literatur analysiert Barbara Hunfeld ausgewählte Schriften Barthold Heinrich Brockes’, die den Leser anleiten sollen, die göttliche Schöpferkraft in der Natur wie am Himmel zu lesen. Die göttliche Ordnung sei dabei gleichbedeutend mit der Ordnung der Vernunft. Die Abgründigkeit des unendlichen Raums werde, so Hunfeld, in der Denkfigur der Progression aufgehoben. Der Weltraum, der in imaginären Allreisen aufgerufen wird, erscheine als erhaben und könne so als ästhetischer Gegenstand in die Literatur eingeführt werden. Dort wo der Betrachter die kosmische Schau als Überforderung erlebe, sei diese in das Deutungsmuster göttlicher Allmacht eingebettet. Die Literatur Brockes’ könne damit, wie Hunfeld weiter darlegt, als eine Art Filter der sinnlichen Fülle beschrieben werden. Sie bilde einen diskursiven Rahmen, der den entgrenzten Blick absichere. Allerdings seien es gerade die Alldarstellungen, die Brockes’ Anspruch, die Welt als Zeichen göttlicher Schöpfungsmacht lesbar zu machen, zuwiderlaufen. Denn die Unendlichkeit des schwarzen Alls, das als Schriftgrund die Sternenlettern trägt, drohe immer wieder die Himmelsschrift zu absorbieren und den Betrachter in einer sinnentleerten Welt zurückzulassen. Den Ambivalenzen der Brockes’schen Alldarstellungen geht die Autorin in detaillierten Einzelanalysen nach und arbeitet den Blick ins All in seinem Schwanken zwischen gläubiger Versicherung und metaphysischem Schwindel heraus.

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Entgrenzte Zeichen

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Um 1800 ist der Blick in den Himmel zur Mode geworden, die Grenzen des Sichtbaren verschieben sich dank verbesserter Teleskope immer weiter. Doch nicht nur die Weite des Universums, sondern auch die Fülle des stetig anwachsenden Wissens provoziert ebenso Faszination wie Beunruhigung. Denn trotz naturwissenschaftlicher Entdeckungen und des Abschieds vom antiken Weltbild soll der Himmel weiterhin Ausdruck göttlicher Schöpfungskraft sein. Die Texte Jean Pauls nehmen dabei einerseits, wie Hunfeld zeigt, das astronomische Wissen der Zeit aus Büchern auf, deren Anschaffung der Autor sich nicht einmal leisten konnte. Doch dem aufgeklärten Blick ins All stehe der Wunsch nach einer Überwindung der Körperwelt gegenüber. Denn Jean Pauls Texte seien ebenfalls darauf angelegt, aus den Visionen eines leeren und finsteren Alls, aus der Auflösung des Empirischen in Ironie und Satire, das lichte All hervortreten zu lassen. Den Auflösungserscheinungen der Körperwelt werde, so Hunfeld, im Kometen die Totalität einer zweiten Welt, der Geistsphäre, entgegengehalten.

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Doch eben hier beginnt das ästhetische Problem, denn der »durch die Sprachkritik der Spätaufklärung hindurchgegangenen Mimesis der ›zweiten Welt‹ fehlt das Zutrauen zu den Gegenständen, mehr noch, das Vertrauen in die eigenen Mittel« (S. 110). Der Entgrenzungsbewegung des Allbetrachters korrespondiere zum Beispiel im Titan eine Entgrenzung der Zeichen, die das metaphysische Gegenbild der zweiten Welt hervortreibe, ohne die Urbildsphäre darstellen zu können. Die Zeichen blieben semiotischer Schleier des ganz Anderen und tendierten gleichzeitig dazu, metaphysische Schau und nihilistische Angstvisionen ununterscheidbar werden zu lassen. Jean Pauls Subjekt komme daher die Aufgabe zu, einen Kosmos zu zentrieren, dessen Zeichen zugleich seine Dissoziation betreiben. Jean Pauls Sprache, so das Fazit Hunfelds, sei dabei einerseits skeptisch gegenüber der Potentialität der Zeichen und zugleich von dieser stets aufs Neue angetrieben.

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Der zitierte Himmel

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In Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre wird der Himmel schließlich nicht mehr durch Beobachtung erfahren. Das Ganze lässt sich nicht mehr vom Himmel ablesen, sondern muss, wie Hunfeld an der bekannten Sternwartenszene zeigt, als zitierter Himmel im Betrachter selbst hervorgerufen werden. Wo dieser die Augen vor dem ungeheuren Himmel schließen muss, ist der Kosmos dem Ungeheuren und Regellosen nur noch in der Reflexion abzutrotzen.

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»Der Betrachter findet die Zeichen nicht am Himmel, sondern in der Sprache (wieder) auf, im Memorieren alter Signaturvorstellungen, in einem Akt der Versicherung durch Sprache.« (S. 170) Goethe etabliere damit einerseits, so Hunfeld, eine neue Anthropozentrik, die den Zeichenvorrat im Inneren des Betrachters aufwerte, doch zugleich müsse die hierüber hergestellte Ordnung vom Verdacht des Subjektiven gereinigt und in die Ordnung der Archive überführt werden. Dort allerdings sind die Zitate und Verweisungen nicht mehr in der Lage eine Totalität abzubilden, kann für die Authentizität der Schriften nicht mehr gebürgt werden. Der zitierte Himmel ist daher stets vom Zerfall bedroht. Dies gelte nicht zuletzt auch für die Figur der Makarie, die als Mittlerin zwischen Mikro- und Makrokosmos auftritt. Denn letztlich bleibe es laut Hunfeld dem Leser überlassen, was er von dieser mythischen Ursibylle halten will.

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Den Verlust eines einheitlichen Bildes des Himmels teilt Goethe mit Stifter. Doch sei der Kosmos, wie Hunfeld unter anderem in ihrer Analyse des Condor darlegt, in Stifters Texten darstellbar, auch wenn er die Wahrnehmung der Protagonisten überschreite. Der Text entfalte ein Kaleidoskop kosmischer Bilder, die sich zu keiner Einheit mehr zusammenfügen. Doch dieser Befund widerspricht Hunfelds These von der Geschlossenheit des Stifterschen Universums, die Stifters Texte allzu schnell eine realistische Darstellung des Kosmos zuschreibt. Denn es ist eben gerade nicht mehr das ganz Andere, sondern ein abgründig leerer Himmel, der hier im Zitat aufgerufen wird. Nicht die Ganzheit einer kosmischen Ordnung, sondern die Darstellbarkeit dieser abgründigen Leere wird somit den Texten Stifters zum Problem.

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Doch mag Hunfeld hier auch der Modernität Stifters nicht ganz gerecht werden, ihre Lektüren stellen in jedem Fall eine geglückte Verbindung dar zwischen detaillierten Einzelanalysen und ästhetischen und kosmosgeschichtlichen Fragestellungen. Auch wenn die Autorin selbst vor allem literarische Texte fokussiert und die Rhetorik kosmologischer Schriften nur punktuell einer Analyse unterzieht, eröffnet ihre Betrachtung der Himmelsschau als semiotisches Paradigma dennoch Möglichkeiten, das Verhältnis zwischen naturwissenschaftlicher Allbetrachtung und poetischer Alldarstellung anders zu denken. An die Stelle eines Abbildverhältnisses, in dem die Literatur lediglich als Spiegel einer sie umfassenden Entwicklung erscheint, trägt die zeichentheoretische Betrachtung nicht nur dem ästhetischen Potential der literarischen Texte Rechnung, sondern sie eröffnet auch die Frage nach den imaginären und spekulativen Anteilen kosmologischer Repräsentationsformen und damit nach den Übergängen zwischen naturwissenschaftlichen und literarischen Diskursen.