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Literaturwissenschaft ohne Literatur?

Eine exemplarische Studie zum europäischen Späthumanismus ignoriert die traditionellen Fächergrenzen

  • Axel E. Walter: Späthumanismus und Konfessionspolitik. Die europäische Gelehrtenrepublik um 1600 im Spiegel der Korrespondenzen Georg Michael Lingelsheims. (Frühe Neuzeit 95) Tübingen: Max Niemeyer 2004. XII, 675 S. Leinen. EUR (D) 138,00.
    ISBN: 3-484-36595-1.
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Selbst unter den Auspizien eines ›erweiterten Literaturbegriffs‹ dürfte Axel E. Walters Buch Erstaunen erregen: Die bei Klaus Garber in Osnabrück entstandene germanistische Dissertation beschäftigt sich weder mit einem Literaten noch mit – im weitesten Sinne – poetischen Werken, sie hat weder die sozialen Komponenten des Literaturbetriebs noch die didaktische oder kritische Vermittlung von Literatur zum Gegenstand, und die Briefe, die das Quellencorpus der Arbeit konstituieren, werden kaum im Ansatz unter briefliterarischen Gesichtspunkten ausgewertet. Diese Feststellung kann dem Verfasser schon deshalb nicht zum Schaden gereichen, weil er während der rund zehnjährigen, vielfach unterbrochenen Arbeit an dem hier vorzustellenden Großprojekt zur Genüge seine genuin ›literaturwissenschaftlichen‹ Kompetenzen unter Beweis gestellt hat. 1 Für die Gemeinschaft der Wissenschaftler sollte es ohnehin nur die Frage geben, ob die Studie einen maßgeblichen Beitrag zur Forschung darstellt, vielleicht sogar ein Desiderat einlöst, und ob sie als Ausgangspunkt weiterführender Untersuchungen dienen kann. Diesen Ansprüchen genügt Walters Arbeit ohne Frage, wie im einzelnen zu zeigen sein wird.

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Das Problem des ›Späthumanismus‹

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Walter bezeichnet es als »Ziel« seiner Arbeit, »auf Basis der Korrespondenzen Georg Michael Lingelsheims einen späthumanistischen Korrespondentenkreis in der europäischen Gelehrtenrepublik zu erfassen und zu erschließen, um daraus Aufschlüsse über die personellen und sozialen Strukturen, die Kommunikationsformen und Themen, das Selbstverständnis, die gelehrten Diskussionen und Austauschprozesse sowie die konfessionellen bzw. konfessionspolitischen Positionen dieses speziellen ›Kreises‹ im konfessionellen Zeitalter zu gewinnen« (S. 6). Dieses Zusammenwirken von biographischen, regionalhistorischen und kulturgeschichtlichen Motiven hängt damit zusammen, daß eine monographische Untersuchung Lingelsheims seit längerem von der Forschung angemahnt (S. 69, Anm. 1), dabei aber stets gerade als erwünschte Grundlage zum besseren Verständnis der kurpfälzischen Verhältnisse vor und nach Beginn des Dreißigjährigen Krieges bzw. des calvinistisch konnotierten Späthumanismus generell gesehen wurde. In ihrer Funktion als exemplarische Studie zu einer zentralen Figur der Epoche ist sie neben die zehn Jahre zuvor erschienene Arbeit des Rezensenten zu Caspar Dornau zu stellen, 2 von der sie sich dadurch unterscheidet, daß sie nicht auf die Interpretation von ›Werken‹ – die es im Falle Lingelsheims streng genommen nicht gibt – abzielt, sondern (fast) ausschließlich und extensiv das standesspezifische Medium der brieflichen Kommunikation zu Gegenstand und Basis ihrer Analysen macht.

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Innerhalb des einleitenden Teils (S. 1–66) nehmen die forschungsgeschichtlich und systematisch beeindruckenden Ausführungen zum »Begriff des Späthumanismus« (S. 7–40) einen gewichtigen Platz ein. Walter überblickt souverän die Definitionsversuche seit den Tagen Bursians, Joachimsens und Ellingers und konstatiert, daß die negativen Wertungen einer teleologisch fixierten Geschichtsschreibung heute zwar nicht aufrecht erhalten werden, daß es andererseits aber auch noch zu keinem »fachspezifischen« oder gar »interdisziplinären Konsens« (S. 7) gekommen ist. 3 Ihm geht es im weiteren Verlauf darum, durch differenzierte, jeweils mit ausführlichen bibliographischen Nachweisen gestützte Erläuterungen zu einzelnen Aspekten den Späthumanismus vom Ruch der ›Spätzeitlichkeit‹ zu befreien und ihn eher als »lebendige und ebenso lebensgestaltende wie lebensbewältigende intellektuelle und literarische Bewegung« (S. 39) zu bewerten, in der sowohl die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung als auch die enzyklopädische Sicherung von Wissensbeständen ein hohes Niveau erreichten.

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Zum Kern der Begriffsbestimmung dringt Walter allerdings erst dort vor, wo er, im Anschluß an Studien von Erich Trunz, Friedrich Heer, Gerhard Oestreich, Wilhelm Kühlmann u.v.a. und stets auch im Rekurs auf die gesamteuropäische Situation und deren Erforschung, 4 die Ansprüche eines selbstbewußten Gelehrtenstandes zu den gesellschaftlichen, politischen und konfessionellen Bewegungen der Zeit in Beziehung setzt. Dreh- und Angelpunkt für jedwedes Wirken späthumanistischer Gelehrter war der »Primat konfessionspolitischer ›Staatsinteressen‹ und Verwertungsbedürfnisse« (S. 30) auf seiten der jeweiligen Dienstherren. Angesichts einer teilweise noch zu beobachtenden ahistorischen Verherrlichung kerniger ›Renaissancehumanisten‹ 5 auf Kosten ihrer Nachfolger im Staats-, Schul- und Kirchendienst um 1600 bezeichnet es Walter als »geradezu widersinnig, einen Humanismus, der hier seine immer eingeforderte öffentliche Wirkung so weitgehend wie nie zuvor erreichen und seine intellektuellen Potenzen in ganzer Fülle einbringen konnte, nicht mehr als ›echten‹, sondern als funktional auf eine pädagogische Propädeutik zurückverwiesenen Humanismus, einen Humanismus zumal, der sich im Stadium der formelhaften Erstarrung und des Verfalls befände, verstehen zu wollen« (S. 20).

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Walters Ausführungen zum Späthumanismus, die in einer etwas kumulativ vorgetragenen Definition münden (S. 39 f.), sind im einzelnen nicht neu. Sie korrespondieren im Ergebnis zu weiten Teilen mit Wilhelm Kühlmanns epochemachender Studie Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, 6 in ihren Einlassungen zur Rolle der Nationalsprachen in der Literatur folgen sie der von Klaus Garber inaugurierten »dezidiert konfessionspolitische[n] These« (S. 35) von der »Verbindung von protestantischer Sache und deutscher Dichtung« (S. 36). Ob hier einiges überzogen formuliert ist (z.B. S. 32: »Die Entwicklung nationaler Literaturen ist zweifellos das größte Erbe, das der Späthumanismus Europa hinterlassen hat«), sei dahingestellt, Walters Leistung in dieser tour d’horizon liegt jedenfalls darin, das gesamte Spektrum von Fragen und Problemen, die sich angesichts des Phänomens ›Späthumanismus‹ stellen, systematisch aufgewiesen und im einzelnen entschieden Position bezogen zu haben. 7

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Georg Michael Lingelsheim (1557/58–1636):
Quellenlage und Forschungsstand

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Die Einleitung wird abgerundet durch knappe, wiederum die Forschungslage gründlich aufarbeitende Ausführungen zur humanistischen Epistolographie im allgemeinen (S. 41–50) 8 sowie eine statistische und editionsgeschichtliche Präsentation von Lingelsheims Korrespondenz im ganzen (S. 51–66). Die Forschungsleistung, die für die vorliegende Arbeit zu erbringen war, erschließt sich näherungsweise, wenn man berücksichtigt, daß die einschlägige Briefedition von Reifferscheid 9 gut 200 Briefe von und an Lingelsheim enthält und bis heute insgesamt gerade einmal rund 650 Briefe gedruckt vorliegen, daß Walters Recherchen in zahllosen Bibliotheken jedoch die gewaltige Summe von 2278 Briefen (Autographen, Abschriften und Drucke; Summe ohne Mehrfachüberlieferungen) zutage förderten und obendrein noch eine nicht unbeträchtliche Zahl nicht überlieferter Briefe erschlossen.

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Der erste Hauptteil der Studie (»Georg Michael Lingelsheim – Leben, Werk und Wirkung«, S. 67–247) beginnt mit einem gründlichen Referat des Forschungsstandes (S. 69–85), aus dem hervorgeht, daß »die Vorstellungen von Lingelsheims Bedeutung als späthumanistischer Gelehrter, kurpfälzischer ›Politiker‹ und für die Dichtergeneration um Opitz [...] seit Anfang des 20. Jahrhunderts endgültig fixiert worden« (S. 80) sind, während die Fragen nach der Art seiner Mitwirkung bei diversen zeitgenössischen Publikationen vielfach noch der Klärung harren. Allerdings stellt Walter auch hinsichtlich der Biographie Präzisierungen im Detail in Aussicht. Daß »die Untersuchung [...] fast ausschließlich auf den bislang zu ermittelnden Briefen von und an Lingelsheim« (S. 83) basiere, konzediert der Verfasser in untertreibender Bescheidenheit, allerdings äußert er sich nicht darüber, mit welcher Gründlichkeit er die mehr als 2000 oft nur handschriftlich überlieferten, überdies lateinischsprachigen Briefe tatsächlich ausgewertet hat.

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Eine exemplarische Biographie

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In seiner ausführlichen »biographischen Skizze« (S. 86–168) bemüht sich Walter – mit Erfolg – darum, Lingelsheims Vita als ›typisch‹ im Sinne einer späthumanistischen Gelehrtenexistenz zu präsentieren. Er folgt dem Sohn eines Lehrers am Straßburger akademischen Gymnasium von seiner spärlich dokumentierten Jugend, die er im »Milieu eines irenischen Protestantismus« (S. 91) verbrachte, über seine Studienjahre und die Zeit als Präzeptor eines englischen Adligen bis zur juristischen Promotion in Basel (1583). Im Jahre 1584 konnte Lingelsheim in Heidelberg, wo er schon einmal für kurze Zeit studiert hatte, endgültig Fuß fassen, nachdem mit der Regentschaft Johann Casimirs der Calvinismus, dem Lingelsheim zuneigte (S. 106), erneut die Oberhand gewonnen hatte und es darum ging, zur Sicherung der konfessionellen Kontinuität »die Erziehung des Kurprinzen [Friedrich IV.] in reformierte Bahnen zu lenken« (S. 105).

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Lingelsheims Anstellung als Hauslehrer des Kurprinzen in den Jahren 1584–1592 (S. 103–112) und insbesondere sein Wirken als kurpfälzischer Oberrat von 1592 bis zur erzwungenen Emigration nach der Eroberung der Kurpfalz 1621 (S. 113–160) werden präzise auf der Basis der erhaltenen Briefe dokumentiert, deren Klassifikation dem Verfasser am Herzen liegt, da sie ein Licht auf die Position des gelehrten Beamten – es wird mehrfach betont, daß Lingelsheim kein Diplomat war – zu werfen vermag: »Ihrem Wesen nach persönlichen Charakters sind es politische Korrespondenzen, die die offizielle Diplomatie zwischen zwei Mächten flankierten und für die gegenseitigen Beziehungen politisch relevante Informationen weiterleiteten« (S. 143). Vielleicht wäre es nützlich gewesen, die allgemeinen Ausführungen zur humanistischen Epistolographie (S. 41–50) in einigen Fällen durch problemorientierte, textsortenspezifische Einzelanalysen vollständiger Briefe zu präzisieren. Auf diese Weise hätte Walter zwar in diesem oder jenem Fall eine womöglich angreifbare Festlegung hinsichtlich der für die Humanisten generell problematischen Trennung zwischen ›privat‹ und ›dienstlich‹ treffen müssen, indes hätte sich dem Leser die Problematik, auf die der Verfasser immer wieder zu sprechen kommt (z.B. S. 147), am konkreten Dokument noch besser erschlossen.

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Sowohl während der zentralen Heidelberger Jahre wie auch in der Exilzeit nach 1621 (S. 155–168) hatte sich Lingelsheim mit konfessionspolitischen Fragen auseinanderzusetzen. Am Beispiel der niederländischen Konflikte im Umfeld der Dordrechter Synode (Briefwechsel mit Hugo Grotius u.a.) zeigt Walter die »sowohl intellektuelle als auch religiöse Distanz der Späthumanisten zu den konfessionspolitischen Auseinandersetzungen« (S. 147) auf, und im Hinblick auf das ›böhmische Abenteuer‹ Friedrichs V. konstatiert er, daß Lingelsheim »zu keinem Zeitpunkt ein Anhänger jener militanten reformierten Faktion [war], die mit dem Aufstieg Christians von Anhalt zum führenden Gestalter der kurpfälzischen Konfessionspolitik den Kurs der Heidelberger Regierung immer stärker radikalisierte« (S. 155). Andererseits werden bis in die abschließende Zusammenfassung hinein immer wieder die »Grenzen seiner irenischen Haltung«, wird die »antihabsburgische und antipäpstliche Einstellung« Lingelsheims hervorgehoben, wie sie u.a. am Fehlen von Korrespondenten aus dem katholischen Lager – »mit der bezeichnenden Ausnahme der französischen politiques« (S. 470) – deutlich wird.

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Ein Autor ohne Werk?
Lingelsheims Publikationen

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Der erste Hauptteil der Studie wird durch ein Kapitel zu »Lingelsheims Stellung in der res publica litteraria« (S. 169–247) abgeschlossen. Dabei ist die Auswertung der Korrespondenz noch ausgeklammert, lediglich ein überleitender Schlußabschnitt »Lingelsheim als Epistolograph« (S. 238–247) bereitet als allgemeine Einführung auf die Einzelanalysen der diversen Briefwechsel, die im zweiten Hauptteil durchgeführt werden, vor. Pointiert ausgedrückt, handelt das Kapitel von Lingelsheims ungeschriebenen Werken. Nach einer konzisen, auf den bekannten gründlichen Studien zum Thema basierenden Orientierung über die kulturelle Situation Heidelbergs in den Jahrzehnten um 1600 und die Funktion, die man Lingelsheim u.a. aufgrund der 1619 erschienenen Triga amico-poetica zuschreibt (S. 169–180), 10 stellt Walter »Zwei unbekannte Gelegenheitsdrucke auf Georg Michael und Friedrich Lingelsheim« (S. 181–195) vor. Die Epithalamien auf Lingelsheims Hochzeit mit Agnes Loefen (1596) und die Epicedien für seinen 1616 verstorbenen Sohn Friedrich werden vorwiegend unter sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten ausgewertet. Walters Folgerungen hinsichtlich struktureller Verschiebungen im Kreis der Beiträger und ihrer Beziehung zu Lingelsheim während dieser zwei Jahrzehnte sind anregend, wenn auch nicht immer zwingend – immerhin sind die Schreibanlässe nur bedingt vergleichbar und eine analoge Entwicklung der jüngeren Dichter im Verhältnis zu ihren Vorgängern ist schon wegen des durch den Krieg ausgelösten ›Karriereknicks‹ nicht möglich (vgl. S. 194).

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Für »Lingelsheims Anteil an der Reform der deutschen Dichtung« (S. 196–202) im Zeichen Martin Opitzens, der ja kurze Zeit als Präzeptor im Hause Lingelsheim tätig war, kann Walter trotz intensiver Recherchen keine entscheidenden neuen Belege beibringen. Vielmehr muß er konstatieren, daß aus seinen Briefen »an keiner Stelle ersichtlich [wird], daß er sich an den Diskussionen um eine deutschsprachige Dichtung beteiligt hat« (S. 201). Die Suche nach eigenständigen Publikationen Lingelsheims – außer seiner juristischen Dissertation existiert kein Werk, das ihn als Verfasser ausweist – führt gleichfalls zu keinen spektakulären Entdeckungen: Im allgemeinen kann Walter die bisherige Forschung, die einige ältere Fehlzuschreibungen bereits korrigiert hat, bestätigen.

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Somit ist der Ertrag des Abschnittes »Lingelsheim als Philologe und Publizist in der Gelehrtenrepublik« (S. 205–247) vor allem als abschließende Klärung von Fragen, die an unterschiedlichen Stellen verhandelt wurden, einzustufen. Außerdem wird, auch wenn die Autorschaft auszuschließen ist (wie u.a. beim berühmten Cave canem, einer von Kaspar von Barth verfaßten Schmähschrift gegen den Konvertiten Kaspar Schoppe, S. 213–215), die jeweilige Rolle des pfälzischen Beamten im Umfeld der Veröffentlichung eines bestimmten Textes genauer analysiert. Einige ›unselbständige‹ Veröffentlichungen (Übersetzungen und Editionen) sind dagegen von Lingelsheim tatsächlich zu verantworten, darunter die Historia sui temporis von Jacques-Auguste de Thou, die nach dessen Tod 1617 in Frankreich nicht ediert werden konnte (S. 226–229). Alle mit Lingelsheim in Verbindung zu bringenden Werke zeigen seine Bemühungen um einen Ausgleich der Interessen zwischen den protestantischen Konfessionen bei gleichzeitiger Abwehr der Katholiken, mit denen ihm eine Verständigung unter den gegebenen Verhältnissen wohl nicht möglich schien.

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Lingelsheim als Briefschreiber:
ein europäisches Korrespondentennetz

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Der zweite, umfangreichere Hauptteil der Arbeit (S. 249–472) ist einer systematischen Präsentation der rund 80 Briefpartner Lingelsheims sowie ihrer jeweiligen Korrespondenz gewidmet. Das Gliederungsschema folgt der regionalen Zuordnung der Korrespondenten, dabei wendet sich der Blick von Lingelsheims Heidelberger Lebensmittelpunkt 11 an die Peripherie der von ihm wahrgenommenen Welt. Das »Heilige Römische Reich deutscher Nation« wird unterteilt nach historisch gewachsenen Territorien, die Kurpfalz speziell wiederum nach funktionalen Zusammenhängen (Oberrat, Hofgericht, Kirchenrat, »Dichter- und Gelehrtenkreis«); der lange Abschnitt (S. 258–316) bietet zusammen mit den Heidelberg-Passagen innerhalb der Biographie wertvolle Ergänzungen zu der ebenfalls stark prosopographisch fundierten Studie von Volker Press zum pfälzischen Beamtenapparat. 12 Weitere Schwerpunkte bilden das mit der Pfalz in vielfältigen Austauschbeziehungen stehende Schlesien sowie die Reichsstädte Straßburg, Nürnberg und Augsburg. In der Schweiz sind Basel und Genf wichtige Bezugspunkte, in Frankreich natürlich Paris mit dem ›Cabinet Dupuy‹, in den Niederlanden die Universität Leiden. Des weiteren kann Walter Korrespondenten in England nachweisen, während es »keine Belege für Kontakte nach Böhmen oder Siebenbürgen« gebe, »zu Regionen also, in denen die kurpfälzische Diplomatie überaus aktiv war« (S. 467). 13

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Die jeweiligen Wirkungszentren der Briefpartner werden im Blick auf ihre kulturelle und konfessionspolitische Bedeutung kurz vorgestellt. Zu den einzelnen Korrespondenten gibt Walter stets einen fundierten biographischen Abriß sowie eine Kurzcharakteristik des jeweiligen Briefwechsels. Sämtliche Darstellungen basieren auf profunden Recherchen, so daß die Porträts der Briefpartner in ihrem allgemeinen Informationswert oft die Qualität auch ausführlicherer Lexikon- und Handbuchartikel übertreffen. Nur selten erscheinen im Hinblick auf intellektuelle Zentren 14 oder das Leben und Werk der behandelten Personen 15 bibliographische Ergänzungen angebracht.

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Auf eine vollständige Nennung aller Briefpartner, die von der kurpfälzischen Elite (z.B. Ludwig Camerarius, Abraham Scultetus, Janus Gruter, Paul Schede Melissus) über namhafte Vertreter des deutschen Kulturbereichs wie Martin Opitz, Melchior Goldast oder Matthias Bernegger bis zu den Spitzen der internationalen Gelehrtenrepublik (Johann Jakob Grynaeus, Jacques Bongars, de Thou, Grotius u.v.a.) reichen, muß an dieser Stelle verzichtet werden. Dasselbe gilt für die vorgelegten Analysen der einzelnen Briefwechsel, die sich – wie es Walters Konzeption des Späthumanismus entspricht – in gleicher Intensität dem gelehrten Austausch und der politisch-konfessionellen Verständigung widmeten. Hinzuweisen wäre auf spezifische äußerliche Besonderheiten einzelner Korrespondenzen wie etwa die außergewöhnliche Dichte der Überlieferung im Falle von Bongars (640 Briefe) oder Petrus Denaisius (392 Briefe, hier ganz überwiegend Briefe an Lingelsheim), den besonderen Quellenwert der 117 Briefe Lingelsheims an den wenig bekannten französischen Adligen Estienne de Sainte Catherine für die sonst schlecht belegte Zeit seines Exils in den 1620er Jahren oder den Sonderfall der Korrespondenz mit dem Heidelberger ›Nachbarn‹ Melissus, wo sich die eigenständige Textsorte des für spontane Einladungen u.a. genutzten ›Billets‹ ausnahmsweise erhalten hat (S. 300).

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Die stattliche Monographie zeichnet sich nicht zuletzt durch einen opulenten Anhang aus. Auf eine gründliche Zusammenfassung (S. 457–472) folgen ein übersichtliches, nach Korrespondenten geordnetes und die Überlieferung dokumentierendes Verzeichnis aller Briefe (S. 475–545) sowie ein Abdruck der beiden o.g. Gelegenheitsdrucke, die zu Lingelsheims zweiter Hochzeit bzw. beim Tod seines Sohnes erschienen (S. 546–581). Ein überaus umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 583–667) sowie ein Namensregister runden den Band ab.

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Schwächen und Stärken
einer außergewöhnlichen Arbeit

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Walters imposante Studie ist nicht frei von Defiziten, die teils entschuldbar, teils ärgerlich sind. Zunächst stören die zahlreichen Redundanzen, wenn etwa die Interdependenz von konfessioneller und politischer Motivation in Lingelsheims Handeln, die irenische Färbung des späthumanistischen Konfessionalismus oder die Verflechtung von gelehrt-privaten und politisch-offiziellen Aspekten im humanistischen Brief immer wieder aufs neue unterstrichen werden. Des weiteren ist ein – gemessen an der soliden Redaktion des gesamten Bandes – relativ hoher Grad an Transkriptionsfehlern in den lateinischen Zitaten zu beanstanden, auch die Integration lateinischer Passagen in den grammatischen Zusammenhang der eigenen Argumentation ist nicht immer gelungen. Walter, der nicht als Klassischer Philologe ausgebildet ist, hat sich zwar mit bewundernswerter Gründlichkeit in die größtenteils lateinischsprachigen Quellen eingearbeitet, doch lassen manche Versehen erahnen, daß es seiner Sprachkompetenz doch an letzter Souveränität mangelt (ein diskreter Hinweis hierzu wohl S. 83).

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Hierauf ist vielleicht auch die Zurückhaltung bei der Analyse der wenigen poetischen Zeugnisse zurückzuführen: Die Auswertung der im Anhang zitierten Gelegenheitsdrucke (S. 181–195) hätte durch eine textnahe Analyse der Gedichte im Hinblick auf Struktur und Topik sicherlich gewonnen, wie man sich auch (s.o.) exemplarische Einzelstudien zu den Briefen gewünscht hätte. Hingegen ist die grundsätzliche Beschränkung des Verfassers auf die Briefe von und an Lingelsheim, auch und gerade bei der Erstellung der Biographie, nachzuvollziehen, da systematische Ermittlung und Auswertung von »Anschlußkorrespondenzen aus dem Freundeskreis« (S. 83) sowie weiteren Quellen den für eine Dissertation vertretbaren Rahmen gesprengt hätten. Der Umfang des ergänzenden Materials, das Walter präsentiert, ist überdies imposant genug.

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Aus (literatur)soziologischer Sicht befremdet ein wenig der bei allen salvatorischen Einschränkungen (S. 174, Anm. 21) doch etwas großzügige Umgang mit den – nicht nur in der Goethe-Philologie lange überstrapazierten – Begriffen »Kreis« und »Förderer«. 16 Daß aufstrebende bürgerliche Gelehrte und Dichter in der Frühen Neuzeit mäzenatischer Unterstützung bedurften, ist ebenso offenkundig wie die lockere Organisation humanistischer Gruppen im Umfeld regionaler Kulturzentren. Bei der Klassifizierung der konkreten Strukturen, in die Lingelsheim eingebunden war, hätte man sich freilich einen etwas dezidierteren Zugriff gewünscht. Insbesondere für den Bereich der Kurpfalz hätte Walter über die vorsichtigen Andeutungen zum Phänomen des »Kreises« in Dieter Mertens’ Pilotstudie 17 hinausgelangen sollen, und im Hinblick auf Lingelsheims Rolle als »Förderer« einer neuen deutschsprachigen Kunstdichtung hätte der abschließende Befund, daß jene Rolle »überaus unbestimmt« (S. 202) sei, vielleicht zu deutlicheren Konsequenzen bei der Einordnung des Politikers in den regionalen Kulturbetrieb führen müssen.

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Unter den Vorzügen des Bandes ist die ungeheuer kompetente Nutzung kulturhistorischer Quellen aller Art sowie der dazugehörigen Forschung an erster Stelle zu nennen. Von den kontroverstheologischen Auseinandersetzungen im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges über die (staats)rechtlichen Auffassungen der Zeit bis zur tagesaktuellen politischen Praxis gibt es kaum ein Gebiet, in dem Walter nicht mit möglichster Akribie recherchiert hätte – und zwar, mit Blick auf Lingelsheims internationale Kontakte, im gesamteuropäischen Kontext. Auf dieser Basis gelingt ihm nicht nur, entgegen allen Vorbehalten (vgl. S. 83), eine kohärent erscheinende biographische Darstellung, vielmehr werden auch das publizistische Wirken Lingelsheims sowie die spezifischen Beziehungen zwischen ihm und seinen zahlreichen Korrespondenzpartnern luzide analysiert.

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Die umfangreichen einleitenden Ausführungen zum Phänomen des Späthumanismus sind als Forschungsbericht wie als problemorientierter Aufriß gleichermaßen nützlich. Aus regionalhistorischer wie aus kultur- und geistesgeschichtlicher Perspektive wird man der kritischen Umsicht, der stupenden Sachkenntnis und der prosopographisch-dokumentarischen Gründlichkeit des Verfassers höchsten Respekt zollen. Die Hinweise zu den Fundorten der Briefe von und an Lingelsheim eignen sich durch ihre dokumentarische Dichte (bis hin zu Internet-Adressen digitalisierter Findmittel) trefflich als Anleitung zur Quellenrecherche in jedem vergleichbaren Fall. Walters jahrelange buch- und bibliotheksgeschichtliche Studien an der Osnabrücker Forschungsstelle »Literatur der Frühen Neuzeit« tragen in diesem Band allenthalben ihre schönsten Früchte.

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In einem Punkt vermag der Rezensent kein unbefangenes Urteil abzugeben: Walters Hinweis in der dem Band vorangestellten Danksagung, daß die Spuren seiner Lehrer Klaus Garber und Wilhelm Kühlmann in der Untersuchung nur zu deutlich abzulesen seien (S. V), ist zweifellos richtig. Bis in die Diktion hinein schließt er sich ihnen an, wenn er etwa die These von der calvinistisch-antispanischen Fundierung eines ›nationalen‹ muttersprachlichen Literaturprogramms aufgreift (Garber) oder auf die epochenkonstituierende Selbstbehauptung der humanistischen Gelehrten vor dem Hintergrund des sich etablierenden absolutistischen Territorialstaats zu sprechen kommt (Kühlmann). Die ebenso suggestiv wie – in der Regel – fundiert vorgetragenen Positionen dieser beiden Doyens der deutschen Frühneuzeitforschung waren auch für den Rezensenten selbst Grundlagen seiner wissenschaftlichen Sozialisation. Er wird also kaum Kritik daran üben, daß Walter sich als überzeugter Adept dieser ›Schule‹ präsentiert.



Anmerkungen

Vgl. den ausgezeichneten Artikel »Literatursprache«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 5. Tübingen 2001, Sp. 324–349. Walter ist außerdem mit Aufsätzen u.a. zur pfälzischen (Julius Wilhelm Zincgref), holsteinischen (Johann Heinrich Voß) und ostpreußischen Literatur (Christoph Kaldenbach) hervorgetreten, ein Schwerpunkt seiner Forschungen liegt im disziplinenübergreifenden Bereich der Buch- und Bibliotheksgeschichte sowie der regionalen Kulturraumforschung. Vgl. hierzu die beiden von ihm herausgegebenen Sammelbände: Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas 1) Köln u.a. 2004; Regionaler Kulturraum und intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Festschrift für Klaus Garber (Chloe 36) Amsterdam u.a. 2005.   zurück
Robert Seidel: Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577–1631) – Leben und Werk (Frühe Neuzeit 20) Tübingen 1994.   zurück
Dies gilt nach Walters Ansicht auch für den »ersten ausschließlich diesem Thema gewidmeten« (S. 8) Sammelband von Notker Hammerstein und Gerrit Walther (Hg.): Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche. Göttingen 2000. Der Begriff ›Späthumanismus‹ begegnet – in englischer Paraphrase – freilich schon in der älteren Aufsatzsammlung von Manfred P. Fleischer (Hg.): The Harvest of Humanism in Central Europe. Essays in Honor of Lewis W. Spitz. St. Louis 1992.   zurück
Zu nennen wäre noch die hierzulande wenig beachtete, als Einführung in die Problematik gedachte französisch-niederländische Koproduktion von Hans Bots und Françoise Waquet: La République des Lettres. Paris 1997.   zurück
Zur Begriffsgeschichte wäre zu ergänzen: Dieter Mertens: Deutscher Renaissance-Humanismus. In: Humanismus in Europa. Hg. von der Stiftung »Humanismus heute« des Landes Baden-Württemberg. Mit einem Geleitwort von H. Engler. Heidelberg 1998, S. 187–210.   zurück
Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3) Tübingen 1982.   zurück
Zu ergänzen wären allerdings zwei neuere, die Begriffsdiskussion kritisch reflektierende Forschungsberichte: Dieter Mertens: Julius Wilhelm Zincgref und das Problem des Späthumanismus In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 150 (2002), S. 185–207. – Theodor Verweyen: Literarische Evolution um 1600. Epochenschwellen und Epochenprobleme im Blick auf Erich Trunz: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock. Acht Studien [München 1995]. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 252 (2000), S. 76–100.   zurück
Vgl. jetzt zum Fortwirken humanistischer Briefkonzeptionen Robert Seidel: Der empfindsame Freundschaftsbrief und die humanistische Tradition. In: Achim Aurnhammer / Dieter Martin / Robert Seidel (Hg.): Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung (Frühe Neuzeit 98) Tübingen 2004, S. 75–101; wichtig außerdem für den europäischen Kontext der Sammelband von Toon van Houdt u.a. (Hg.): Self-presentation and social identification. The rhetoric and pragmatics of letter writing in early modern times (Supplementa Humanistica Lovaniensia 18) Leiden 2002.   zurück
Alexander Reifferscheid (Hg.): Quellen zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland während des siebzehnten Jahrhunderts. Nach Handschriften herausgegeben und erläutert. Bd. 1 [mehr nicht erschienen]: Briefe G. M. Lingelsheims, M. Berneggers und ihrer Freunde. Heilbronn 1889.   zurück
10 
Wie wichtig die seit langem geplante Edition dieser bedeutenden Sammlung von Kasualgedichten für die Erforschung des Heidelberger Späthumanismus wäre, wird durch Walters Studie implizit deutlich. Derzeit bereitet eine Gruppe um Theodor Verweyen und Wilhelm Kühlmann eine Edition, Übersetzung und Kommentierung der Triga vor.   zurück
11 
Zunächst befremdet der Sachverhalt, daß fast 40% der ermittelten Briefe von Personen geschrieben oder an Personen gerichtet waren, »die in verschiedenen Funktionen in kurpfälzischen Diensten standen« (S. 258). Im Einzelfall klärt sich jeweils die Situation, so stammen etwa die meisten der zahlreichen mit Denaisius gewechselten Briefe aus der Zeit, nachdem dieser als Assessor ans Reichskammergericht in Speyer gewechselt war. Häufig war auch entweder Lingelsheim oder sein jeweiliger Briefpartner auf einer längeren Gesandtschaft, so daß schriftliche Informationen unter den pfälzischen Beamten ausgetauscht werden mußten.   zurück
12 
Volker Press: Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1619 (Kieler Historische Studien 7) Stuttgart 1970.   zurück
13 
Beziehungen Lingelsheims zum ungarischen Späthumanismus sind in der Tat sehr wahrscheinlich, im Falle Albert Szenczi Molnárs sind Briefkontakte zumindest indirekt belegt. Vgl. Robert Seidel: Der ungarische Späthumanismus und die calvinistische Pfalz. In: Wilhelm Kühlmann / Anton Schindling (Hg.): Deutschland und Ungarn in ihren Bildungs- und Wissenschaftsbeziehungen während der Renaissance. Unter Mitarbeit von Wolfram Hauer (Contubernium 62) Stuttgart 2004, S. 227–251, hier S. 249 f. Hinweise auf Molnárs Tagebuch und Briefwechsel; Molnár wurde demnach in die Gruppe von Lingelsheims »clientes« aufgenommen.   zurück
14 
Wichtig ist etwa die Studie von Henrike L. Clotz: Hochschule für Holland. Die Universität Leiden im Spannungsfeld zwischen Provinz, Stadt und Kirche 1575–1619 (Contubernium 48) Stuttgart 1998.   zurück
15 
Eine ausgezeichnete, auch die Epochenproblematik reflektierende Studie zu einem der bedeutenderen französischen Briefpartner Lingelsheims stammt von Peter N. Miller: Peiresc’s Europe. Learning and Virtue in the Seventeenth Century. New Haven / London 2000. Zu einem Hauptvertreter des pfälzischen Humanismus liegt eine zweisprachige, kommentierte Gesamtausgabe vor: Balthasar Venator: Gesammelte Schriften. Hg. von Georg Burkard und Johannes Schöndorf. 2 Bde. (Bibliotheca Neolatina 9) Heidelberg 2001.   zurück
16 
Vgl. zur Problematik für das 18. Jahrhundert Robert Seidel: Literarische Kommunikation im Territorialstaat. Funktionszusammenhänge des Literaturbetriebs in Hessen-Darmstadt zur Zeit der Spätaufklärung (Frühe Neuzeit 83) Tübingen 2003, bes. S. 572–575.   zurück
17 
Dieter Mertens: Zu Heidelberger Dichtern von Schede bis Zincgref. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 103 (1974), S. 200–241.   zurück