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Zur historischen Semantik der Mode

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  • Elena Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien der Mode. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. 192 S. Kartoniert. EUR (D) 14,90.
    ISBN: 3-518-58390-5.
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Struktur und (Vor-)geschichte der Mode

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Paradoxien

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Elena Espositos Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode 2 ist eine systemtheoretische Abhandlung über paradoxe Strukturen der Mode, ihre Funktion in der modernen Gesellschaft und vor allem über die Geschichte ihrer Semantik.

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Den Auftakt gibt eine Beobachtung: »In ihrer Banalität ist die Mode ein geheimnisvolles Phänomen« (S. 9). Es ist unmöglich, sich der Mode zu entziehen, sie ist so allgegenwärtig – von der Bekleidung bis in die Wissenschaft – wie unvorhersehbar; zugleich wird sie als quantité négligeable wahrgenommen. In ihr kommen klassische Paradoxien moderner Individualität zum Ausdruck: Individualität durch Nachahmung, Originalität durch Anbindung an einen Konsens und schließlich die Erzeugung einer Verbindlichkeit des Transitorischen. 3

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Anders als bislang geschehen, beschreibt Esposito die Mode nicht in ihrer Irrationalität, sondern in ihrer notwendig kontingenten Struktur und zugleich paradigmatischen Funktion. Der Hauptakzent der Arbeit liegt dabei auf der historischen Semantik und der Logik der Mode. Mode als Kleidung spielt dementsprechend eine nur untergeordnete Rolle.

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Dichtes Schreiben

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Die Studie der italienischen Soziologin verhandelt auf knapp zweihundert Seiten in gedrängter Form ein Phänomen, dessen Komplexität mit seinen weitreichenden Implikationen nicht nur beschrieben, sondern auch überzeugend erklärt werden kann. So ist es die vorliegenden Arbeit unbedingt wert, ausführlich rezensiert zu werden.

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Ein erfreulicher Nebeneffekt dieser bei aller Dichte doch einfach geschriebenen Abhandlung dürfte im übrigen sein, dass sie nolens volens den mit Luhmann und seinen Arbeiten an der historischen Semantik weniger vertrauten Leser in die Grundelemente der (historischen) Systemtheorie einführt.

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Soziale und zeitliche Kontingenz

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Mode speist sich, so die Leitthese Espositos, aus zwei Arten der Kontingenz: einer sozialen und einer zeitlichen. In der Mode macht das Individuum (Sozialdimension), »was die anderen machen, um anders zu sein« (S. 13). Diese Formel, wie sie sich bereits bei Simmel (1905) 4 findet, führt zu einer weiteren Paradoxie: Singularität, Genuinität, Spontaneität werden zum Zwang. Temporal gesehen (Zeitdimension) ergibt sich eine weitere Proliferation von Paradoxien: Es ist das Vorübergehende, in der die Mode ihre Konstanz findet; d.h. ihre logische Operation ist die einer permanenten Veränderung und damit zugleich die einer notwendigen Variabilität. Das auf Dauer gestellte Prometheische der Mode ist ein ständiges Erzeugen von Neuheiten – ihre Vergänglichkeit also ›eingeplant‹. 5

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Norm und Fehler

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Im Gegensatz zu fast allen anderen gesellschaftlichen Phänomenen löst sich die Mode auf, sobald sie zur Norm / Normalität wird. Nichtsdestotrotz tendiert die Mode »zur maximalen Ausbreitung« (S. 16). Auch verträgt die Mode sich nicht mit einer allzu genauen Befolgung ihrer Vorgaben. Die Mode ist es selbst, die »das Einbauen von kleinen Fehlern vorschreibt« (S. 17). Hinzu kommt, dass die Mode notwendig ihr Gegenteil, die Antimode, erzeugt. Dieser Parasit zehrt von ihrer Negation (man denke an Punk, Rasta etc.).

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Inhaltsleere und Beobachtung

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Woran sich die Mode grundsätzlich nicht orientiert, sind Wertkategorien wie Schönheit, Rationalität oder Zweckmäßigkeit. Dadurch erweckt die Mode umso mehr »den Anschein des Zufälligen« (S. 17). Simmel nennt die Zwecklosigkeit der Mode ihre ›Unsachlichkeit‹. Statt um Inhalt geht es um Beobachtung. Das Prinzip der Mode ist mithin autologisch und inhaltsleer. Die Mode lebt ausschließlich von dem Andersartigen und Neuen selbst.

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Top-down?

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Kann die Soziologie ein solcherart paradoxes Phänomen erklären? Bis auf wenige Ausnahmen entstammen bisherige Ansätze, so rekapituliert es Esposito, dem 18. Jahrhundert und gehören zu den top-down-Theorien, d.h. Ansätzen, die die gesellschaftliche Durchsetzung von Moden der Ausrichtung unterer Gesellschaftsschichten an der herrschenden Klasse zuschreiben. Christian Garve (1792) entwickelt als erster eine solche Theorie der Mode. Das Ende einer Mode wäre dann ihre Verbreitung auch in den unteren Schichten. Dieses Theoriemodell findet sich auch bei Spencer und Simmel wieder: Moden seien Klassenmoden. Erst seit den 70er Jahren wird dieser Ansatz nachhaltig kritisiert. Das Argument ist der Befund, dass das Phänomen der Mode mit dem Beginn der Ausdifferenzierung der Gesellschaft und d.h. dem allmählichen Prestigeverlust der oberen Schichten aufkommt. Bestreiten will Esposito damit nicht die nach wie vor effektive Bedeutung von Schichtdifferenzen, wie etwa die Studien von Bourdieu zeigen. Geschmacksausrichtung und Schichtzugehörigkeit werden hier bekanntlich als korrelativ ausgewiesen. Für die Mode, so Esposito, gelte dieser Zusammenhang jedoch nicht.

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Welche Theorie?

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Um das Phänomen der Mode zu beschreiben, bedarf es also einer hinreichend komplexen Theorie, die Paradoxien nicht als Ausfälle oder Normverstöße betrachtet, sondern die in der Lage ist, Mode gerade in ihrer paradoxalen Funktionsweise zu beschreiben. So ist es darum zu tun, »eine Kohärenz (der Mode und ihrer Gegenstände) zu entdecken und gleichzeitig auf logische Kohärenz zu verzichten« (S. 23). Anstelle eines Versuchs, auf einer Metaebene wieder Einheit herzuzustellen, will Esposito weniger ursächliche als vielmehr zirkuläre Abhängigkeitsverhältnisse herausarbeiten. Das erklärte Ziel der Verfasserin ist nun der Nachweis, dass und warum eine Theorie sozialer Systeme diesen Anforderungen entspricht.

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Historische Semantik der Mode

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An Luhmann geschulte Systemtheorie ist immer auch historisch ausgerichtet. So fragt Esposito, wahrscheinlich eine der bekanntesten Luhmann-Schülerinnen, nicht nur nach der aktuellen Funktion der Mode, sondern auch nach der Bedingung der Möglichkeit ihrer Entstehung. Die Anfänge der Mode sind wohl im 16. Jahrhundert zu verorten, ihre eigentliche Ausbreitung erfährt sie jedoch im 17. Jahrhundert. Esposito zeigt, dass die Mode auf der Ebene der Semantik mit der Auflösung einer Ontologie verbunden ist, die noch nicht unterscheidet zwischen Sein und Schein. Die Mode stellt »in jener Epoche ein komplexes Phänomen dar, das auf eine grundlegende Umstellung der Gesellschaft und des Weltbezugs hinweist« (S. 24).

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Diese Umstellung wird systemtheoretisch bekanntlich als Zusammenspiel zweier Faktoren gedacht: dem Übergang von einer stratifikatorischen auf eine primär funktional differenzierte Gesellschaft und der Ausbreitung des Buchdrucks und dadurch anonymer schriftlicher Kommunikation. Die Folgen sind die Einbuße einer Eindeutigkeit, wie sie noch die ontologische Metaphysik bot, und ein hohes Maß an Selbstreflexivität. Anders gesagt war die stratifizierte Gesellschaft in sich in verschiedene hierarchisch geordnete Schichten differenziert, war aber über ein einziges ›Oben‹ finalisiert und stellte eine Ordnung dar – gleich aus welcher Perspektive. Abweichung ist dann Irrtum. Man kann zwar annehmen, dass die Perspektiven verschieden sind, nicht aber, dass sich deshalb auch die Gegenstände ändern. Im Gegensatz dazu entspricht in funktional differenzierten Gesellschaften jeder Beobachterperspektive auch eine andere ›Welt‹.

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Das bedeutet, dass die Semantik in der stratifikatorisch organisierten Gesellschaft durch das Primat der Sachdimension bestimmt ist, während es in der Moderne eine von der Sozialdimension unabhängige Sachdimension nicht geben kann. Aber es reicht auch nicht mehr, sich auf Sache und Perspektive zu beziehen, sondern es muss auch angegeben werden, wann beobachtet wird (Zeitdimesion). Die Differenz vorher / nachher zusammen mit der Differenz des Standpunktes führt zu einer nicht mehr hintergehbaren Komplexion der Semantik, die sich in der der Mode von allen modernen Phänomenen wahrscheinlich am genauesten spiegelt.

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Theorie der Beobachtung

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Mode ist gebunden an eine Beobachtung zweiter Ordnung. Esposito beschreibt die Komplexitätssteigerung bei (wechselseitiger) Beobachtung von Beobachtung und erklärt den Bezug zur Mode. Einem Kommentar von Vinken folgend – »Mode ist nicht gleich Kleidung. Sie ist vielmehr ein Kommentar in Kleidern über Kleider« 6 – zeichnet Esposito den Weg von Castigliones Ausspruch, die Kleidung gebe »Kenntnis vom Inneren« zu Baudelaires Behauptung, der Mensch, der der Mode folge, gleiche am Ende dem, »was er sein möchte« – d.h. seiner Selbstbeobachtung.

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Mode versus Brauch

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In den folgenden Abschnitten geht die Autorin auf eine Reihe für ihre Untersuchung notwendige Unterscheidungen ein. Die erste ist die Abgrenzung der Mode von einer allgemeinen Aufmerksamkeit gegenüber Bekleidung, wie sie auch in stratifikatorischen Gesellschaften zu finden ist. Überzeugend führt Esposito hier die Differenz zwischen Brauch versus Mode ein. Ohne in Abrede zu stellen, dass es auch in stratifikatorischen Gesellschaften Vorstellungen von Pluralität und Inkonstanz gibt, zeigt Esposito, wie Mannigfaltigkeit und Änderungen hier mit »gleichgültigen Unterscheidungen gehandhabt« werden (S. 37) und in der Sachdimension ihre Stabilität finden. Kybernetisch formuliert kann von einer vermehrten Komplikation ohne gesteigerte Komplexität gesprochen werden. Anders gesagt: verschiedene Unterscheidungen fallen letztlich zusammen, d.h.: positiv / negativ entsprechen mehr oder weniger wahr / falsch, schön / häßlich etc. Änderungen im Sinne eines Brauchs funktionieren nach diesem Schema, während die Mode aus diesen Unterscheidungen herausfällt und einer anderen Logik folgt.

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Vor-moderne Zeiten

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Auch die Zeit unterliegt einem Wandel. Mit Rückgriff auf Koselleck erläutert Esposito: Es ist nicht die Referenz auf die Zeitdimension mit ihrer Unterscheidung vorher / nachher als solche, die die Vormoderne von der Moderne unterscheidet und ein Phänomen wie das der Mode funktionieren lässt. Bekanntlich unterliegt auch der Bezug auf die Zeitdimension einem Wandel. Die vormoderne Zeitsemantik lebt von der aristotelischen Unterscheidung tempus / aeternitas und ist letztlich räumlich gedacht: Die Dinge verschieben sich im Zeitkontinuum von Position zu Position. Dabei bleibt die Identität der Gegenstände bei aller Bewegung erhalten. Eine der Folgen einer solchen Zeitauffassung ist die Vorstellung, dass der Wandel der Zeit nichts Neues erzeugen kann. Die (endliche) Zeit offenbart nach und nach die ewige und dem menschlichen Auge bloß verborgene Wahrheit. Aus göttlicher Perspektive kann es dementsprechend keine Änderung geben, sondern bloß stückweise Sichtbarmachung. In diesem Sinne sind auch Konzepte von Fortschritt mit denen einer grundsätzlichen Unwandelbarkeit miteinander vereinbar. 7 Weit über das Mittelalter hinaus gilt das Neue als Ablenkung von der Wahrheit. Noch Montaigne lehnt das Neue als Störfaktor ab. In einem eleganten Exkurs kann Esposito diese als vormodern beschriebene Zeitsemantik auch mit Begriffen der ars memoriae und der curiositas in Zusammenhang bringen.

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Vor-moderne Individualität

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Die Sozialdimension, die auf der Unterscheidung Ego / Alter-Ego basiert, ist auf die Pluralität von Perspektiven unterschiedlicher Personen bezogen. Aber ist das nicht auch ein vormodernes Phänomen? Selbstredend, so Esposito, wird Pluralität auch in der stratifikatorischen Gesellschaft gedacht; den verschiedenen Perspektiven wird jedoch keine Autonomie zuerkannt. Sie sind im Gegenteil an die Einheit und Stabilität der Sachdimension rückgebunden. Auch hier gilt: viele Beobachter führen zu einer Steigerung von Komplikation, nicht aber von Komplexität.

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Was bedeutet das für die Begriffe von Individualität und Andersartigkeit? Esposito betont, dass in Gesellschaften, die vor allem über Interaktion funktionieren, individuellen Eigenschaften sogar ein höherer Orientierungswert zukommt, als das in anonymen Kommunikationsformen der Fall sein kann. Allerdings unterscheidet sich der moderne Individualitätsbegriff grundlegend von dem der Vormoderne: Modern wird Individualität zurückgeführt auf Einzigartigkeit, die jedes Individuum in sich selbst findet; somit ist jeder Einzelfall per se von Interesse. Die vorangegangenen Gesellschaften hingegen bieten keinen Ort für Idiosynkrasien. Der Einzelfall war als Exempel bedeutsam, weil sich aus generalisierbaren Merkmalen Lehren für den Umgang mit Menschen ableiten ließen. Die einzige Ausnahme war der Held, der auch als ›Einzelbeispiel‹ dienen konnte. Man kann es aber in vormodernen Gesellschaften nicht darauf anlegen, einzigartig zu sein. Dies ist jedem unterschiedslos mit der Geburt gegeben und kann nicht modifiziert werden. Individualität im modernen Sinne von Einzigartigkeit verdiente hier keine Aufmerksamkeit. Individualität stellte nicht, wie heute, einen Faktor von Unbeständigkeit und Unberechenbarkeit dar, sondern im Gegenteil die Voraussetzung, das Gegenüber einschätzen zu können.

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Siegeszug der Mode

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Hatte man also jahrhundertelang Neuheit, Veränderung und Einzigartigkeit abgelehnt, beginnt im 17. Jahrhundert ein »Zeitalter der Mode«, das bis heute andauert (S. 49). Die Mode hält Einzug in die europäische Kultur, als man anfängt, neben dem männlichen le mode auch das weibliche la mode zu gebrauchen. Mit der (weiblichen) Mode wurde allerdings nicht nur die Kleidung beschrieben, sondern auch alles andere – Sitten, Geschmack, Stil, ja sogar Gefühle und medizinische Heilmittel –, das nunmehr als flüchtig und vorläufig erlebt wurde. Dass ein ganzes Regelwerk von Vorschriften und Glaubenssätzen plötzlich nicht mehr unbedingte Gültigkeit hatte, wurde, so beschreibt es Esposito, »als Einbruch von Kontingenz aufgefasst« (S. 50). Das Absehen von einer zeitlichen Stabilität galt als grundsätzlicher Verzicht auf Regeln. »Gemäß einer auf die Sachdimension ausgerichteten Semantik im weiter oben beschriebenen Sinne kam das Fehlen einer sozialen und zeitlichen Gleichförmigkeit dem Fehlen von Ordnung schlechthin gleich, da Ordnung in dieser Bedeutung nur existieren konnte, wenn sie ewig währte und für alle gleich war« (S. 51). Die in der Zeit viel kommentierte Mode allerdings unterliegt einem steten zeitbedingten Wandel und erlaubt eine bis dahin ungekannte Fülle individueller und origineller ›Modi‹ des Seins. In ihren Anfängen wird die Mode – aufgrund des nach wie vor geltenden Bezugs auf die Sachdimension – so auch als reine Unordnung beklagt.

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Kontingenz

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Zwischen dem 16. und dem 17. Jahrhundert löst sich die ontologische Stabilität der Semantik durch den Einbruch der Kontingenz nach und nach auf. Damit wird das Inhärenzverhältnis zwischen Sein und Schein ausgestellt, das die Semantik mit ihren Unterscheidungen bis dahin bestimmt hatte. Während Kontingenz in der Moderne allerdings gerade mit ihrem destabilisierenden Potential zur Herstellung einer neuen Art von Ordnung gebraucht wird, stehen im 16. und 17. Jahrhundert die entsprechenden Steuerungsformen noch nicht zur Verfügung. Nach einer kurzen Erklärung der modaltheoretischen Dimension des seit der Antike diskutierten Kontigenzbegriffs geht Espostio auf den Bezug zur Mode ein: Mode sei letztlich auf modus zurückzuführen und damit auf die äußeren, veränderlichen Eigenschaften von Dingen. Modus ist Parasit der Wesenheit, abhängig von den dauerhaften Eigenschaften der Dinge.

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Barock, Schein, Originalität

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Das neue Verhältnis von Schein und Sein, das den Barock kennzeichnet, wird von der Verfasserin nun näher bestimmt: Wurde der Schein bis zum 17. Jahrhundert als Ausdruck des Seins betrachtet – und Täuschung somit als Irrtum – wird, schematisch gesprochen, mit dem Zeitalter des Barock die Autonomie des Scheins entdeckt. Gesucht werden Phänomene, die in der Realität so keine Entsprechung finden können, wie etwa die Anamorphose oder das trompe-l’oeil. Gespielt wird mit Ornamenten und Paradoxien, Osziallationen und Selbstverweisen, Momenten der Unentscheidbarkeit von wahr und unwahr. Allerdings habe man sich, so Esposito, noch nicht von einer »Inhärenz von Sein und Schein« verabschiedet (S. 59), sondern nur die andere Seite der Unterscheidung betont: nicht das Sein bestimmt den Schein, sondern die Erscheinung konstituiert die eigentliche Natur der Dinge.

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Das Zeitalter des Barock darf in seiner Modernität jedoch nicht überschätzt werden. Esposito erklärt prägnat warum: Obwohl es so aussieht, als sei die barocke Semantik bestimmt durch ein freies Walten von Kontingenz, setzt gerade die Vorliebe für das Deviante die Anerkennung einer Ordnung voraus. Hinzu kommt, dass in der barocken Rhetorik zwar der Bezug auf die Einzigartigkeit von Individuen einbezogen wird, nicht aber auch ihre Unberechenbarkeit und Intransparenz.

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Einzigartiges Individuum

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Intransparenz

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In der Zusammenführung zweier entscheidender semantischer Verschiebungen, nämlich der des Individuellen und der des Zeitlichen, zeigt Esposito die moderne Unmöglichkeit, sich auf die Beobachtung erster Ordnung zu beschränken. »Sozialdimension und Zeitdimension kommen gleichzeitig zu einer eigenen Autonomie und erzeugen damit zuerst den Eindruck einer Verwirrung und Auflösung aller stabilen Bezüge« (S. 70). Diese Autonomisierung selbst ist es jedoch, die schließlich die modernen »Formen des Umgangs mit Kontingenz« ermöglichen (S. 70).

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Selbstredend lässt sich das Interesse am Individuum bereits in der Renaissance beobachten, allerdings ohne unbedingte Referenz auf die Einzigartigkeit des Einzelnen. Esposito sieht hier zwar schon eine »Schwächung der klassischen Formen der Inklusion per Generalisierung« (S. 71), die eigentliche Umstellung von Inklusions- auf Exklusionsindividualität ist jedoch ein langwieriger Prozess, der sich noch im 18. Jahrhundert beobachten lässt. 8 Moderne Individualität (Exklusionsindividualität) verdankt sich bekanntlich nicht mehr Stand und Namen, sondern gezielter Erziehung und bestimmten Fähigkeiten. Als Bedingung für eine zu leistende Inklusion in die Gesellschaft tritt damit das Besondere des Individuums hervor. Die Folge ist, dass man sich jetzt mit den zwei Seiten der Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem und ihrer Beziehung zueinander befassen muss. Die paradoxen und antithetischen Figuren des 17. Jahrhunderts beschreibt Esposito vor allem als Reaktionen auf dieses neue Problembewusstsein. Dazu zählt auch die ›Aufrichtigkeit‹, die stets gefordert und nie garantiert ist. 9 Emanzipiert sich nämlich das Besondere vom Allgemeinen, kann nicht mehr von allgemeiner Menschenkenntnis auf das Gemüt des Einzelnen geschlossen werden. Der andere erscheint potentiell als geheimnisvoll und undurchsichtig. Das Ergebnis ist die Unmöglichkeit, sich der Beobachtung zweiter Ordnung zu entziehen.

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Nachahmung

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Die Nachahmung verliert bekanntlich im Prozess der Ausdifferenzierung zunehmend an Bedeutung: als ästhetischer Wert ebenso wie gesellschaftlich. Im 17. Jahrhundert jedoch sind die sich emanzipierenden Werte wie Originalität und Kreativität noch verankert im klassischen Modell der Rhetorik und in Strukturen der Stratifikation. Esposito beschreibt, wie die Neuerungen dabei dem semantischen Zugriff entgleiten.

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Ist die Dimension der Innerlichkeit und Selbstreferenz einmal entdeckt, reicht die reine Fremdreferenz und mit ihr die Nachahmung nicht mehr aus. Dabei kommt es zu aufschlussreichen Widersprüchen. Wie etwa die Tatsache, dass das »Typische [...] nun als Idiosynkrasie« durchgeht (S. 77).

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Voraussetzung für die sich vollziehende Umkehrung (und nicht nur Verlagerung) ist Esposito zufolge das Verlegen des Anhaltspunktes nach innen. Bindende Kriterien können jetzt nur noch durch Selbstbeobachtung erzeugt werden, nicht mehr durch Außenbezug (Sachdimension). Das führt jedoch nicht zu einer Welt unkontrollierter Kontingenz. »Die scheinbare Auflösung der Welt in eine unkontrollierte Vielfalt verliert ihren Charakter absoluter Willkür, wenn man sie von Mal zu Mal an eine je spezifische Perspektive zurückbindet« (S. 78). Auf diese Weise brechen zwar Stabilität und Notwendigkeit auseinander, Kontingenz kann jetzt jedoch kontrolliert werden, indem sie nicht in einer höheren Einheit wieder verschwindet, sondern in die »Pluralität von Differenzen« (S. 78) führt. Das sich selbst beobachtende Ich findet nicht Identität, sondern Idiosynkrasie – legitime und einkalkulierte Andersartigkeit. Jeder identifiziert sich eben über das, was ihn von den anderen unterscheidet. Noch genauer gesagt, erhält jeder eine Vielheit von unterschiedlichen Identitäten, die je unberechenbar erscheinen. Das Unberechenbare aber wird zum Bezugspunkt.

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Originalität

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Die Lösung alter Paradoxien zieht neue nach sich. Das beschreibt Esposito – auch hier Luhmann folgend – prägnant anhand des bekannten Problems der Originalität: Streng genommen ist das Originelle in seinem Einzigartigkeitsanspruch vorbildlos, denn wie soll es sich sonst von allem Vorhandenen gänzlich unterscheiden können? Damit entzieht es sich jedoch jedem Urteil, ja kann letztlich gar nicht wahrgenommen werden.

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Eine Lösung aus diesem neuen Dilemma ist die spontane subjektive Schöpfung aus dem Ich (etwa im [vor-]romantischen Geniebegriff). Jedoch ergeben sich auch hier neue Paradoxien. Esposito beschreibt diese Paradoxien und arbeitet den gemeinsamen Nenner heraus: Bei allen Maßnahmen des modernen Individuums, seine Individualität herauszustellen, handelt es sich stets um die Figur des Bezugs auf Einzigartigkeit bei unvermeidlichem Verweis auf die anderen. Die sich auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung zeigende moderne Semantik ist also insofern neu, als ihre Bezugnahme nicht der Einheit gilt, sondern einer Unterscheidung, die nicht realisiert werden kann. Damit wird die Struktur einfacher Binarität unterlaufen: diese nämlich bleibt nur intakt, solange sie nicht wahrgenommen wird. Geht das Besondere im Allgemeinen noch auf, kann die Lösung dann nicht im Seitenwechsel (vom Allgemeinen auf das Besondere) bestehen – auch wenn für eine Zeit die sich eröffnende Alternative eine gewisse »Euphorie« (S. 83) auslöst. Die Semantik des Individuellen bringt es mit sich, anders als die einfache Aufwertung einer Seite des Binarismus, »als ›Parasit‹ der Unterscheidung von Besonderem und Allgemeinem« (S. 83) zugleich auf beide Seiten zu verweisen und so die Beobachtung der Unterscheidung selbst zu erzwingen. 10

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Authentizität

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Esposito bleibt bei diesen bei aller Bekanntheit doch neu perspektivierten Gedanken nicht stehen. Moderne Individualität mit ihrer doppelten Angewiesenheit auf die Beobachtung des eigenen und des anderen Selbst und der jeweiligen Selbst- und Fremdbeobachtung ist, so führt die Verfasserin weiter aus, verbunden mit der nun störenden Erfahrung der Undurchsichtigkeit und möglichen Inauthentizität des anderen. 11 Der moderne Roman – dessen Entstehung man möglicherweise auf diese Erfahrung zurückführen könnte – hebt diese auf und vermittelt, so Esposito, durch den allwissenden Erzähler Eindrücke von Echtheit und Unverstelltheit. Der Buchdruck, dessen Ausbreitung zu einer erhöhten Abstraktheit und Unberechenbarkeit moderner Beziehungen maßgeblich beigetragen hat, erfindet also zugleich, so könnte man es auch sagen, sein eigenes Medium, diese Erfahrung durch die fiktive Allwissenheit zu kompensieren. 12

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Den »Umweg über die Fiktion« hält Esposito für signifikant: Es geht nicht um fehlenden Realitätsbezug, sondern um – im Roman gewissermaßen performativ vorgeführte – Ablösung von einer einfachen Referenz auf die Sachdimension »zugunsten einer neuen, in der Figur des Erzählers verkörperten Verflechtung mit der Sozialdimension« (S. 87). So ahmt der moderne Roman nicht die Welt selbst nach, sondern die menschlichen Erfahrungen mit ihr.

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Wesentlich dabei ist, dass zum ersten Mal die Unterscheidung von Realität und Fiktion als Differenz beobachtet wird, ohne dass der einen oder anderen Seite dabei der Vorzug gegeben würde. Effekt der Lektüre ist dabei vor allem eine Zunahme der Komplexität von Beobachtung – d.h. der Vervielfachung möglicher Welt- und Selbstbeobachtungen.

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Einzigartige Gegenwart

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Das Neue

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Nachdem Esposito also Einzigartigkeit in der Dimenison des Sozialen analysiert hat, kommt sie in ihrem 5. Kapitel auf die Dimension der Zeit. Hier geht es ihr vor allem um den Einbruch des Neuen, eine Kategorie, mit der sich die westliche Gesellschaft seit der Renaissance auseinanderzusetzen hat. Im 17. Jahrhundert neigt man dazu, das Neue zu privilegieren. Was sich dabei durchsetzt, ist eine Semantik der Verzeitlichung (Koselleck) und ein zunehmendes Bewusstsein für Diskontinuitäten. Dabei verliert die Geschichte ihren exemplarischen Charakter, stattdessen kann man aus ihr den Umgang mit dem Unberechenbaren lernen. Insofern existiert Geschichte nur, wenn sie beobachtet wird, während die Beobachtung selbst wiederum den Gang der Geschichte ändert. Damit wird das Geschehen zu einem einmaligen Ereignis und Geschichte »beispiel-los« (S. 100).

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Inkonstanz und Fortuna

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Das Neue als Wert an sich erscheint in seiner Unabhängigkeit von Kriterien wie ›gut‹ und ›schlecht‹, ›brauchbar‹ und ›unbrauchbar‹ unerklärlich. In der Renaissance ist die Reaktion darauf zumindest Verwirrung. Im Barock gewinnt man Gefallen an Figuren des Neuen, des Überraschenden, an Transformation und Veränderung. Bei Montaigne wird das anthropologisch gefasst: Menschliche Begierden sind nicht durch Inhalte (Sachdimension) bestimmt, sondern durch den einen Augenblick, der sie provoziert (Zeitdimension) – eine Ansicht, die die Moralisten fortschreiben werden.

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In diesem Zusammenhang geht Esposito auch auf die barocke Semantik des fortuna-Begriffs ein, dessen Relevanz zunimmt, »je instabiler und wandelbarer, je kontingenter die Ordnung des Kosmos und der Gesellschaft zu sein scheint« (S. 103). Fortuna trennt sich dabei vom Schicksalsbegriff und wird zum Zufall, der eine Chance bietet. Chancen muss man ergreifen, nicht unterbinden: so die moderne Kontrolle des Zufalls in der Zeit. 13

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Historisierung

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Im 18. Jahrhundert sieht die Situation anders aus: Mit der Verbreitung druckgestützter Kommunikationsformen und der regelmäßigen Verbreitung von Nachrichten (news) tritt eine gewisse Gewöhnung an das Neue ein. Die Erzeugung von Neuheiten und Überraschungen wird jetzt erwartet. Damit stabilisiert sich auch die Zeitsemantik: was zuvor als Auflösung wahrgenommen wurde, ist jetzt normalisiert und nimmt ›Form‹ an.

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Eine Folge ist die allgemeine Historisierung: Vollkommenheit wird jetzt zum ›perfectionnement‹, die Schönheit zum ›Glücksversprechen‹. Entscheidend in diesem Prozess ist zweierlei: Es gibt nicht mehr (nur) die Unterscheidung aeternitas / tempus, sondern auch die zwischen Vergangenheit / Gegenwart und Gegenwart / Zukunft; dabei werden die Zeiten zu Epochen und als getrennt und verschiedenen voneinander wahrgenommen. Das alles hängt freilich zusammen mit der Semantik des Beispielhaften, der Autorität und ihrer (überzeitlichen) Gültigkeit.

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Erstens kommt es anders...

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Wenn alles dem Wandel der Zeit unterliegt, kann der einzige Fixpunkt nur die Veränderung selbst sein. Diese vollziehe sich – so paradox das klingen mag – im Jetzt, in der Gegenwart als »Offenheit für das Mögliche« (S. 109). Dabei verändert sich natürlich auch der Begriff der Gegenwart, die nun weniger als Ergebnis des Vergangenen als vielmehr im Sinne einer Vorbereitung auf das Zukünftige semantisiert wird. Das Entscheidende dieser Umstellung ist nun keineswegs die Favorisierung der Zukunft statt der Vergangenheit, sondern der »Übergang von einer Orientierung an der Identität des einen oder anderen Bereichs der Zeit zur Orientierung an der Differenz, die sie konstituiert« (S. 111). Die Gegenwart wird zur reinen Differenz, zu einem »Augenblick ohne Dauer« – und produziert unweigerlich stets das Neue und stets das irreduzible Einzigartige. Dabei ist die Gegenwart nicht nur schlicht neu und anders als alles Vergangene, sondern auch anders als erwartet. Damit verhält sie sich nicht nur zur Sachdimension, sondern auch zur Beobachtung zweiter Ordnung, die die vergangene Beobachtung (Erwartung) mit dem Jetzt vergleicht. Die Einzigartigkeit des Gegenwärtigen ist also nicht nur »eine Besonderheit neben anderen (denjenigen anderer Gegenwarten), sondern eine authentische Einzigartigkeit, die in jeder Gegenwart die Reformulierung der Unterscheidung von Besonderem und Allgemeinem erzwingt« (S. 111). Erst damit ist die eigentliche Modernität der Verzeitlichung und ihre Nähe zur Semantik der Mode und individueller Einzigartigkeit beschrieben.

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Wer nicht mit der Zeit geht...

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Esposito führt den Gedanken weiter aus und beschreibt Verzeitlichung als die Tendenz, Raum in Zeit zu übersetzen. Das bekommt selbst das Individuum zu spüren: Statt sich wie in der stratifikatorischen Gesellschaft in Stand und Stellung einzufinden, ist der moderne Mensch damit beschäftigt, zeitlich nicht zurückzubleiben. Dabei ist die moderne Variante eine »weitaus komplexere Konstruktion, weil sie auf eine sich permanent wandelnde Ordnung bezogen ist, in der die Zukunft von der Gegenwart abhängt, die ihrerseits von der Sorge um die Zukunft getragen ist« (S. 112). Karriere, führt Esposito aus, kann als ein weiteres Beispiel für die Verzeitlichung und ihren Bezug auf das Individuum gelten.

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Von der Konversation zum Dandysmus

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Die moderne Gesellschaft mit ihrer Individualitätssemantik produziert aber nicht nur neue Arten des Lebenslaufs, sondern auch neue Formen von Geselligkeit, nämlich solche, die den Anstieg von Kontingenz und Komplexität zulassen. In souveräner Manier zeichnet Esposito in ihrem 6. Kapitel diese Komplexitätszunahme im Übergang von der Etikette zur Konversation, vom honnête homme zum Libertin und vom Libertin zum Dandy nach. Dabei arbeitet sie anhand von sorgfältig ausgewähltem Quellenmaterial (von Faret bis Baudelaire) differenziert und überzeugend heraus, wie sich die jeweils modernere Form (bzw. Figur) zur Individualitäts- und Zeitsemantik verhält und wie mit der Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem umgegangen wird. Dabei wird jeweils sowohl der Bezug zum Gesellschaftssystem als auch zur Logik der Mode deutlich. Im wesentlichen kommt Esposito dabei zu dem Ergebnis, dass die Konversation die Etikette ablöst und in ihrer Tendenz auf horizontale Kommunikation (nicht auf den Regenten, sondern auf Gleichrangige bezogen) ausgerichtet ist; dass die Rhetorik der Konversation zwar Schnelligkeit, Esprit und Lebendigkeit fördert, aber weder auf Einzigartigkeit angewiesen noch von ständischer Zuordnung frei ist; dass der honnête homme und der Libertin der Kultur der Konversation zugehören, der honnête homme jedoch an Geschmack, Tugend und Beständigkeit orientiert ist, während der Libertin mit seiner Verkörperung von Spontaneität und Inkonstanz auch Einzigartigkeit und Extravaganz in die Semantik bringt. Dennoch sei der Libertin mittelbar angewiesen auf den honnête homme und den stratifikatorischen Kontext. Erst die Figur des Dandy verlässt den alten Bezugsrahmen und kann als Vorläufer der Paradoxien, die heute die Mode bestimmen, gesehen werden. Die Logik des Dandysmus, so führt Esposito aus, ist jedoch fragil und nicht überlebensfähig. Provokation als Prinzip verliert seine Wirkmacht. Das Problem der Semantik des Dandysmus ist offenbar seine einseitige Negation.

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Devianz im Gleichen

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Von dieser Semantik lasse sich eine andere Semantik abgrenzen, die auf einer höheren Reflexionsebene anzusiedeln ist, weil sie eine Stabilität durch Variation anerkennt und somit eine »Devianz im Gleichen« (S. 141) darstellt. Diese konsolidiert sich im 19. Jahrhundert – mit dem Phänomen der Mode. Die Mode hat sich somit, dieses Argument hat Esposito elegant vorbereitet, aus den Differenzen zwischen honnêteté und Libertinage, Nachahmung und Originalität, Stabilität und Transformation als instabil-stabile Einheit herausgebildet. Als Negation und Affirmation beider Seiten der Unterscheidungen realisiert sie eine widerstandsfähigere Form, als es die beschriebenen Phänomene in ihrer jeweiligen Betonung nur je einer Seite der Unterscheidung waren.

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Neutralisierung durch Mode

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Nach diesem Streifzug durch die Geschichte der Semantik von Zeit und Individualität, die mit einigem Recht als die bislang beste Genealogie der Mode bezeichnet werden kann, versucht Esposito eine Erklärung der Funktion der Mode in der modernen Gesellschaft. Das Bemerkenswerte nämlich ist, dass weder die zeitliche noch die soziale Einzigartigkeit taugt, das Operieren von Systemen zu steuern. Neuheit kann zwar ein Wert sein, aber keinesfalls ein Programm. Es muss also von der Differenz in Operationales übersetzt werden. Das moderne Funktionieren dieser Übertragung hängt mit den starken Strukturen der Operationen der ausdifferenzierten funktionalen Teilbereiche zusammen. Diese basieren auf potentiellen Paradoxien, die allerdings dem ersten Blick verborgen bleiben und die – so die starke These von Esposito –»durch die Orientierung an der Mode nahezu neutralisiert werden« (S. 150).

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Allianz von Kontingenzen

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Mode hat eine einschließende Kraft. Ob man sich ihr anpasst oder widersetzt, in beiden Fällen verhält man sich deviant. Mode ersetzt die Unterscheidung Konformität / Devianz durch die Unterscheidung Kontinuität / Diskontinuität. Damit tritt an die Stelle einer sozialen Unterscheidung eine zeitliche. Indem die Mode von »ehedem Gültigem beständig abweicht« (S. 155), erzielt sie gleichzeitig Devianz und einen hohen Grad an Konformität.

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Umgekehrt gedacht liegt die Rechtfertigung für das Veränderliche und Inhaltslose der Neuheit als solcher darin, dass sie das Einzigartigkeitsstreben des Individuums in sich aufnimmt und dabei neutralisiert. Dabei exponiert sie das eingeschlossene ausgeschlossene Dritte und unterläuft so die an die Sozialdimension gebundene Unterscheidung von Besonderem und Allgemeinen. Jedoch ist auch die Sozialdimension durch Inhaltsleere gekennzeichnet. In einer Gesellschaft, in der Originalität zum Wert schlechthin erklärt wird, ist das Befolgen der Mode die einzige noch mögliche Form der Nachahmung. Was sonst Nachahmung von Vorbildern vergangener Epochen war, ist jetzt Nachahmung von Zeitgenossen. Außer der Nachahmung selbst wird bei der Mode jedoch nichts nachgeahmt: So ist die Aporie der Mode zugleich ihr ›inhaltsleerer‹ Sinn. Er führt in letzter Konsequenz dazu, dass Identität nicht mehr an das authentische Ich gebunden ist, sondern sich auf einer Ebene zweiter Ordnung einstellt, wo die Differenz von Maske und Authentizität (Originalität) aufgehoben ist. Was man an der Mode beobachten kann, ist nicht die Kleidung selbst, sondern eine Beobachtung, die sich in einer Wahl zur Schau trägt. Hinter der Maske verbirgt sich wiederum nichts anderes als die Kleidung (oder Attitüde, Denkweise etc.), die keinen Bezug auf irgendetwas anderes aufweist. So findet das Phänomen der Mode einzig auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung statt.

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Auf diese Weise realisiert sich über eine zirkuläre Verknüpfung von Verweisungen jene Allianz zwischen Sozialdimension und Zeitdimension, die es ermöglicht, über Orientierungen zu verfügen, ohne mit irgendeiner Form von Notwendigkeit rechnen zu können – die es also ermöglicht, Willkür ohne Verzicht auf Kontingenz zu eliminieren (S. 159).
[77] 

Mode und Kleidung

[78] 

Es gehört zu den Höhepunkten der vorliegenden Arbeit, wenn Esposito die Verengung des Modebegriffs auf Kleidung und den Verlust ihrer semantischen Bedeutung mit ihrer Verbreitung erklären kann:

[79] 
Gerade in dem Moment, in dem die Mode von einer sekundären, der Stratifikationsstruktur untergeordneten Form zu einer primären und allgegenwärtigen Form wird, reduzieren sich ihr semantischer Stellenwert und ihre Ausdehnung drastisch. (S. 160)
[80] 

Im 17. Jahrhundert war die Mode in allen Bereichen präsent und viel diskutiert, von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an verkümmert sie zu einem nichtigen Phänomen, mit dem man nur noch Kleidung benennt – und das ist vor allem Frauen vorbehalten. Die Theoriebildung des allgemeinen Phänomens der Mode geht zurück, und wer sich jetzt noch mit Mode beschäftigt, ist vor allem an Kleidung interessiert. Das Interesse an Mode im Sinne von Kleidung allerdings proliferiert mehr denn je. Wie können diese scheinbaren Widersprüche erklärt werden?

[81] 

Espositos Antwort ist im Wesentlichen, dass Mode an gesellschaftliche Interaktion gekoppelt bleibt. Der alleinige Bezug auf Kleidung stellt zugleich eine Art Befreiung von den »Qualen der Individualität« mit ihren Paradoxien und ihrer Undurchsichtigkeit (S. 163) dar. Sie veräußerlicht, so könnte man vielleicht sagen, das Problem der Intransparenz und macht es dabei scheinbar zunichte. Daraus ergibt sich für Esposito auch eine mögliche Erklärung, warum mit Mode vor allem Frauen befasst sind.

[82] 

Mode als Vorcodierung

[83] 

Zwar wird nur in Bezug auf Kleidung in der modernen Gesellschaft über Mode gesprochen, präsent ist sie jedoch in allen Bereichen. Sogar die auf abstraktem Niveau operierenden Funktionssysteme (wie etwa Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Kunst, Erziehung etc.) werden durch Mode regiert. In all diesen Bereichen ist Mode so omnipräsent wie marginal. Man beobachtet sie nicht so genau – darin liegt ihre Marginalität und zugleich ihre Kraft. Eine allzu deutliche »Aufwertung würde das Paradoxiengeflecht enthüllen, auf das die Mode gründet, und damit ihre Wirksamkeit aufheben« (S. 170).

[84] 

Der Effekt der Mode hängt in den verschiedenen Bereichen mit einer »Diffusion der Legitimität des Jeweiligen« zusammen (S. 170), mit Formen also, die Gültigkeit beanspruchen, obwohl oder gerade weil sie transitorisch sind. Dies kennzeichnet nicht nur den hypothetischen Charakter wissenschaftlicher Aussagen, deren Geltung mit ihrer Widerlegung aufhört, sondern auch die Liebe, die ewig währt, obwohl sie jederzeit zu Ende sein kann und stets neu zugesprochen werden muss.

[85] 

Wie ist Mode also genau einzuordnen in die Struktur der modernen Gesellschaft? Ist sie ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium? 14 Ist sie ein Funktionssystem? Kann man sie als Zweitcodierung verstehen? Espositos Antworten sind unmissverständlich. Die Mode hat weder die Funktion, die Wahrscheinlichkeit von Kommunikation zu erhöhen, noch weist sie einen eigenen Code auf. Stattdessen muss sie sich an »andere Kommunikationen andocken« (S. 172). Die Mode selbst ist nicht modisch, es sind lediglich ihre Inhalte. Auch kann von der Mode nicht gesagt werden, dass sie sich an eine Erstcodierung andockt, etwa wie Eigentum an Geld oder Macht an Recht. Esposito plädiert daher für ein Verständnis der Mode als Vor- oder Metacodierung, die vor dem Einsatz der Codefunktion greift und unbemerkt operiert. Wenn zur Sprache kommt, dass etwas aufgrund der Unterscheidung ›in / out‹ gewählt wurde, wird es eher aufgegeben. In diesem Sinne ist die ›modische‹ Unterscheidung nicht anschlussfähig, d.h. die Operation der Mode überlebt, solange sie unbewusst bleibt. Zumindest in den Naturwissenschaften wird ein Forschungsantrag nicht gestellt, weil das Thema für modisch gehalten, sondern weil ein Wissenszuwachs erwartet wird. Der Bezugscode bleibt der des Funktionssystems.

[86] 

Mode als Initiator

[87] 

Die äußerst instruktive Darstellung Espositos endet mit der Überlegung, ob die klassische Form der Nachahmung und die moderne Mode nicht ein- und dieselbe Funktion erfüllen. Immerhin wird auf beide zurückgegriffen als »Orientierung zur Ingangsetzung der Operationen des Systems« (S. 176). Im Falle der klassischen Nachahmung ging es nämlich nicht einfach um eine Vervielfältigung unwandelbarer Identitäten, sondern vielmehr um eine Identifikation mit dem Vollkommenen, auf das das Vorbild richtungsgebend verweist. Auch in der Mode gibt es ein Vorbild, das als Anhaltspunkt dient. Allerdings geht es in der Mode nicht mehr um die Verwirklichung des Vollkommenen, sondern um die Selbstverwirklichung der eigenen Unvollkommenheit. Dabei stellt Mode den Anhaltspunkt zur Verfügung, von dem es nun gilt, auf gesteuerte Weise abzuweichen. Der Zufall ist hier in das System eingebaut – was ihn natürlich nicht weniger kontingent macht. Ihre Nichtigkeit und Inhaltsleere sind es, die für ihre Kontingenz sorgen. Man kann dies – was oft geschah – als Paradoxie der Mode beklagen. Man kann aber auch zeigen, warum die Paradoxien der Mode notwendig sind für ihr Funktionieren. Das hat die kurze Studie von Esposito meisterhaft geleistet.

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Fazit

[89] 

Der Kerngedanke der Studie ist am besten mit einem Zitat von Esposito selbst auf den Punkt gebracht: »Die moderne, reflexive und autologische Gesellschaft gründet auf Paradoxien und kann keine andere Grundlage haben als Formen, die ebenso paradox und inhaltsleer sind« (S. 176). Die Mode als eine solche Grundlage der modernen Gesellschaft ausgewiesen zu haben, ist die eigentliche Leistung der vorliegenden Abhandlung. Da die moderne Gesellschaft kein anderes Fundament haben kann als den Zufall, der die einzige Art von Notwendigkeit hervorbringt, die auf die nicht-determinierte Komplexität der modernen Gesellschaft abgestimmt ist, leuchtet die Funktionsbestimmung der Mode, wie Esposito sie vorgenommen hat, voll und ganz ein. Zu kurz gekommen ist meines Erachtens allerdings die Erklärung der Autorin, inwiefern die Mode in der modernen Gesellschaft zur Ingangsetzung der Operationen von Systemen beiträgt. Zwar kann sie überzeugend Mode als Anhaltspunkt für Systeme ausweisen und auch plausibel machen (darauf zielte ja die ganze Studie ab) warum gerade die Mode in der Moderne diese Funktion erfüllt; kaum verdeutlichen kann sie jedoch, wie der dynamisch gedachte Bezug des Systems zu dem Anhaltspunkt ›Mode‹ funktionieren soll.

[90] 

Summa summarum dürfte dieses verhältnismäßig kurze Buch der italienischen Soziologin allerdings nicht nur die bislang plausibelste Erklärung der Logik der Mode und ihrer Geschichte sein, sondern u.a. auch – neben Georg Stanitzeks Studie zur historischen Semantik der Blödigkeit 15 – zu den besten Abhandlungen über moderne Individualitätssemantik zählen. Damit führt Esposito nicht zuletzt beispielhaft vor, was eine Studie zur historischen Semantik leisten kann.

[91] 

Mit ihren zahlreichen Verweisen auf wichtige Quellentexte und einer stichhaltigen und klug entwickelten Argumentation, weiß die Verfasserin außerdem, bei aller Dichte, das Verhältnis von abstrakter Reflexion und Bezug zu (größtenteils bekannten) historischen Kontexten im Gleichgewicht zu halten. Der unprätentiöse Stil, der auch in der Übersetzung zum Ausdruck kommt, 16 macht die Lektüre zu einem Lesevergnügen – das dem Leser allerdings auch ein hohes Maß an Konzentration abverlangt: die Studie verzichtet nicht nur auf jedes ›Rauschen‹, sondern auch auf jede explizite Definition systemtheoretischer Fachtermini. Selten jedoch erklärt sich in einer so kurzen Studie so vieles von selbst.

 
 

Anmerkungen

Werbeslogan 2004 der Jeansmarke Bigstar   zurück
I Paradossi della Moda. Originalità e transitorietà nella società moderna, Bologna: Baskerville 2004.   zurück
Vgl. hierzu Niklas Luhmann: »Individuum, Individualität, Individualismus«. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1989, S. 149–258.   zurück
Georg Simmel: »Die Mode«. In: ders., Philosophische Kultur. Gesammelte Essays. Leipzig: Klinkhardt 1911; wieder in: Georg Simmel: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essays mit einem Vorwort von Jürgen Habermas. Berlin: Wagenbach 1983, S.38–63.   zurück
Luhmann, Individuum, S. 256.   zurück
Barbara Vinken: »Dekonstruktive Mode«. In: Frauen Kunst Wissenschaft 17 (1994), S. 10.   zurück
Vgl. zur modernen Zeitsemantik Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik historischer Zeiten. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1979.   zurück
Vgl. Luhmann, Individuum.   zurück
Vgl. zum Thema Aufrichtigkeit, Transparenz und Authentizität im 17. Jahrhundert auch Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1992.   zurück
10 
Esposito fasst an dieser Stelle den von Luhmann und anderen Systemtheoretikern mehrfach herausgestellten Prozess der Umstellung von vormoderner auf moderne Individualität so prägnant und überzeugend, dass der immer wieder erhobene Einwand, Individualität habe es doch schon vor der Moderne gegeben, hier ein differenziertes niveauangebendes Gegenargument findet. Es geht bei Luhmann nicht, wie oft behauptet, schlicht darum, Individualität oder gar Subjektivität per se als Erfindungen der Moderne auszuweisen.   zurück
11 
Vgl. Luhmann, Individuum.   zurück
12 
Es wäre mit Sicherheit ergiebig, aus dieser Perspektive Dorrit Cohns Transparent Minds: Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction (Princeton: University Press, 1978) weiter zu historisieren.   zurück
13 
Vgl. zum ›Augenblick‹ als Gelegenheit Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1989, S. 50 f. sowie bezogen auf die politische Semantik J. G. A. Pocock: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Tradition, Princeton-London: 1975.   zurück
14 
So versteht etwa Udo H. A. Schwarz: Das Modische. Zur Struktur sozialen Wandels der Moderne. Berlin: Duncker & Humblot 1982 Mode als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium. Obwohl es sich hier ebenfalls um eine systemtheoretische Abhandlung handelt, verweist Esposito, ohne weitere kritische Auseinandersetzung, nur an dieser einen Stelle auf die Arbeit.   zurück
15 
Vgl. Fn. 11.    zurück
16 
Die gelungene, sehr textnahe Übersetzung verdient ein eigenes Lob. Bei der redaktionellen Überarbeitung ist allerdings ein zu einigen Missverständnissen führender Tippfehler übersehen worden: auf S. 102 oben (Anfang des zweiten Absatzes) muss es »17. Jahrhundert« statt »18. Jahrhundert« heißen (in der italienischen Ausgabe vgl. S. 91 oben).   zurück