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Leistung oder Funktion?

Kulturtheoretische Randgänge der Systemtheorie

  • Günter Burkart / Gunter Runkel (Hg.): Luhmann und die Kulturtheorie. (stw 1725) Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. 290 S. Kartoniert. EUR (D) 12,00.
    ISBN: 3-518-29325-7.

Inhalt des Sammelbandes

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Von zwei Kulturen der Theorie

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Luhmanns Theorie kommt in die Jahre und sieht immer noch rüstig aus. Neben Meta-Kritiken 1 werden inzwischen auch ›Neu-Luhmannsche‹ Ansätze vorgeschlagen, so in Luhmann und die Kulturtheorie. Es geht um Erweiterung, wenn nicht gar um Ketzerei. Bekanntlich war Luhmann nicht immer gut auf Kultur zu sprechen. Wird es eine Fortsetzung der Reihe geben, mit Titeln wie: Luhmann und die Natur(theorie)? 2

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Es scheint angebracht, sich die Gründe für Luhmanns Misstrauen gegen Kultur zu vergegenwärtigen. Kultur als Problem ist keine akademische Luxusdebatte. Wie Thomas Meyer kürzlich gezeigt hat, 3 kann das politisierte kulturelle Selbstverständnis eines Kollektivs zum mörderischen Blutbad führen, und das nicht nur am Rande der Moderne. Um einen anderen, weniger dramatischen Unterschied zu erwähnen: Das Wort ›Kulturtheorie‹ hat einen amerikanischen Beigeschmack. Der cultural turn 4 ist aber in den USA derart vollzogen worden, dass er zur Anti-Theorie- und Anti-Soziologie-Welle geworden ist und die amerikanische Rezeption von Luhmanns Systemtheorie fast unmöglich gemacht hat. Schon Clifford Geertz hatte in den 1960ern sein eigenes Projekt gegen die Soziologie Parsonsscher Prägung definiert. Darin musste sich gerade jene alte amerikanische Abneigung gegen Abstraktion wieder behaupten, 5 über die sich Luhmann oft genug ironisch äußerte. Bezeichnenderweise ist Talcott Parsons in seinem Heimatland so gut wie vergessen, von wenigen Ausnahmen abgesehen (wie Jeffrey Alexander): 6 Der Preis des nicht genügend empiristischen Parsonsschen Denkens. Luhmann wusste, warum er den Begriff ›Kultur‹ nicht mochte.

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Kultur als Form

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Der erste Aufsatz von Gunter Burkart fungiert als Präludium. Sogleich wird eine deutliche Distanz zur Perspektive des letzten Beitrags (von Andreas Reckwitz) markiert: trotz einheitlicher Themenwahl haben die verschiedenen Aufsätze oft divergierende Methoden. Burkart geht dem komplexen Verhältnis zwischen Struktur und Semantik nach und kommt zu dem Ergebnis, dass Kultur als strukturelle Komponente betrachtet werden sollte (S. 19–20). Mit Hilfe der Unterscheidung ›Form / Medium‹ schlägt er die Formel ›Kultur als Medium‹ vor (darin Alois Hahns Beitrag antizipierend). Bekanntlich hatte Luhmann stattdessen ›Sinn‹ als »Letztmedium« von Gesellschaft definiert. 7

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Hier kann man nicht umhin, nochmals an die Gründe von Luhmanns Verdacht gegen die ›Kultur‹ zu erinnern. Die Parsonssche Verbindung von Kultur mit Werten riskiert nicht nur einen Kulturkonservatismus, der – wie Burkart richtig notiert (S. 14) – Luhmann fremd war, sondern Kultur könnte auch mit Michel Serres als ›Parasit‹ – Parasit der Funktion, der Modernisierung, vielleicht auch der Theorie selbst? – verstanden werden (benutzt sie nicht auch als Logik die ›Algebra der unscharfen Teilmengen‹?). Das wird besonders durch Burkarts Erwähnung der neuen Profession von »Kulturvermittlern« als »Treuhändern expressiver Werte« (S. 30) nahe gelegt. Luhmann hätte »Kulturvermittler« wahrscheinlich als Paradebeispiel des parasitären Wachstums der Verwaltung in Organisationen gesehen. 8

[7] 

Alois Hahn beginnt seinen Aufsatz mit einem Exkurs zu Parsons, und fragt, warum Luhmann, der ansonsten so viel von seinem Lehrer gelernt hatte, Parsons’ Kulturbegriff nicht übernommen habe. Nach Luhmanns strengerer Funktionalismusvariante kann Kultur kein eigenes System bilden, da sie weder eine eigene Operation noch einen zweiwertigen Code besitzt. Produktiv ist, wie Hahn Kultur mit Latenz, d. h. mit Parsons’ latent pattern maintenance verbindet. 9 Daraus ließe sich eine Theorie des kulturellen Unbewussten (strictu sensu: Vorbewussten, sind doch die latent patterns weniger verdrängt als vorübergehend virtuell, also nicht realisiert) entwickeln. 10

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Noch stärker ist der Impuls bei Dirk Baecker zu spüren: Back to Parsons. Gleich am Anfang situiert Baecker sein Vorhaben zwischen den konkurrierenden Theoriedesigns cultural studies und Kognitivismus. Diese werden in den USA oft mit scharfen Politisierungen versehen. Cultural studies versteht sich als Erbin von Althusser, der Kognitivismus aber will die Augiasställe der Theorie von empirisch unbeweisbaren, ›kontinentalen‹ – sprich: Freudo-Marxistischen – Spekulationen reinigen.

[9] 

Die anfangs erwähnte Gegenüberstellung zwischen dem soziologischen Lager und den cultural studies wird auch hier mit aller wünschenswerten Schärfe erkannt. Ohne zwischen diesen Positionen einfach synthetisch zu vermitteln, will Baecker von ihnen lernen und meint:

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Zu diesem Zweck ziehen wir [...] die kulturwissenschaftlichen und kognitivistischen Fragen aus dem Blickwinkel der Soziologie zusammen, um sie als Frage nach den externen Bedingungen der internen Orientierung sozialer Systeme auszuformulieren. Das heisst, wir starten ökologisch. (S. 67)
[11] 

Mit dieser Formulierung will Baecker die Einheit der Unterscheidung ›Innen / Außen‹ (oder mit Luhmann: ›Funktion / Leistung‹) begreifen. Damit reformuliert er auch Parsons’ Einsicht in die symbolische Funktion der Kultur, die »auf Externalisierungsleistungen abstellt, die innerhalb sozialer Handlungssysteme erbracht werden« (S. 59). Kultur wäre hier, um einen Titel Peter Handkes ironisch aufzunehmen, die Innenwelt der Aussenwelt der Innenwelt. Freilich geht es Baecker weniger darum, Parsons’ System zu rekonstruieren als seine Fragestellung wiederaufzunehmen, die »location of culture« 11 innerhalb seines Systems (S. 74). Diese Situierung will er – mit einem re-entry nicht nur von Luhmann, sondern auch von Spencer Brown – in Parsons’ Kultur-als-Handlung, als Form beschreiben. Die zwei Funktionen der Kultur, »externe Orientierung und interne Produktion« (S. 77), zieht Baecker als Beobachtung erster und zweiter Ordnung auseinander. Die Beziehung zwischen diesen Ebenen soll als heterarchisch und nicht als (typen-)hierarchisch verstanden werden (S. 78).

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Der Vorteil von Baeckers graphischer Darstellung der Kultur als spencer-Brownsche Form ist, dass sie die unvermeidbaren re-entries der Form in die Form, die eine saubere begriffliche Definition so schwierig machen, klären kann. Gerade hier könnte man nicht nur an Spencer Brown, sondern auch an Gotthard Günthers Auffassung der Heterarchie anknüpfen. So wären Baeckers Ebenen oder Zwei-Seiten-Formen auch als Kontexturen zu verstehen. Am Schluss kommt Baecker zu dem zurückhaltenden Satz, »dass die Kultur im Handlungszusammenhang einen Unterschied macht« (S. 85). Das erinnert nicht zufällig an Batesons Definition der Information als »a difference that makes a difference.« 12

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Elena Espositos Beitrag ist kurz und skizzenhaft (im Vergleich zu früheren beeindruckenden Arbeiten der Autorin). 13 Esposito ist von allen Mitwirkenden des Bandes diejenige, die Luhmanns Denken am getreuesten weiterschreibt. Im Grunde endet ihre Diagnose des zeitgenössischen ›Unbehagens in der Kultur‹ nicht anders als Luhmanns Analyse der Religion: beide kranken an einem Mangel an Selbstreflexion (S. 97). 14

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Im Zugzwang des Re-Entry

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Irmhild Saake und Armin Nassehi versuchen in ihrer Arbeit, eine »systemtheoretische[n] Anwendung Habermasscher Begrifflichkeiten« auszuführen, indem sie eine paradoxe Logik der Modernisierung aufdecken, wodurch eine Welt mit mehr Möglichkeiten auch mehr Trägheiten hervorbringt. Daraus entsteht eine Zeitdiagnose, der zufolge es sich als List des Kulturbegriffs herausstellt, Menschen zu Sprechern zu emanzipieren, die in der Reflexion ihrer lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten Selbstverständlichkeiten entdecken – aber keine relativierbaren Konventionen (S. 103).

[16] 

Die Lebenswelt von Habermas bzw. das hermeneutische Vorverstehen oder Vorbefinden entpuppen sich als »blinde Flecken« im Luhmannschen Sinne. Könnte man nicht genauso gut formulieren, mit einer Paraphrase des berühmten Satzes aus Luhmanns Soziale Systeme: »es gibt Kulturen«? Wenn aller Anfang notwendig unbegründet ist, wenn sich nur dem dezionistischen Imperativ Spencer Browns folgen lässt –»Draw a distinction!« – , wäre zu fragen, ob solche distinctions nicht auch kultureller Art sein könnten, inklusive der ›kleinen Unterschiede‹, die Freud zufolge mit soviel Narzissmus beladen werden.

[17] 

Saake und Nassehi legen indes eine feinere Argumentation an den Tag, als solche einfachen Einwände ahnen lassen. Ihre zentrale Ironie ist, dass die naturwüchsige Eigenart des Habermasschen Modells der Moralentwicklung – ihre detranszendentalisierte Basis in der Sprache und in der Piagetschen Psychologie – zu einem Umschlag in eine kulturelle zweite Natur führt, in das, was ›von Haus aus‹ selbstverständlich ist. Die Argumentation bedarf der mehrmaligen Lektüre.

[18] 
Was Habermas als performative Einstellung bezeichnet [...] lässt sich in systemtheoretischen Begriffen als Zwang zur Anschlussfähigkeit tieferlegen. [...] Dass sich mit diesem Prozess Einsichtsfähigkeit ergibt, ist falsch und zugleich richtig. Es entstehen Argumente, aber eben auch individuelle Vertrautheiten mit diesen Argumenten, mit anderen Worten: Kulturen. Es bewährt sich an dieser Stelle, das Habermassche Konzept des unhintergehbaren Personenstatus neu zu bedenken. (S. 112–113)
[19] 

Die Konsequenz des letzten Satzes wird nicht wenige Leser zum Nachdenken anhalten – bedeutet er doch, dass die Entwicklung eines ›Diskurses‹ zwar Anschlussfähigkeit, das Weiterbestehen des Systems ermöglicht, aber nicht notwendigerweise zu Vernunft befähigt. Stattdessen kommt man ständig in eine Art Zugzwang der Kultur, des Kontextes oder der Selbstbeschreibung (S. 115): wer A sagt, muss auch B sagen. Um Dirk Baeckers graphische Darstellung der Kultur mit Spencer Browns Zwei-Seiten-Formen (S. 82–84) heranzuziehen: Argumente nach Saake / Nassehi führen immer weiter in das Labyrinth der Selbstreferenz, des re-entry hinein; sie können nie ›nach außen‹ in die geteilte Intersubjektivität ausbrechen. Im Gegensatz etwa zu Baecker betonen die Autoren, Kultur bringe eher Eindeutigkeit als Mehrdeutigkeit (d. h. Vergleich, Beobachtung zweiter Ordnung) mit sich (S. 104).

[20] 

Dem reichen und subtilen Beitrag von Saake und Nassehi gerecht zu werden, würde eine gesonderte Arbeit verlangen. Kein Zufall, dass an zentraler Stelle mit einer Rückkehr zum – noch immer Parsonsschen ! – Handlungsbegriff operiert wird (S. 116). Mit Bezug auf Hartmann Tyrells Studie zur Religionssoziologie wird die »Kommunikationsblindheit« alles Handelns erwähnt, um zu zeigen, wo die Ethik diesen blinden Fleck kompensieren muss. 15

[21] 
Genauer könnte man nun formulieren, dass sich im Handlungsbegriff und seiner Ethisierung eine Praxis der Isolation von Sprechern wiederfindet. [...] Der Clou bei diesem Argument verbirgt sich in der Aufhebung der Ethik über eine kulturalistische Produktion von immer neuen, authentischen Sprecherpositionen. (S. 116–117)
[22] 

Mit anderen Worten: in der Wiedergeburt lokaler, ethisch aufgeladener Kulturen aus der Logik der funktionalen Differenzierung. Was Luhmann einst als Weltgesellschaft aufgefasst hatte, entpuppt sich als extrem heterogene Sammlung von global villages. Letzere aber können kaum friedlich miteinander koexistieren, wie McLuhan schon 1968 erkannte. 16 In diesem Falle muss man korrigieren: small is not beautiful. 17 Der Aufsatz endet mit einer Illustration dieser Ethisierung der konkreten Praxis anhand von »Sterbekulturen« (die vom Tode entkoppelt worden sind und dadurch erst nach Ethisierung verlangen).

[23] 

Konsum und Publikum als Inklusionsformen

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Kai-Uwe Hellmann versucht, eine Theorie der Konsumkultur herauszuarbeiten. Dabei lehnt er sich mehr an Foucault als an Luhmann an. Die von ihm benutzte Unterscheidung ›Fremd / Eigen‹ ist kein Code im Sinne Luhmanns: sie produziert keinen ausgeschlossenen Dritten, ist eher analog als digital und also nicht technisierbar. An Foucault erinnert auch Hellmanns diskontinuierliches Phasenmodell, wodurch zwei sehr verschiedene »Kulturen« – die des französischen Hofes um Ludwig XIV. (zum Teil durch die Brille von Norbert Elias gesehen), und die des modernen Konsums – miteinander kontrastiert werden. Manchmal riskiert er es, laxe Formulierungen ernster zu nehmen, als sie es möglicherweise verdienen, wie z.B. die amerikanischen »brand communities« (S. 157), eine Art halb-theoretischer ›Wabuwabu‹ (Luhmann) der Werbebranche, welche nur aus sehr großer Distanz betrachtet werden kann. (Die erstaunliche Idee einer ›Warenmarken-Gemeinschaft‹ steht quer zu aller soziologischen Begriffsbildung. Brand communities wären wohl, Hellmanns eigener Logik zufolge, als eigenartige Verwirklichung des Foucaultschen Dispositivs ›Wissen-Macht‹ zu betrachten.)

[25] 

Immerhin kommt Hellmann am Ende zu einer klaren These: die Werbung sei »das soziale Gedächtnis des modernen Konsums« (S. 162). Interessant ist auch, wie er Konsum als Rolle versteht (S. 148), also als Teil eines Handlungs- bzw. Interaktionssystems. Dabei wird auf Rudolf Stichwehs Unterscheidung von Leistungs- und Publikumsrollen hingewiesen (die man als Erweiterung der Luhmannschen Unterscheidung ›Leistung / Funktion‹ verstehen kann). 18 Die Konsumentenrolle wird mit der Publikumsrolle verbunden, das heißt an Systemgrenzen platziert. Obwohl »die Ausdifferenzierung der Konsumentenrollen« kein »eigenständiges System« bildet, »bahnt [sie] sich [...] auf der Ebene der Entscheidungskriterien den Weg für eine relative gesellschaftliche Autonomie« (S. 149).

[26] 

So besteht die Funktion von Konsumentenrollen wie des Populären insgesamt bei Urs Stäheli darin, Inklusion in Funktionssystemen beizusteuern (S. 171). Wie schon in seinem Beitrag zum Thema ›Geschlecht‹ (Gender), 19 geht es Stäheli hier um die konkreten Auswirkungen funktionaler Ausdifferenzierung. Stäheli definiert den Rahmen seines Unternehmens so scharf und deutlich wie Baecker: am Ausgang macht er klar, dass es »kein System des Populären oder der Massenkultur« geben kann. So steht sein Beitrag über ›das Populäre‹ teilweise quer zum Thema ›Kultur‹. Ihm geht es eher um eine Neuauffassung des Publikums, mit Bezug auf den zu Unrecht vernachlässigten Durkheim-Zeitgenossen Gabriel Tarde.

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Wie unterscheidet sich Tardes Publikum von der klassischen Masse, die immer wieder von Le Bon, Freud, Canetti, Broch oder Ortega y Gasset in düsteren Farben porträtiert worden ist? Wie bei Baecker werden Spencer Browns Zwei-Seiten-Formen eingesetzt, um Stichwehs Unterschied ›Leistungs- versus Publikumsrolle‹ zu markieren. Die Unterscheidung hat, so Stäheli, »keine markierte Außenseite« (S. 179). Für Tarde war die Masse noch die Außenseite des Publikums: bei Luhmann wird sie unsichtbar. Stäheli will sie als »konstitutive« Außenseite sehen, die durch den »Universalisierungsdruck« stets weiter einbezogen werden muss (S. 180 / 181). Dem gemäß wäre Inklusion als steigerbar zu betrachten. (Luhmann stand dem Programm der Partizipation oft skeptisch gegenüber, so im letzten Kapitel von Politischer Theorie im Wohlfahrsstaat).

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Stäheli geht aber noch weiter. Seine These ist letztlich, »dass Inklusion sich nicht ausschließlich auf die funktionssystemspezifischen Mittel verlassen kann, sondern auch ›fremde‹ und im alltagssprachlichen Sinne populäre Kommunikationsweisen benutzen muss« (S. 182). Solche Kommunikationsweisen können auch »Entdifferenzierungsfiguren« genannt werden (S. 183). Sonst riskieren die Funktionssysteme, zuviel an »Masse« auszugrenzen, und zwar mit gefährlichen Konsequenzen. (Auf ähnliche Weise und seinerseits in populärer Terminologie, schrieb Bloch von der Notwendigkeit eines »Wärmestroms« im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Eine andere historische Illustration wäre das spätantike Charisma der populären Heiligen, die von der Kirche taktisch benutzt wurden, um Inklusion zu bewirken.) 20

[29] 

Am Schluss grenzt Stäheli seine Thesen nochmals gegen die übliche Auffassung der cultural studies ab: das Populäre ist nichts Substantielles, sondern ein »Prozessieren der Unterscheidung« ›Publikum / Masse‹ (S. 184); es stellt auch keine allgemeinverständliche common culture dar. Es darf nicht subjekttheoretisch betrachtet werden, also auch nicht mit dem Zauberwort der cultural studiesagency (deutsch etwa: Handlungs- oder Wirkungskraft) – ausgestattet werden. (In den cultural studies kann fast jeder Einkauf, jede Programmumschaltung als Ausdruck einer vermeintlich subversiven agency, gar eines heimlichen Widerstands gegen Hegemonie, gesehen werden.)

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Cornelia Koppetsch diskutiert Luhmanns Theorie der Massenmedien, und versucht, die Auswirkungen von Prominenz bzw. Image durch diese Medien genauer zu analysieren. Hier werden die Massenmedien, die schließlich wie eine »gesamtgesellschaftliche Repräsentation« (S. 204) funktionieren, gegen die Logik der Subsysteme profiliert: wenn die letzteren durch Leistung und Reputation gesteuert werden, so tendieren die Massenmedien dazu, dieses Funktionieren durch zunehmende Interferenz der Prominenz zu stören. Dabei werden sowohl Expertenautorität, »Gemeinwohlorientierung« (S. 208) wie auch traditionelle ›hohe‹ bzw. bürgerliche Kulturvorstellungen unterminiert.

[31] 

Politisch - Moralische Reflexionen

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Luhmanns Theorie zu erweitern geht nicht ohne begriffliche Neuformulierungen, wie die anderen Beiträge des Bandes zeigen. Leider ist Andreas Reckwitz’ Luhmann-Darstellung derart tendenziös, dass sie oft einfach falsch wird. Erstens dehnt Reckwitz die Definition des cultural turn so weit aus, dass sie keine spezifische Bedeutung mehr hat. Ist es wirklich sinnvoll, Derrida zum Kulturalisten zu stilisieren (S. 217)? Auch zeitlich verliert die Kulturtheorie jede Grenze. Sie wird zurückprojiziert in die 1960er Jahre, damit sich Luhmann als Gegenreaktion zu ihr begreifen lässt, und zudem nicht deutlich limitiert, obwohl es schon seit Jahren Titel wie Beyond the Cultural Turn 21 gibt. Ironischerweise wird demselben Luhmann, der einst von humanistischer Seite angegriffen wurde, weil er den Subjektbegriff verabschieden wollte, hier vorgeworfen, er habe mit seiner scharfen Trennung ›Kommunikation‹ und ›Bewusstsein‹ nur romantische Innerlichkeit fortgeschrieben (S. 222). Reckwitz verwischt hier den Unterschied zwischen Individuum und Subjekt. Von Individualität als ›individuellem Allgemeinen‹ (Manfred Frank), als Teil-Ganzes-Beziehung, hat sich Luhmann aber wiederholt und auf unmissverständlicher Weise distanziert. Infolgedessen ist Reckwitz’ Luhmann kaum mehr als ein Strohmann: eine ernste Auseinandersetzung mit seinem komplexen Denken fehlt weitgehend.

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Peinlich sind hier auch das seltsam überlebensfähige Klischee der »Arbitrarität« des Saussureschen Signifikanten (S. 217), 22 das Benveniste und Jakobson vor einem halben Jahrhundert schon korrigiert haben, wie auch Reckwitz’ Unklarheiten über den Code-Begriff. Bekanntlich pflegen Kulturalisten auf den alten semiotischen Codebegriff (Barthes, Eco usw.) zu rekurrieren. Luhmann aber hat seinen Codebegriff nicht der Semiotik, sondern der Kybernetik entlehnt. 23 Die Überstrapazierung des Codebegriffs in der neueren Kulturtheorie ergibt oft eine Art Codierung ohne Funktion (sowie Piaget einst bei Foucault einen ›Strukturalismus ohne Strukturen‹ gerügt hat). Wenn Reckwitz meint, »die kleinsten Einheiten des Sozialen sind nicht extramentale und extrakorporale Kommunikationen, sondern kulturell-körperlich-mentale ›Praktiken‹« (S. 220), so lässt diese lockere Bindestrich-Ehe eine nähere Bestimmung vermissen.

[34] 

Au fond leiden viele Kulturtheorien an einem Mangel an theoretischer Reflexion. Auf der Jagd nach Subversionen und ›Grenzüberschreitungen‹ übersehen sie, wie sehr solche Subversionen letztendlich Produkt ihrer eigenen imaginären Tätigkeit sind. Die ›Grenze‹ des hermeneutischen Zirkels wird selten überschritten. Vielleicht benötigen die cultural studies gerade deshalb so viel politische Rhetorik, um ihre eigene Verstricktheit in das von ihnen angeprangerte Marktsystem zu verbergen. Wie Saake und Nassehi ironisch am Beispiel von John Fiske zeigen (S. 108), wird Moral gerade dort eingesetzt, um Defizite an Logik zu verschleiern. Von solchem falschen Pathos hält sich Reckwitz eher fern, nur nimmt er die vermeintliche »Politisierung« der cultural studies zu sehr beim Wort (so auf S. 225).

[35] 

Der Sammelband schließt mit einem unveröffentlichten Text von Luhmann selbst zu »Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution« aus dem Jahre 1981. Wie der Titel schon andeutet, beschäftigt sich der Aufsatz eigentlich weniger mit ›Kultur‹ als mit Geschichtsmodellen. Verfasst wurde der Text in der »Übergangszeit« vor dem Erscheinen von Soziale Systeme. Es ist zu vermuten, dass Luhmann ihn gerade deshalb nie veröffentlicht hat, weil sich seine Begriffe hier selbst noch in der Schwebe, im Zustand der ›Evolution‹ befinden. »Die Elemente« des Systems sind »hier also Handlungen« (S. 243) und noch nicht Kommunikationen. So sind »die systemspezifische Umwelt und die eigene Identität […] Reduktionen des insgesamt Möglichen« (S. 257). Die Schwierigkeit, Sinngrenzen so scharf wie biologische ›Grenzen‹ zu bezeichnen oder zu schließen, ist hier jedenfalls noch nicht gelöst (darauf hatte gerade Habermas in der Kontroverse von 1970 hingewiesen) (S. 287 / 288). ›Sinn‹ wird eher als Kondensierung, also als Form denn als Medium gesehen. Interessant ist auch, dass Luhmann die Spuren der Genese des Textes, besonders seine spezifische Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger, hier weniger stark getilgt hat als in den meisten seiner anderen Arbeiten. Dadurch sieht man klarer, wie er das eigene Denken selbst als spezifische Differenz zu anderen Entwürfen bestimmt hat.

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Luhmann selbst hat die Reaktivierung der Moral als typisches Symptom einer Übergangszeit gesehen. 24 Seine eigene Theorie verstand er als ethische Reflexion der Moral. Man fragt sich, ob die Tendenzen, die in Burkart und Runkels Band diskutiert werden, nicht doch auf eine moralische Reflexion der Theorie in der heutigen Zeit der Übergänge hinweisen? (Paradoxien müssen stets entfaltet werden, um Stillstand zu vermeiden.) Bei allen evidenten Schwächen der Kulturtheorie bezeichnet sie doch produktiv einige wunde Stellen, an denen sich die Systemtheorie ein klein wenig der »Mogelei« 25 bedienen musste, um sich zu technifizieren. Insofern zeigt das Buch, dass sich solche blinden Flecke oder Latenzen der Luhmannschen Theorie nicht länger invisibilisieren lassen – und auch, dass gerade deshalb deren Paradigma noch nicht lost ist.



Anmerkungen

Peter-Ulrich Merz-Benz / Gerhard Wagner (Hg.): Die Logik der Systeme. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2000; Albrecht Koschorke / Cornelia Vismann (Hg.): Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Überlegungen zum Werk Niklas Luhmanns. Berlin: Akademie Verlag 1999.   zurück
›Luhmann und der Feminismus‹ siehe den interessanten Band von Ursula Pasero und Christine Weinbach (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2003.   zurück
Thomas Meyer: Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2002.   zurück
Ein vielzitiertes Beispiel aus der Geschichtsschreibung: Lynn Hunt (Hg.): The New Cultural History. Berkeley: University of California 1989; aus dem literaturtheoretischen Revier: Fredric Jameson: The Cultural Turn: 1983 – 1998. London: Verso 1998.   zurück
Dazu Winfried Fluck: Die ›Amerikanisierung‹ der Geschichte im New Historicism. In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2. Auflage. Tübingen: Francke 2001, S. 229 – 250.   zurück
Alexander hat bereits vor mehr als zehn Jahren eine Re-Kulturalisierung von Parsons reklamiert: siehe Jeffrey Alexander / Steven Seidman (Hg.): Culture and Society: Contemporary Debates. Cambridge: Cambridge University Press 1990.   zurück
Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1995, S. 209. Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1991, S. 231.   zurück
So z.B. im 2. Kapitel von Niklas Luhmann: Political theory in the welfare state [Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat]. Berlin: de Gruyter 1990; demnach entstehen die schlimmsten Formen der Bürokratisierung gerade dort, wo intersystemische Beziehungen externale Leistungen zwingen, die Form der Bürokratie anzunehmen.    zurück
Dazu immer noch lesenswert: Robert K. Merton: Manifest and Latent Functions, Kap. 3 von Social Theory and Social Structure. Glencoe / IL: The Free Press 1949.    zurück
10 
Die Formulierung schon bei Juliet Flower McCannell: Figuring Lacan. Criticism and the Cultural Unconscious. London, Sydney: Croom Helm 1986.   zurück
11 
Homi K. Bhabha: The location of culture. London: Routledge 2000 (dt. Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Tübingen: Stauffenburg 2000).   zurück
12 
Gregory Bateson: Steps To an Ecology of Mind. Chicago: University of Chicago Press 2000, S. 459.   zurück
13 
Elena Esposito: Zwei-Seiten Form in der Sprache. In: Dirk Baecker (Hg.): Probleme der Form. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1993, S.88 – 119; siehe auch: Elena Esposito: Ein zweiwertiger nicht-selbständiger Kalkül. In: Dirk Baecker (Hg.): Kalkül der Form. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1993, S. 96 – 111.   zurück
14 
Vgl. Niklas Luhmann: Funktion der Religion. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1977, S. 266f.   zurück
15 
Vgl. z.B. Hartmann Tyrell: Religion als Kommunikation. Würzburg: Ergon 1998. Hier fühlt man sich außerdem an Derridas ›logique du supplément‹ erinnert oder an dessen spätere Idee einer unbegründbaren ›Entscheidung‹ (in: Donner la mort. L’Ethique du don. Jacques Derrida et la pensée du don. Colloque de Royaumont 1990. Paris: Metaille Transition 1992).    zurück
16 
Marshall McLuhan: War and Peace in the Global Village. New York: McGraw-Hill 1968.   zurück
17 
Die Anti-Globalisierungs-Romantik des Ernst Friedrich Schumacher (Small is Beautiful: Economics As if People Mattered. New York: Harper 1973) erfreut sich bis heute großer Beliebtheit (eine Neuauflage zum 25. Jubiläum erschien 1999).    zurück
18 
Zum Unterschied ›Leistung / Funktion‹ siehe Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt / M.: Suhrkamp 1997, S.757f.; ihre Beziehung ist aber auch wandelbar (Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1991, S. 266).    zurück
19 
Urs Stäheli: ›134 – Who is at the Key?‹ – Zur Utopie der Gender-Indifferenz. In: Pasero / Weinbach (Anmerkung 2), S. 186–216.   zurück
20 
Peter Brown: Society and the Holy in Late Antiquity. Berkeley: University of California Press, 1982.   zurück
21 
Victoria Bonnell / Lynn Hunt (Hg.): Beyond the Cultural Turn. Berkeley: University of California Press 1999.   zurück
22 
Es wird immer wieder vergessen, dass es erst Lacan war, der in seiner Re-Lektüre von Saussure den undurchdringlichen barre (Balken) zwischen Signifikat / Signifikant betont hatte.    zurück
23 
Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S.202; Die Wissenschaft der Gesellschaft (Anm. 18), S. 183, 198.   zurück
24 
Niklas Luhmann: Paradigm Lost. Über die ethische Reflexion der Moral. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 10.   zurück
25 
Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Anm. 18), S. 369.   zurück