IASLonline

Die Schönheit der Rezension

  • Ernst Troeltsch: Rezensionen und Kritiken (1901-1914). Hg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Gabriele von Bassermann-Jordan. (Kritische Gesamtausgabe 4) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2004. XXIV, 950 S. Leinen. EUR (D) 228,00.
    ISBN: 978-3-11-018095-4.
[1] 

Die bisher in der Kritischen Gesamtausgabe erschienenen Bände zeigen Ernst Troeltsch als systematischen Theologen, als Historiker des neuzeitlichen Protestantismus oder als politisch versierten Beobachter und Kommentator des Zeitgeschehens. Es ist nicht schwer, das Gewicht der dort versammelten Texte für die jeweiligen politisch-theologischen Diskurse zu erfassen. Von dem hier vorliegenden Band mit insgesamt 122 Rezensionen und Kritiken sowie einer »Erwiderung« aus den Jahren 1901 bis 1914 hingegen geht etwas Sperriges aus. Es handelt sich um den mit Abstand umfangreichsten der bisher in der KGA erschienenen Bände. Geplant ist, neben dem vorliegenden aus der späteren Heidelberger Wirkungszeit noch zwei weitere Rezensionsbände innerhalb der KGA zu publizieren, einen zum Zeitraum 1894 bis 1900 und einen für 1915 bis 1923.

[2] 

Rezensionslektüre

[3] 

Kann man sich vorstellen, dass jemand Hunderte von Seiten Troeltsch’scher Rezensionen liest? Aber die Frage ist schon falsch. Um das Lesen geht es nicht bei einer Kritischen Gesamtausgabe, sondern um die Dokumentation. Außerdem aber handelt es sich wirklich um ein interessantes Buch. Denn dokumentiert wird die wissenschaftliche Alltagsarbeit eines der großen wilhelminischen Gelehrten. Aus ihm spricht der unermüdlich Geschäftige, der schwere Lasten des Rezeptionsprozesses tragende Schreibtischmensch. Sichtbar wird ein Troeltsch bei der handwerklichen Arbeit, in der es um Materialsammlung, um die Aneignung und Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Beiträgen anderer geht. Man kann Troeltsch bei seinem Tagewerk über die Schulter blicken; die Tür zu seiner Denkwerkstatt steht weit offen.

[4] 

Rezensionen als Medium
der Wissenschaftskommunikation

[5] 

Die Rezeption wissenschaftlicher Leistungen anderer war für Troeltsch ein aktiver, stets auf die unmittelbare Umsetzung des Gelesenen zielender Prozess. Das mag nun mehr oder minder für alle Wissenschaftler gelten. Erstaunlich aber bleibt auf jeden Fall die Vielzahl von Anknüpfungspunkten, die Sensibilität für die Intentionen des jeweiligen Autors (sie macht ja einen guten Leser aus!) und die breite Spanne theologischer, philosophischer und historischer Themen, die Troeltsch überblickt. Auch kann man sich nur wundern über die schieren Mengen an fachlichen Neuerscheinungen, denen Troeltsch sich neben seiner eigenen, extrem umfangreichen literarischen Arbeit, seinen Lehr- und sonstigen Verpflichtungen zugewandt hat, und die jedenfalls auf ein Höchstmaß an Arbeitsökonomie schließen lassen. Einschließlich der Sammelrezensionen und der Beiträge für die Theologischen Jahresberichte, in denen Troeltsch über Neuerscheinungen aus den Gebieten Religionsphilosophie und theologische Prinzipienlehre berichtete, hat er zu Lebzeiten mehr als 1.300 Bücher besprochen.

[6] 

Troeltsch hatte, wie auch Max Weber, von früh an sein Leben in jeder Hinsicht der Wissenschaft verschrieben. Über Jahrzehnte hinweg ist er in permanenter, niemals unterbrochener Tätigkeit gewesen, wobei ihm, anders als dem Heidelberger Freund, sehr lange eine robuste körperliche Konstitution zustatten kam. Man kann sich einen Troeltsch in Ruhe nicht vorstellen. Dem Geschichtsschreiber und Theoretiker des protestantischen Arbeitsethos muss ungenutzte Zeit ein Greuel gewesen sein.

[7] 

Das Rezensieren im Speziellen hatte bei Troeltsch einen ganz bestimmten, unerlässlichen Ort in der Organisation wissenschaftlicher Arbeit. Es entsprach aber auch seinem Selbstverständnis als Wissenschaftler. Die Abschottung oder das permanente In-sich-Kreisen und ewige Reproduzieren und Variieren des längst Erkannten war für Troeltsch der Tod nicht nur der Wissenschaft, sondern des Denkens an sich. Es ist nicht überflüssig, dies in einem Moment hervorzuheben, in dem viele so weitgehend von diesem mühsamen und wenig reputierlichen Geschäft Abstand halten und nicht einsehen wollen, weshalb sie für andere lesen und kommentieren sollen, was denen offenbar eine eigene Anstrengung nicht wert ist. Für Troeltsch ist das Rezensieren eine Basisarbeit, eine andauernde Auseinandersetzung mit den anderen, jenseits des vom Publikum beobachteten Diskussionsgeschäftes bei Kongressen und Tagungen.

[8] 

Der Rezensent als Pädagoge

[9] 

Troeltsch hat sich dafür interessiert, was geschrieben und geforscht wurde. Seine Lektüre war eingehend und genau. In den Besprechungen ging es ihm nicht darum, sich aufzuspreizen. Ihm war es nicht darum zu tun, Autoren zu bespötteln, ihnen ihre Unfähigkeit zu bescheinigen oder seine eigene Brillanz ans Licht zu stellen, damit jedermann sehen könne, wer der wahre Held in der Szenerie sei. Handelte es sich um junge Wissenschaftler, dann war Troeltsch als Rezensent zugleich Pädagoge. Aber auch in allen anderen Fällen spricht aus diesen Texten ein nobles Urteil. Seine Souveränität bleibt stets unangefochten, aber nicht in einem negativen, bedrängenden Sinne. Sein Urteil ist oft kritisch, aber doch nicht krass polemisch, eine Unterscheidung, deren Beachtung man sich heute wieder vermehrt wünscht. Anders als offensichtlich der Bandherausgeber sah Troeltsch seine Rezensionen nicht primär als »Waffen im Kampf um die Deutungshoheit« (S. 2). Weil Troeltsch gerne rezensiert hat, sind seine Texte auch nie obenhin, sondern inhaltsreich, gelehrt und ausführlich. Diese Besprechungen zeigen, dass es auch eine Schönheit der Rezension gibt.

[10] 

Von der Modernitätsfähigkeit des Christentums

[11] 

Für eine differenzierte Kenntnis Troeltschs ist der vorliegende Band unverzichtbar. Sieht man nämlich genauer hin, so zeigt sich, dass das Rezensionswerk viel mehr als eine Materialsammelstelle oder Urteilsschmiede gewesen ist, von der aus Troeltsch dann zu größeren Taten schritt. Aus ihm spricht vielmehr der gleiche theologische und fachhistorische Geist, der den Autor auch an allen anderen Orten seiner Tätigkeit beseelt. Es ging ihm vor allem darum, die Modernitätsfähigkeit des Christentums auf den Prüfstand zu stellen, Defizite und Fehlentwicklungen offenzulegen und durch das eigene wissenschaftliche Wirken die Erneuerung des christlichen Denkens voranzutreiben.

[12] 

Es war ein eminent systematisches Interesse, das ihn auch bei seinen Rezensionen leitete, und insofern ist es kein Wunder, wenn zahlreiche dieser Texte in einem engen werkgeschichtlichen Zusammenhang mit den historischen und theologisch-religionsphilosophischen Hauptwerken stehen. Den Entschluss zur Ausarbeitung seiner Abhandlungen über die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen etwa hat Troeltsch in der Folge des Auftrages gefasst, Martin von Nathusius’ Studie Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage zu besprechen. Rezensionen dienen ihm als Medium der Selbstverständigung, nicht allein zur kritischen Wahrnehmung anderer Deutungsperspektiven.

[13] 

Methodendebatten in Philosophie,
Geschichtswissenschaft und Soziologie

[14] 

Materialiter stehen Themen der Religion und der Theologie im Vordergrund. Daneben widmete Troeltsch sich in seinen Rezensionen und Kritiken vor allem den Methodendebatten in Philosophie, Geschichtswissenschaft und Soziologie, so dass hier sein eigener kulturwissenschaftlicher Denkstil, der die fachdisziplinären Grenzen zwischen Theologie und Philosophie konsequent überschritt, in aller Deutlichkeit hervortritt. Neuerscheinungen aus dem philosophischen und allgemeinhistorischen Gebiet finden sich neben solchen aus der Fachtheologie und der Religionsgeschichte. Dies ist Programm, wobei noch zu beachten ist, dass Troeltsch durchaus nicht jeden Titel bekam, den er zu besprechen wünschte. Mit aller Entschiedenheit wollte er den professionellen Betrieb der Theologie auf die moderne Kulturgeschichtsschreibung hin öffnen. Auch hatte er keinerlei Hemmnisse, Literatur aus der römisch-katholischen und der reformkatholischen Diskussion (Josef Müller, Albert Ehrhard, George Tyrrell) zu rezipieren, wie er auch die Hervorbringungen der neuen monistisch-nachchristlichen »zukunftsreligiösen« Autoren aufmerksam zur Kenntnis genommen hat. Seine guten Sprachkenntnisse erlaubten ihm, in allen diesen Bereichen englische und französische Titel dem deutschen Publikum vorzustellen. Publikationsorte waren fachtheologische (vor allem die Theologische Literaturzeitung) und nichttheologische Fachorgane, besonders allgemeine wissenschaftliche Literaturzeitschriften und die Historische Zeitschrift, daneben mit einer gewissen Vorliebe Martin Rades Christliche Welt.

[15] 

Bisweilen sind die Erörterungen von einer Länge, die heute keine Redaktion mehr akzeptieren würde. Manche Besprechung, z.B. die zwanzigseitige Erörterung von Reinhold Seebergs Duns Scotus-Studie von 1900, nimmt in der Tat den Charakter einer »Kritik« an. So ist es auch verständlich, wenn Troeltsch sich immer wieder in heftige Auseinandersetzungen über seine Urteile verwickelt sah. Wiederholt nutzte er etwa die Anzeige einschlägiger Neuerscheinungen, um seine Sicht der Reformation vor der Epochenfrage Mittelalter/Neuzeit zu exponieren, wie überhaupt der Bezug zwischen Rezensionen und anderen Veröffentlichungen besonders bei den historischen Themen am engsten ist.

[16] 

Zur Einleitung: wissenschaftsgeschichtliche
und -historische Aspekte

[17] 

Hierauf und auf zahlreiche weitere forschungsgeschichtliche Aspekte geht die siebzigseitige Einleitung der Bandbearbeiter auf der Grundlage umfangreicher Recherchen sehr ausführlich ein. Im Mittelpunkt stehen dabei die Zusammenhänge zwischen Troeltschs Rezensententätigkeit und seiner sonstigen wissenschaftlichen Arbeit in den Heidelberger Jahren seit 1901. Von großem Wert ist die Schilderung der wissenschaftshistorischen Kontexte, in denen die Rezensionen standen. Die Wissenschaftsgeschichte der deutschen Geschichtsschreibung und die Theologiegeschichtsforschung bilden den ständigen Hintergrund der einzelnen Besprechungen. Von Interesse ist auch, dass Troeltsch sich wiederholt der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus zugeordnet hat, bei gleichzeitiger Ablehnung der von ihm als untauglich angesehenen Verbindung von Kantischer Erkenntnistheorie und dogmatischem Geschichtspositivismus, wie sie die Ritschl-Schule betreibe (vgl. S. 676 f.). Erst aus der Kenntnis dieser schul- und werkgeschichtlichen Beziehungen lassen sich die Mechanismen der »Ideenzirkulation« innerhalb des Heidelberger Gelehrtenmilieus ersehen. Im Rückgriff auf Troeltschs Texte lässt sich so eine regelrechte »Topographie der theologischen Diskurslandschaft« (S. 37) skizzieren.

[18] 

Aspekte einer Problemgeschichte

[19] 

Erst der jetzt vorliegende KGA-Band vermittelt einen Eindruck davon, in welchem Ausmaß Troeltsch sich der Rezensentenfunktion gewidmet und welche Bedeutung er ihr für sein wissenschaftliches und wissenschaftspolitisches Wirken zugemessen hat. Gelegentlich geben ihm einzelne Besprechungen (z.B. zu Jülichers Protestschrift von 1913 und Eberhard Vischers Broschüre aus dem gleichen Jahr) Anlass für explizite Kommentare zur Situation in der Hochschultheologie und zum Thema Freiheit der Wissenschaft. Als »Nicht-Preuße« befleißigt er sich dabei aber großer Zurückhaltung (S. 704), und überhaupt ist zu sagen, dass Troeltsch in der Erörterung der einzelnen Publikationen nicht im Detail hängenbleibt. Ein besonderes Augenmerk widmet er vielmehr dem thematischen Zusammenhang, in dem die Neuerscheinung steht. Gerade die von Troeltsch häufig gleichsam mitgelieferte Problemgeschichte ist für den heutigen Leser besonders aufschlussreich, bisweilen sogar mehr noch als der anzuzeigende Titel selbst.

[20] 

Wissenschaftstheoretische Zielsetzungen

[21] 

Im Rahmen dieser Horizontbeschreibungen ist auch der Ort, an dem Troeltsch immer wieder seine wissenschaftstheoretischen Zielsetzungen und forschungspraktischen Forderungen zum Ausdruck bringt. Vor allem der Theologie sucht er in diesen einleitenden Erörterungen die Erweiterung ihrer Perspektive durch kulturhistorische Aspekte als notwendig nahezulegen, um sie aus der traditionellen dogmatischen und theologiegeschichtlichen Engführung herauszubringen. Die »Strategie«, der Troeltsch hier folgt, wird von den Bandbearbeitern einleitend als »wissenssoziologische Kontextualisierung« bezeichnet, die an ein modernitätsoffenes liberales Bildungsbürgertum zurückgebunden sei (S. 47). Bei einzelnen Gelegenheiten, etwa der Anzeige der Neuauflage von Franz Overbecks Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologen von 1903, gibt er grundsätzliche Hinweise, die als Einschätzung der gegenwärtigen theologischen Debattenlage im Streit um die Abstandsbestimmung von Religion und Moderne unmittelbar in das Zentrum seines Denkens führen.

[22] 

Es ist Rezensionen beschieden, dass sie kein langes Leben haben. Sie sind das Grundgenus wissenschaftlicher Tagesliteratur und eben als solches temporär eng befristet. Auch Troeltschs Texte bilden davon keine Ausnahme. Was diesen KGA-Band aber dennoch so interessant macht, ist, dass am Ende ein Gesamtbild entsteht. Die einzelnen Besprechungen fügen sich so zusammen, dass aus ihnen die leitenden Interessen und elementaren Spannungen des modernen Theologen hervortreten. Mit Recht wird darauf aufmerksam gemacht, dass hier ein Troeltsch auftritt, der »ein zerrissener Intellektueller« gewesen ist. Die von ihm zeitlebens angestrebte Vermittlung von religiöser Tradition und kritischer Kulturanalyse blieb fragil, und der Versuch, eine radikal historische Methodik und Forschungspraxis in der Theologie zu etablieren, sie aber gleichzeitig durch geschichtsmetaphysische Konstruktionen abzusichern, blieb ein Wagnis.

[23] 

Kommentare und Register

[24] 

Wie schon bei allen zuvor erschienenen KGA-Bänden wird auch im vorliegenden Fall die Benutzbarkeit durch umfangreiche Personen- und Sachregister sowie sehr zahlreiche Biogramme (derjenigen Autoren, deren Werke Troeltsch bespricht) wesentlich gesteigert. Die Rezensionen selbst werden durch eine bewusst zurückhaltende, »editionsasketische« Kommentierung erläutert. Hinzu kommen Verzeichnisse der von Troeltsch rezensierten Schriften, der von ihm genannten Literatur und der sonstigen von den Herausgebern herangezogenen Literatur. Freude empfindet man schließlich auch insofern an diesem Band, als Verlag und Bearbeiter sich nicht durch die Debatten über Rechtschreibreformen haben irritieren lassen. Man wünscht sich, dass dies beim Fortgang der Troeltsch KGA so bleiben möge.