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Georg Forster und die physische Anthropologie im 18. Jahrhundert

  • Tanja van Hoorn: Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts. (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 23) Tübingen: Max Niemeyer 2004. VI, 275 S. Kartoniert. EUR (D) 74,00.
    ISBN: 3-484-81023-8.
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Fragestellung

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Was Anthropologie ist, welche wissenschaftssystematischen Differenzierungen hier vorgenommen werden können, welchen historischen Beginn die Anthropologie im 18. Jahrhundert nimmt, sind Fragen, die sich die Geistes- und Kulturwissenschaften im Zuge der sogenannten ›anthropologischen Wende‹ seit etwa zwanzig Jahren stellen. Tanja van Hoorn situiert sich innerhalb der breiten geisteswissenschaftlichen Anthropologieforschung mit einem interdisziplinären Anspruch: Ausgehend vom Werk Georg Forsters will sie mit ihrer Studie zur »physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts« der Fixierung der Geisteswissenschaften auf die philosophische Anthropologie entgegenarbeiten, um so perspektivisch die Frage nach dem Zusammenhang von philosophischer und physischer Anthropologie im 18. Jahrhundert zu eröffnen.

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Gliederung

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Die Arbeit gliedert sich in drei Kapitel, in denen jeweils eine Schrift Forsters im Zentrum der Analyse steht und entsprechend eine zentrale Streitfrage der zeitgenössischen physischen Anthropologie beleuchtet wird: Zunächst geht es um Forsters Reise um die Welt (1778–1780) und damit um die kontroverse Abgrenzung des Menschen vom Affen. Im Kapitel zu Forsters Schrift Noch etwas über die Menschenraßen (1786) wird die Einteilung des Menschen in verschiedene Gruppen vor allem in Auseinandersetzung mit Kant thematisiert. Am Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit (1789) zeigt van Hoorn auf, wie Forster »physiologisch-organismische Denkmodelle« (S. 20) seiner Zeit aufgreift und fortschreibt.

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Methodik

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Während van Hoorn, wie sie betont, inhaltlich an die verschiedenen Beiträge Jörn Garbers anschließt, der in Bezug auf Forsters Werk eine »komplexe Skizze einer Anthropologie der Spätaufklärung im Schnittpunkt synchroner und diachroner Natur- und Kulturgeschichte« (S. 16) vorgelegt habe, folgt sie methodisch diesem makrogeschichtlichen Ansatz nicht. In Ergänzung zu Garber unternimmt ihre Studie in »streng hermeneutische[n] Quellenanalyse[n]« (Fußnote 81) die noch ausstehende »quellengestützte Erkundung«, indem »Forsters Rezeption zeitgenössischer physisch-anthropologischer Debatten und seine eigenen Positionen zu den diesbezüglichen aktuellen Streitfragen« (S. 16) rekonstruiert werden.

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Der gewählte methodische Zugriff wirkt nicht nur durch seine Bescheidenheit sympathisch, sondern zeigt in der Durchführung auch seine texterschließende Produktivität. Als Defizit ist allerdings zu bemerken, dass van Hoorn ihre mikrogeschichtlich-hermeneutischen Einzelergebnisse nicht wieder auf die vorliegenden und von ihr in der Einleitung vorgestellten Beiträge einer »›makroskopischen‹ Diskursgeschichte« (Fußnote 81), insbesondere von Garber, sei es korrigierend oder verstärkend, zurückbezieht.

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Hermeneutische Rekonstruktion und
Kontextualisierung

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Reise um die Welt

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In der Beschreibung einer Weltumsegelung, Reise um die Welt, die Forster 1772–1775 als Assistent seines Vaters auf einem Schiff James Cooks unternommen hat, werde – davon geht die Studie aus – ein »Kernproblem der zeitgenössischen physischen Anthropologie« (S. 25) bearbeitet, nämlich die Frage, wie die Verschiedenheit des von Natur aus einheitlichen Menschengeschlechts erklärbar ist. Van Hoorn zeigt im ersten Kapitel, wie Forster sich in seiner Schrift zunehmend von dem damals dominanten klimatheoretischen Ansatz aus Buffons Histoire naturelle (1749 ff.), der vor allem klimatische Bedingungen für den körperlichen Unterschied zwischen Menschenarten verantwortlich macht, distanziert. Die Klimatheorie stößt empirisch an ihre Grenzen, wo, wie im Falle der Melanesier und Polynesier der Südsee, zwei sehr verschieden aussehende Gruppen in einer klimatischen Region leben. Wohl nur theoretisch stellt sich für Forster die Wahl: Entweder die Melanesier sind Affen und deshalb in ihrem Äußeren verschieden von den Polynesiern oder die Klimatheorie stimmt nicht. So komme Forster zu einer »empirischen Widerlegung oder zumindest Relativierung der Klimatheorie« (S. 79) zugunsten der These, dass die Varietät der Population in einer Region durch Wanderung und demnach deren verschiedenes Äußeres durch Abstammung erklärbar ist.

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Van Hoorn bettet Forsters Ideengenese in verschiedene Diskussionskontexte der physischen Anthropologie im 18. Jahrhundert ein. Neben Buffon werden mit dem niederländischen Geistlichen Cornelius Pauw und dem französischen Missionar Abbé Demanet zwei weitere, von Forster auch selbst genannte Klimatheoretiker vorgestellt. Zudem wird Forsters Stellung innerhalb der Diskussion um die Unterscheidbarkeit von Mensch und Affe aufgezeigt, die in der Studie zwischen Carl von Linné, Jean-Jacques Rousseau, dem englischen Anatom Edward Tyson und dem schottischen Philosophen Lord Monboddo aufgespannt wird und die sich vor allem an der Positionierung der neuentdeckten Anthropoiden auf der scala naturae zwischen Mensch und Tier entzündet.

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Noch etwas über die Menschenraßen

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Mit Noch etwas über die Menschenraßen schreibt sich Forster, das wird im zweiten Kapitel der Studie nachgezeichnet, in einen weiteren Diskussionszusammenhang der physischen Anthropologie ein: Wie »die Vielfalt im Menschengeschlecht klassifiziert und erklärt werden könne« (S. 85), wird zu einer zentralen Frage in Schriften der 1770er Jahre, nachdem sich zunächst mit Buffon, der eine Art als Fortpflanzungsgemeinschaft bestimmt, und Linné, der eine Bestimmung über wesentliche Merkmale vorführt, zwei konträre Meinungen etabliert haben. Verknüpft ist die Frage nach der Klassifizierung mit dem Problem, wie die Genese der verschiedenen Menschengruppen zu erklären ist, ob man von einer Mono- oder einer Polygenese, d.h. von einer Abstammung aus einer oder mehreren Wurzeln auszugehen habe.

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Van Hoorn gibt zunächst einen Überblick über die verschiedenen Kontrahenten und stellt hier besonders auf die moralphilosophischen oder theologischen Implikationen der Positionen ab. Gegen Voltaire und den englischen Philosophen Henry Home, die eine polygenetische Abstammung des Menschen vertreten, wird von konkurrierender Seite, insbesondere vom Mediziner Johann Friedrich Blumenbach, der Vorwurf der Ketzerei erhoben, weil man sich Gott nicht als Schöpfer mehrerer gleichursprünglicher Menschenpaare vorstellen könne.

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Ausführlich wird dann die Forster-Kant-Kontroverse rekonstruiert. Kant entwirft in zwei anthropologischen Schriften, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse und Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1785 / 86), den Menschen zum einen als physisches und zum anderen als sittliches Wesen. In beiden Fällen ist es nach Kant notwendig, einen monogenetischen Ansatz anzunehmen. Van Hoorn arbeitet darauf die bisher in der Forschung nicht gesehene Komplexität von Forsters Entgegnung heraus, indem sie seine impliziten und expliziten Bezugnahmen auf verschiedene anerkannte Naturforscher seiner Zeit, insbesondere auf Blumenbach und Eberhard August Wilhelm Zimmermann, herausstellt. Als Ergebnis hält sie fest, dass Forster »den ketzerischen Tabubruch der Polygenese unter Aufbietung sämtlicher ihm zur Verfügung stehender naturwissenschaftlicher Argumentationsmuster« (S. 176) formuliert.

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Die Studie van Hoorns lässt sich hier, wie auch an anderen Stellen, als Handbuch zur physischen Anthropologie im 18. Jahrhundert lesen. Es werden Grundsatzdebatten über zentrale Fragen gebündelt und übersichtlich dargestellt, die zudem durch ein hilfreiches Personenregister auch selektiv rezipiert werden können (ein Sachregister fehlt leider). Die Arbeit überzeugt hier zudem durch die umfassende Einbindung in die Forschungslage, die jeweils in den Fußnoten skizziert wird. Die Kehrseite der partiell rein additiven Darstellungsweise ist, dass die Studie nicht ohne Redundanzen bleibt, so wenn der zeitgenössische Diskussionszusammenhang zunächst allgemein und anschließend noch einmal in Bezug auf Forsters Texte herangezogen wird.

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Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit

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Im letzten Kapitel stellt van Hoorn ausführlich Forsters Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit im Kontext der »Gattung der Geschichte der Menschheit« (S. 20) vor. Nach allgemeinen Ausführungen zu diesem Ende des 18. Jahrhunderts neuen Typus von Geschichtsdarstellung referiert sie in chronologischer Folge die wichtigsten Autoren der Gattung. Im Vergleich mit den Konzepten von Isaak Iselin, Voltaire, Home, Johann Gottfried Herder und Christoph Meiners stellt sie die These auf, dass Forster eine gravierende Neuerung in die Gattung einführt. Im Zentrum von Forsters Überlegungen stehe jetzt nicht mehr die Varietät und Klassifizierung der Menschen, sondern er fokussiere dagegen das »Individuum« und die »Metamorphosen [seines] Körpers« (S. 231). Forster projiziert dann die physische Individualentwicklung vom Kind zum Greis auf die Geschichte der Menschheit.

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Er fügt damit den existierenden menschheitsgeschichtlichen Konzepten ein neues Entwicklungsmodell hinzu, das einen dem Leibe abgelesenen physiologischen Leitfaden als Hilfe zur Entzifferung des geschichtlichen, philosophisch zu interpretierenden Prozesses der Menschheit benützt. In diesem Entwurf werden Natur- und Kulturgeschichte des Menschengeschlechts in einer dynamischen Geschichte des Menschheitskörpers zur unauflöslichen Einheit. (S. 231–232)
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Genau hier wird es spannend, denn damit deutet sich tatsächlich die von van Hoorn in der Einleitung angemahnte, weil historisch vorfindliche Verschränkung von physischer Anthropologie einerseits und philosophischer Anthropologie und Kulturanthropologie andererseits an. Leider endet die Studie an diesem Punkt: Weder werden noch einmal die Thesen von Garber zur Kombination von Natur- und Kulturgeschichte aufgenommen, noch wird der in Forsters Text offenbar gegebene Zusammenhang ausführlich expliziert. Auch der kurze Schluss der Arbeit ist in dieser Hinsicht enttäuschend, bringt er doch nur eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse, die bereits in den Resümees zu den einzelnen Kapiteln schon gegeben worden sind.

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Gesamturteil

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Die Studie von van Hoorn erreicht, dass man sich nicht nur über die physische Anthropologie Forsters, sondern auch über die zeitgenössischen Debatten zum Thema gut informiert fühlt. Der Handbuchcharakter der Arbeit trägt der Interdisziplinarität des Gegenstands ebenso Rechnung wie die umfassende Einbettung in die diverse Forschung zu den einzelnen Autoren und Themen. Die Rekonstruktion der Diskussionen und Argumente ist dabei durch die Bündelung über zentrale Fragen zumeist luzide, entbehrt aber passagenweise nicht einer gewissen Redundanz. Obwohl die Autorin selbst ankündigt, dass sie keine makrogeschichtlichen Überlegungen anstellen wird, kann man dies als Leser bedauern, zumindest aber erwarten, dass sie die diskursgeschichtlichen Thesen Garbers, denen sie sich einleitend anschließt, in der Durchführung wieder aufnimmt, was nicht geschieht. Ebenso kann man sich ausführlichere Darlegungen über den von van Hoorn in der Einleitung konstatierten Zusammenhang von physischer und philosophischer Anthropologie sowie Kulturanthropologie wünschen, zumal gerade die Ergebnisse des letzten Kapitels dies nahegelegt hätten. Insgesamt legt van Hoorn aber eine sehr lesenswerte Studie zur physischen Anthropologie im 18. Jahrhundert vor, die bestehende Wissenslücken der Geisteswissenschaften sicher zu füllen vermag.