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Romanistik als Kulturwissenschaft?

Von der Kulturkritik zur Kulturreflexion

  • Claudia Jünke / Rainer Zaiser / Paul Geyer (Hg.): Romanistische Kulturwissenschaft? Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 348 S. Geheftet. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 3-8260-2918-6.
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Legitimationsproblematik und Bewährungsproben

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Kaum ein Thema ist in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft derart brisant besetzt und wird ähnlich kontrovers diskutiert wie die notwendige (so die Befürworter) oder unzulässige (so die Gegner) Ausweitung literaturwissenschaftlicher Kompetenzen in das Gebiet der Kulturwissenschaft. Und so üben sich die Herausgeber des Sammelbandes Romanistik als Kulturwissenschaft? in Vorsicht und versehen ihren Gegenstand mit einem Fragezeichen. Überlegungen werden zur Diskussion gestellt und die Herausforderung der Bewährungsprobe romanistischer Kulturwissenschaft ausdrücklich anerkannt.

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Die Kontroversen um die Konturierung von Philologien als Kulturwissenschaft verdanken sich im Wesentlichen zwei Motivationen. Zum einen drängt die Wissenschaftspolitik seit geraumer Zeit vehement auf eine verstärkte Berufsrelevanz der Forschung und Lehre; zum anderen machte sich innerhalb der Philologien selbst ein Unbehagen an überkommenen Methoden und Theorien bemerkbar. Eine Folge dieser Überlegungen ist die Forderung nach der Einbettung der traditionellen Philologien in eine (vermeintlich) umfassendere Medien-und Kulturwissenschaft. Mit dieser Forderung setzt sich der vorliegende Sammelband historisch und vor allem systematisch auseinander, um Grenzen und Reichweiten kulturwissenschaftlicher Erweiterungen zu überdenken.

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Der Sammelband beinhaltet Vorträge, die in der 10. Sektion des XXVII. Deutschen Romanistentages in München (7.-10.10.2001) gehalten worden sind und unterteilt sich in zwei große Rubriken. Während der erste Teil elf Beiträge einer »Grundlagenreflexion« liefert, beschäftigen sich zehn Aufsätze im zweiten Teil mit »Anwendungsbeispiele[n]«. Die binäre Aufteilung in theorie- und praxisorientierte Analysen mag auf den ersten Blick wenig originell erscheinen. Angesichts des nach wie vor ungeklärten Status romanistischer Kulturwissenschaft (oder kulturwissenschaftlicher Romanistik) erscheint die einfache Gegenüberstellung jedoch sinnvoll, um grundlegende Orientierung und Information gewährleisten zu können.

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Das »Verzeichnis der Autorinnen und Autoren« auf der letzten Seite des Buchs beschränkt sich auf Namensnennung, Fachrichtung und Wirkungsort der Autoren. Ein zusätzliches Sach- und/oder Personenregister hätte eine willkommene Hilfe dargestellt, da die interdisziplinären und facettenreichen Fachbereiche, die der Band insgesamt verhandelt, nicht jedem Leser gleichermaßen vertraut sein dürften. Ebenso vermisst man einen Überblick zur historischen Entwicklung der romanistischen und kulturwissenschaftlichen Annäherung bzw. Opposition. Im »Vorwort«, das nicht mehr als rund eine Seite umfasst, formulieren die Herausgeber ihr Anliegen wie folgt:

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Wie es das Fragezeichen im Titel des Bandes signalisiert, sollte die Auseinandersetzung mit dem Thema nicht primär im Sinne eines Plädoyers für die kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Philologien und insbesondere der Romanistik geführt werden, sondern auf eine kritische und kontrovers diskutierte Perspektive hin geöffnet werden. [...] Den Sektionsteilnehmern war es nicht daran gelegen, sich der einen oder anderen Position anzuschließen – es ging vielmehr darum, sowohl in allgemein-theoretischen Reflexionen als auch in konkret-exemplarischen Einzelanalysen die Grundlagen, Erscheinungsformen und Funktionen der Beziehung zwischen Literatur und Kultur in synchroner und diachroner Perspektive herauszuarbeiten. (S. 7)
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Die einzelnen Aufsätze der Sektionsteilnehmer beziehen nun allerdings, anders als nach dieser relativistischen Ankündigung befürchtet werden könnte, durchaus (wenn auch nicht durchgängig) anregend, diskussionsbereit, ja manches Mal auch streitfreudig Position. Es wird insgesamt so etwas wie eine erste Inventur möglicher Allianzen von romanistischen Literatur- und Kulturwissenschaften erstellt. Darüber hinaus finden sich in dem Sammelband wertvolle innovative Forschungsimpulse, wobei unter den einundzwanzig Aufsätzen einige deutlich hervorragen.

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Jede Auswahl hat naturgemäß ihre Stärken und ihre Schwächen. So beschränkt sich der praxisversierte zweite Teil fast ausschließlich auf kanonische Autoren und blickt über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum hinaus. Dies ist bedauerlich, weil eine wichtige Fragestellung zur Aktualität kulturwissenschaftlicher Methodologie damit ausgespart bleibt. Tatsächlich dürfte spätestens die ›nach-postmoderne‹ Literatur der letzten drei Jahrzehnte – für die der derzeit beliebte Ausdruck der ›Popliteratur‹ wohl eher provisorischer Behelf bleiben wird – dafür gesorgt haben, dass sich die ›klassische‹ Literaturwissenschaft einer grundlegenden Revision unterziehen musste. Denn von Houellebecq über Stuckrad-Barre bis hin zu Cavazzoni (um nur wenige Beispiele zu nennen) artikuliert sich eine neuartige Form von Literatur, deren Kultur der Alltagsereignisse bzw. Kunstarchive mit den altbewährten literaturwissenschaftlichen Instrumentarien nur eingeschränkt analysierbar ist.

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Kritik kultureller Literaturwissenschaft

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Die beiden mit Abstand interessantesten Aufsätze des gesamten Sammelbandes finden sich im Theorieteil.

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Rainer Zaiser benötigt nicht mehr als dreizehn dicht und pointiert geschriebene Seiten, um in »Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft – Antagonismus oder Osmose?« schnörkellos nahezu alle wichtigen Punkte, Desiderata und Perspektiven möglicher Interaktionen von Romanistik und Kulturwissenschaft zu umreißen. Zaiser enttarnt die beliebten Kontroversen um sogenannte high und low cultures als stereotype Scheingefechte, die den Blick auf das tatsächlich Wichtige unnötig verstellen. Jenseits affektiver Besetzungen sei der agonale Diskurs zwischen Literatur- und Kulturwissenschaft nicht auf vermeintliche Aufwertungen landeskundlicher Quisquilien zu beschränken. Angesichts der grundlegenden Infragestellung der Nationalphilologien sind periphere Legitimationsversuche in den Augen Zaisers kaum gefragt. Seine Legitimation der (romanistischen) Philologie ›geht aufs Ganze‹, indem er gängige Vorurteile nachhaltig zu entkräften bemüht ist. Er weist völlig zu Recht darauf hin, dass die Literaturwissenschaft nie gänzlich bzw. nur von vereinzelten (wenn vielleicht auch einflussreichen) Vertretern ihrer Zunft als rein schöngeistiges Elfenbeinmetier betrieben worden ist. Diese Klarstellung ist Zaiser deshalb wichtig, weil ihm daran gelegen ist, die vehement eingeforderte Berufsrelevanz des literaturwissenschaftlichen Studiums in ein verhältnismäßiges Licht zu rücken. Dieses, so stellt Zaiser mit erfreulichem Selbstbewusstsein fest, schule auf Grund seines Komplexitätsgrades das kritische Denken wie kaum eine andere Disziplin:

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Der Erwerb des jeweiligen know hows, das in einem betriebsinternen, nunmehr nicht nur fiktiven, sondern wirklich praxisorientierten Trainee-Programm angeeignet werden könnte, wird für die Diplomierten im Fach Literaturwissenschaft letztlich zur leichten Übung, genauso wie im übrigen auch die Analyse von Phänomenen der Alltagskultur, unter die eine ganze Reihe von medialen Vermittlungsformen zu subsumieren sind. Die Wirtschaft, die Politik oder die Medienbranche müssten nur bereit sein, dies erkennen zu wollen. (S. 93)
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Die Schärfe und Prägnanz ihrer Analysen könne die Literaturwissenschaft jedoch, so weiter Zaiser, nur erhalten, wenn sie sich zwar (weiterhin) als Teil der Kultur und als »ein auf die Lebenswelt geöffnetes Kulturobjekt, und modern gesprochen eben auch ein Medium, und zwar keines der schlechtesten« (S. 89) begreife. Anders als Harold Blooms restriktiver Literaturbegriff (vgl. S. 83f) setzt Zaiser dabei auf »Kontextualisierungsanstrengungen« (S. 85) der Romanistik, ohne einem »ausufernden Kulturbegriff« (S. 87) zu unterliegen – was über die Zeiten hinweg jegliche produktive Literatur(wissenschaft) von jeher gekennzeichnet habe. Auf eine »Kritische Kulturtheorie« (so der Titel seines Aufsatzes) setzt auch Paul Geyer, indem er Kritik und Kultur als interdependente Prinzipien ausweist: »Der Begriff der Kultur entsteht, wenn die kulturellen Selbstgewißheiten des Menschen schwinden« (S. 13) – und eine kritische Revision benötigen.

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Ausgehend von dem konstruktiven Kritikbegriff Kants plädiert Geyer überzeugend für eine offen-prozessuale Kulturkritik, deren normative Aufladung relativiert werden müsse, um sinnvoll produktiv sein zu können: »Letztlich hängt an der Möglichkeit der wertfreien Betrachtung von Werturteilen die Bedingung der Möglichkeit von Kulturwissenschaften überhaupt.« (S. 9). Dabei stehen nicht zuletzt die traditionsreiche Opposition von Kultur und Zivilisation und deren funktionale Wechselwirkungen im Mittelpunkt der Erörterungen, wobei Geyer ähnlich wie Zaiser der Literatur »eine privilegierte Position« (S. 24) zuspricht. Als »Bewußtseinsgeschichte von innen« (S. 24) sowie als Seismograph kultureller Prozesse sei die Unverzichtbarkeit der Literatur (zumindest in der Vergangenheit und Gegenwart) evident. Geyer entwirft abschließend eine Kulturtypologie, die vier Kategorien von Kulturen vorschlägt, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden können: Mythische, traditionale, moderne Kulturen und postmoderne Zivilisation.

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Weitere Grundlagenreflexionen

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Die übrigen Aufsätze des Theorieteils führen den einen oder anderen Aspekt der Grundlegungen Zaisers und Geyers in die Tiefe bzw. Breite, wobei lediglich der Beitrag von Manfred Hinz »Computerrhetorik – Drei Diskussionsvorschläge« einen völlig neuen thematischen Akzent setzt. In den übrigen »Grundlagenreflexionen« finden sich insgesamt wertvolle Anregungen, allerdings sind die an die Romanistik gerichteten philosophischen (Ralf Konersmann: »Zur Theorie des fait culturel«) und germanistischen (Hans-Georg Pott: »Literaturwissenschaft und Gesellschaftstheorie«) Empfehlungen davon auszunehmen. Konersmann sieht das »Potential« der Philologien »auch fernerhin« in einem hermeneutisch verbrämten »Werkkonzept« (S. 41). Ob vielleicht in der Philosophie »mustergültige Werkanalysen vorl[i]egen, die beispielhaft zeigen, wie das Handwerk der Lektüre zu betreiben ist und welcher Reichtum der Perspektiven und der Denkeinsätze in den Werken bereitliegt« (S. 41), kann und soll hier nicht beurteilt werden. Den »Menschen von vornherein als ein kulturgestaltendes Wesen« (S. 41) wahrzunehmen, um aus dessen »Werke[n]« »Bedeutsamkeit herauszulesen«, kann jedenfalls für eine Romanistik im angehenden 21. Jahrhundert keine methodische Anregung (mehr) liefern.

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Ebenso reserviert ist Potts normativer Systemtheorie entgegenzutreten: »Aber ohne Luhmann geht heutzutage nichts mehr« (S. 46). Pott sieht Luhmanns »universalistische Welttheorie« (S. 46) auf dem gleichen Theoriesockel wie Hegels »Gesamt’werk’«: »Wir haben in der Umwelt der Systeme unseren Platz. Mit Luhmann fühle ich mich dort auch wohler« (S. 52). Dies sei Pott unbenommen, und seinem Fazit mag man immerhin dann wieder zustimmen: »Hier erweist sich Luhmann einmal mehr als Aufklärer: Erst kommt die Erkenntnis[,] und dann kommen die Normen oder die Moral und nicht umgekehrt!« (S. 54).

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Weitere Beiträge erinnern an die Bedeutung Lucien Goldmanns als Vorreiter kultureller Sozialkritik (Jacques Leenhardt: »La littérature au carrefour des sciences humaines«), Richrad Terdiman referiert in »Globalization and Cultural Studies – Conceptualization, Convergence, and Complication« in einem historischen Parcours von Montesquieu bis hin zur »›MacDonaldization‹« (S. 138) die »alternative story about the most critical of our critical practices« (S. 141). Franziska Ehmcke demonstriert in »Anmerkungen zu ›Kultur‹ und ›Kultur-Studien‹ aus japanologischer Sicht«, wie ›hohe‹ und ›niedrige‹ Kunst in fernöstlichen Kulturen immer schon interagiert haben, während Hans Ulrich Seeber in seinem Beitrag »Tendenzen der anglistischen Kulturwissenschaft« nachzeichnet.

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Dem Aufsatz von Wolfgang Klein, »Wissen für das Volk – Zur Geschichte eines Projektes der Aufklärung« ist anzumerken, dass der Autor im Fach romanische Kulturwissenschaft lehrt und forscht. Klein vermag die von ihm gewählten interdisziplinären Paradigmen (u.a. sowjetischer Film, Lyotards La condition postmoderne und die Bildungspolitik Frankreichs im Lichte der Vorgaben Humboldts, Rousseaus und Nietzsches) fachmännisch miteinander zu verknüpfen. Abgerundet wird das theoretische Spektrum durch Winfried Wehles »Literatur und Kultur – Zur Archäologie ihrer Beziehungen«. Wehle nimmt den Untertitel seines Aufsatzes ernst und leistet eine spezifisch literaturwissenschaftliche Genealogie der Krise der Kultur ausgehend vom Buch Genesis über den Turmbau zu Babel und Boccaccio bis hin zu den »Mythen des Alltags« (S. 78) der Moderne.

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Exemplarische Anwendungsbeispiele

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Erwartungsgemäß haben es die Autorinnen und Autoren des praxisorientierten zweiten Teils schwerer als ihre Kollegen im ersten Teil. Denn theoretisch lässt sich über romanistische und kulturwissenschaftliche Allianzen Manches behaupten, was in der Anwendung oftmals auf Schwierigkeiten stoßen muss. Folgende Beiträge finden sich als »Anwendungsbeispiele«:

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Claudia Jünke: »Die Verhandlung kultureller Normen und die Grenzen des Komischen in Molières Theater«

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Andrea Eckert: » ›Mit den Toten sprechen‹ – Zur Bedeutung der Literatur bei Greenblatt und Diderot«

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Patricia Oster: »Lesen als kulturreflexive Praxis in den Romanen Flauberts«

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Kirsten Kramer: »Sichtbarkeit und ›dekadente‹ Ästhetik – Eine kulturwissenschaftliche Annäherung an Huysmans’ A rebours«

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Brigitte Sändig: »Wahrheitsstreben als Kulturleistung oder: Camus’ Rolle für den Osten«

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Claudia Jünke: »Kulturwissenschaft und Erzähltheorie – Zur Kulturkritik in Juan Goytisolos Señas de identidad«

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Monika Schmitz-Emans: »Ästhetik und Kulturwissenschaft bei Michel Butor«

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Michael Schwarze: »Redimensionierung – Für eine kulturkritische Lektüre Italo Calvinos«

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Sophie Boldt: »Die Autobiographie als Erinnerungsgattung und ihre kulturellen und identitässtiftenden Funktionen«

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Susanne Hartwig: »Warum der dritte Akt von Warten auf Godot komisch ist oder Die Funktion der Literatur als ›Attraktor‹ kultureller Tätigkeit«

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Auf ein bemerkenswertes Kuriosum des Sammelbandes sei hier zumindest kurz verwiesen. Während der erste Teil mit Ausnahme einer weiblichen Autorin lauter männlichen Autoren versammelt, verhält es sich im zweiten Teil diametral entgegengesetzt: nur ein männlicher Autor unter lauter Kolleginnen. Ohne allzu gender-forciert argumentieren zu wollen, sind diese einseitigen Gewichtungen (›virile Theorien‹ und ›feminine Praktiken‹) doch auffällig.

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Attraktive Attraktoren

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Unter den praxisversierten Versuchen ist Hartwigs Aufsatz besonders hervorzuheben, da er Mut zum Experiment zeigt und sich um Forschungsinnovation bemüht. Die Möglichkeiten von »Kulturwissenschaften als Metawissenschaft« (S. 333) werden von Hartwig ausgeleuchtet, indem sie Parameter aus den Kognitions- und Naturwissenschaften auf ihre philologische Übertragbarkeit hin überprüft. Was daraus resultiert, ist kein pseudo-szientifischer Ansatz, sondern der Versuch, die komplizierten Texturen des 20. Jahrhunderts, »deren Kennzeichen chaotische Strukturen mit lokalen Ordnungen sind« (S. 341), angemessen(er) beschreibbar zu machen. Indem Theoreme der Chaostheorie auf die Literatur appliziert werden, wird anders als in rigiden Systemtheorien »Selbstorganisation statt Berechenbarkeit« (S. 343) zum Gegenstand der Analyse.

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Vor allem aber gelingt anhand der multidisziplinären Methodik Hartwigs die »Reflexivwerdung der klassischen Philologien: „Sie stellt nicht Fragen an den Text, sondern Fragen an die Fragen an den Text« (S. 343). Auch der im Zentrum stehende Begriff des aus der Synergetik entliehenen Attraktors wird von der Autorin produktiv angewendet. In Komplettierungsdynamiken obliegt dem emergierenden Attraktor die Funktion eines ordnenden Parameters, der alle weiteren Elemente einer Organisation nach einiger Zeit dominiert, weil er über den Gesamtzustand derselben informiert. Diese Prozesshaftigkeit der »Sinn-Attraktoren« lässt sich auch auf die Textanalyse gewinnbringend anwenden, wie Hartwig an mehren Beispielen zeigt.

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Kulturreflexion statt Kulturkritik

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Dass die Romanistik nicht in den Kulturwissenschaften aufgelöst werden kann, sondern lediglich auf der Basis einer jeweils präzise zu definierenden methodischen kulturwissenschaftlichen Erweiterung Erkenntnisfortschritte ›erwirtschaften‹ kann, zeigt ähnlich eindringlich, wenn auch mit anderer Stoßrichtung, der Beitrag von Patricia Oster. Diese plädiert für eine »kulturreflexive Lektüre« (S. 216) von Literatur, die den Wert der Sprache als »privilegierte[m] Beobachtungsposten« (S. 207) kultiviere, was gegenüber den Definitionsversuchen der anderen Beiträge eine terminologische Präzisierung bedeutet. Denn die Fokussierung der Norm-destabilisierenden Funktion der Literatur in Bezug auf die gesellschaftliche Kultur, die der Großteil der Autorinnen im zweiten Teil verfolgt, ist von Brecht (›Entfremdung‹) über Fricke (›Norm und Devianz‹) bis hin zur ›Differenz‹ der Dekonstruktion in der Vergangenheit bereits ausreichend aufgearbeitet worden.

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»Eine rein literaturwissenschaftlich orientierte Lektüre« (Eckert, S. 197) macht längst nicht mehr den Standard der neuesten Philologien aus, ebensowenig wie »erzählerische[.] Verweigerungshaltung« und »Inszenierung von Leerstellen« (Eckert, S. 199) zu den neueren philologischen Entdeckungen gehören, um stellvertretend – und ohne Eckerts Reflexionen zu Greenblatt und Diderot grundsätzlich in Frage stellen zu wollen – zwei Beispiele zu nennen. Übertrieben formuliert erwecken einige der Aufsätze im Praxisteil den Eindruck, als wollten sie nur Beispielfälle für die altbewährte (Geertz, Greenblatt) Einsicht liefern, dass Literatur einen besonders verdichteten Zustand der Kultur beschreibt und darüber hinaus »nicht nur reproduziert, sondern auf besondere Weise bearbeitet, modelliert und modifiziert« (Jünke, S. 273).

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Um es noch einmal zu betonen: kulturkritisch können viele Textsorten sein (Zeitungsartikel, Protestbanner usw. usf.). Eine spezifische Kulturreflexivität hingegen scheint das Privileg der Literatur zu sein, während die Literaturwissenschaft als gesteigerte Reflexivität ihres Mediums mit Sicherheit weiterhin davon profitieren wird, »Fragen an die Fragen an den Text« zu stellen. Und diese Befragung kann, ja sie sollte in Zukunft verstärkt kulturelle Muster und Archive berücksichtigen – um auf diese Weise sowohl Gegenstände als auch Methoden der philologischen Forschung weiter entwickeln zu können.

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Fazit

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Abschließende Ergebnisse können von einem Sammelband zur Kontroverse Philologien und/als Kulturwissenschaft zum jetzigen Zeitpunkt kaum erwartet werden, und so erfüllt eine Publikation wie die hier besprochene durchaus ihren Sinn: sie stellt (Nach)Fragen, will zur Diskussion anregen, Perspektiven eröffnen und einen vorläufigen Stand zum Thema präsentieren. Von daher ist die Mischung von äußerst pointierten Thesen oder eher tastenden Versuchen, zum Teil anregenden und teilweise informativen Beiträgen für das zur Diskussion stehende Thema insgesamt repräsentativ. Um mit einem Zitat Gregory Batesons zu enden, das Hartwig als Motto ihres Aufsatzes gewählt hat: »Alles, was nicht Information, nicht Redundanz, nicht Form und nicht Einschränkung ist – ist Rauschen, die einzig mögliche Quelle neuer Muster«.