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Bewegte Körper - bewegte Texte

  • Mark Emanuel Amtstätter: Beseelte Töne. Die Sprache des Körpers und der Dichtung in Klopstocks Eislaufoden. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 107) Tübingen: Max Niemeyer 2005. VIII, 199 S. Kartoniert. EUR (D) 42,00.
    ISBN: 3-484-35107-1.
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Disposition

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»Ihr Silbenmaß bildete ich auf dem Eise nach meinen Bewegungen«, 1 notiert Klopstock in der Anmerkung zur Ode »Braga« – in einer Anmerkung, die aufgrund der Verschränkung des Dichtens mit dem Eislaufen wie ein Motto über Amtstätters metriktheoretischer Arbeit stehen könnte. In ihrem Zentrum werden Friedrich Gottlieb Klopstocks in der Forschung viel beachtete Oden aus dem Jahre 1771: Braga und Die Kunst Tialfs (Kapitel III) sowie ihre Verbindung mit dem altsächsischen Heliand (Kapitel IV) behandelt. Drei theoretische Kapitel, in denen Amtstätter einerseits eine systematische Perspektive auf die so genannten Eislaufoden einstellt (Kapitel I und V), andererseits Klopstocks Poetik der Bewegung anhand der einschlägigen metriktheoretischen Schriften der 1760er und 1770er Jahre rekonstruiert (Kapitel II), rahmen die minutiösen Analysen, die der Verfasser in den beiden praktischen Kapiteln vorlegt.

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Codierung von Freundschaft

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Den Horizont der Arbeit eröffnet Amtstätter gleich zu Beginn, indem er Klopstocks rhythmische Strukturierung als Codierung von Freundschaft einführt. Dabei folgt er Gerhard Neumann, der die Codierung von Intimität in den Tanz-Szenen des Werther verfolgt. Diese metrische Codierung setzt eine »Semantisierung des Rhythmus« voraus und bezeichnet deshalb keine inhaltliche Codierung, sondern vor allem die »›Verklanglichung‹ des Freundschaftsgefühls« (S. 2), 2 aus der ein »rhythmischer Code« hervorgeht (S. 158). Daraus leitet Amtstätter ein Übersetzungsmodell von Körper und Sprache ab, in dem »der Körper etwas Sprachhaftes, Körper–Sprachliches, eine Fähigkeit des Codierens, als ob er spräche, d.h. etwas Sprachanaloges« vorstellt. Diese »Versprachlichung des Körpers« ist die Voraussetzung dafür, dass sich »die getrennten Systeme des Körpers und der Sprache [...] in rhythmisch-semantische ›patterns‹, sogenannte Wortfüße« (S. 161), vermischen.

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Einerseits kalkuliert dieses Übersetzungsmodell mit der Unübersetzbarkeit, »denn Körper bleibt Körper und Sprache bleibt Sprache« (S. 160 f.). Andererseits überlagern sich beide Systeme in einem starken Autorschaftskonzept, das Amtstätter von Klopstocks Rezeption des Heliand ableitet. Obwohl Amtstätter mit dem Hinweis auf die Transtextualität der Eislaufoden einen Begriff aus Gérard Genettes deskriptiver Typologie der Text-Text-Beziehungen übernimmt, bindet er dennoch das Phänomen der Text-Text-Beziehungen an die Instanz des Autors zurück. »Klopstocks ›Autorzentrik‹«, wie sie schon Klaus Hurlebusch bemerkt hat, verschaltet die Systeme von Körper und Sprache:

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Der Leser Klopstock ist immer gleichzeitig der produzierende Autor, der Eisläufer Klopstock ist der Dichter der Eislaufoden, deren Metrum seinen eigenen Bewegungen folgt. Der Akt des Lesens und des Eislaufens wird zum Akt des Produzierens. (S. 9)
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Poetik der Bewegung

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Ästhetische (Hogarth), tanztheoretische (Noverre), rhetorische (Quintilian) und poetologische Modelle (Breitinger) bestätigen die Systemäquivalenz von Sprache und Körper, auf der Klopstocks »Poetik der Aktion« beziehungsweise der »actio« basiert (S. 9). Mit ihr entwickelt Klopstock in den metriktheoretischen Schriften – vor allem der geplanten Abhandlung vom Sylbenmaaße (1764) und dem dichtungstheoretischen Fragment Vom deutschen Hexameter (1779) – das »Modell einer semantischen Rhythmik«, wobei er eine »rhythmische Aktion als Dualität von Bewegung und Stimme begreift« (S. 31). Die drei metriktheoretischen Zentralbegriffe ›Wortfuß‹, ›Zeitausdruck‹ und ›Tonverhalt‹ rekonstruiert Amtstätter einlässlich und findet dergestalt zu Einsichten, welche die bisherigen Erklärungen an Differenzierung übertreffen:

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Unter diesem Gesichtspunkt wird also zusammenfassend unter ›Zeitausdruck‹ das anteilige Verhältnis von betonten und unbetonten Silben verstanden, nicht nur auf der Ebene der Wortfüße, sondern auch oder sogar in erster Linie bezogen auf die Verszeile und auf das Strophenschema, das hier unter die Lupe genommen wird als reine Silbenfolge von Betonungsqualitäten – ungeachtet der möglichen Untergliederung durch Wortfüße oder Versfüße. Der ›Tonverhalt‹ beruht dagegen gerade auf dieser Untergliederung und geht von der rhythmischen Bewegung ›in‹ den Wortfüßen aus, von der jeweiligen Struktur der Betonungsverhältnisse. (S. 42)
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Mit dieser Definition richtet sich Amtstätter vor allem entschieden gegen Menninghaus’ einflussreiche These, Klopstocks Metrik kalkuliere mit »der transhermeneutischen Bewegung der Signifikanten«, weil poetische Darstellung »in einem transsemantischen Sinn selbst Bewegung ›ist‹«. 3 Amtstätter, der im Gegensatz zu Menninghaus den Rhythmus nicht von der Stimme löst, hält dem entgegen: »Es findet zwar durchaus eine Aufwertung und [...] auch Autonomisierung des Klanglichen, d.h. des Rhythmischen, statt dieses rückt zentral in den Vordergrund, aber nie losgelöst von Bedeutung oder Sinn« (S. 49). Vor diesem Hintergrund analysiert Amtstätter sowohl die an das musikalische Notationssystem angelehnten Rhythmisierungen der Triumphgesänge im Messias als auch die Vertonungen der Oden, von wo aus er die These einer leitmotivischen, von der Wortbedeutung entkoppelten Verwendung des Rhythmus entwickelt – die These der »›beseelte[n] Töne[]‹ im eigentlichen Sinne« (S. 65).

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Wortfußrhythmik

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Ausführlich analysiert Amtstätter die Wortfußrhythmik, die diesem »Entwurf einer semantischen Metrik« zugrunde liegt (S. 67). In den Oden Braga und Die Kunst Tialfs inszeniert Klopstock die »Entstehung von Dichtung aus der Bewegung des Eislaufs« (S. 110), so dass Handlung, Personal und metrische Codierung selbstreflexiv aufeinander bezogen sind. Wenn man nicht wie Amtstätter von einer »komplexe[n], ganzheitliche[n] Verbindung mehrerer Ebenen« sprechen möchte (S. 93), so könnte man statt dessen sagen, dass die Oden regelrechte ›Schreib-Szenen‹ figurieren – Szenen, in denen Klopstock die Reflexion auf Sprachlichkeit, Instrumentalität und Körperlichkeit poetischen Schreibens auf das Eis verlegt. 4 Die den vielen analysierten Details übergeordnete Perspektive auf diese Szenen zeigt eine Freisetzung der Wortfüße, wie sie sich vor allem von den »rhetorische[n] Einheiten« der freirhythmischen Hymnen aus den 1750er Jahren unterscheidet. 5 In den 1760er Jahren ersetzt Klopstock die rhetorischen Kola durch metrische.

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Diese Autonomisierung des Rhythmus verfolgt Amtstätter in allen metrischen Nuancen vor dem Hintergrund folgender These:

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Liegt also der Ode ›Braga‹ ein Strophenschema zugrunde, dem jede Strophe verbindlich zu folgen hat, so ist Variation hier nur hinsichtlich der jeweils mehr oder weniger differierenden Wortfußgliederung dieses Schemas, d.h. hinsichtlich des ›Tonverhalts‹, zu erwarten und der ›Zeitausdruck‹ festgelegt. Dagegen ist der Ode ›Die Kunst Tialfs‹ kein Strophenschema vorgegeben, sie ist in ihrer rhythmischen Gestaltung durch Wortfüße, d.h. in der Verfügbarkeit über den Tonverhalt, in dieser Hinsicht völlig frei, dadurch auch frei in ihrem Zeitausdruck. (S. 89)
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So erachtet Amtstätter den »Leitrhythmus« –»die psychologische Ausdeutung einer Situation mittels eines Leitmotivs«, wie es in der Musik vor allem Wagner einsetzen wird –»als rhythmisch-klangliches, semantisch selbständiges Ereignis« (S. 110).

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Heliand: Rezeption und Produktion

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Beide Oden simulieren –»Dichtung in der Dichtung« –»poetische[] Muster[]«, die auf die so genannten mittelalterlichen Bardenlieder verweisen. Amtstätter verfolgt die paratextuellen Hinweise auf den altsächsischen Heliand und rekonstruiert die metrischen Spuren, die Klopstocks »schöpferisch-autorzentrische Lektüre« in den Eislaufoden hinterlassen hat (S. 110). Diese Lektüre basiert auf einer produktiven »Fehlinterpretation des altsächsischen Verses« (S. 125), will heißen: Sie basiert auf der »polymetrische[n] Interpretation« der Stabreimverse (S. 127). Dadurch konnte der Heliand »als theoretische Grundlage sowohl von Klopstocks Hexameter-Verständnis (und damit für sein Lebenswerk)«, wie im Fragment Vom deutschen Hexameter, »als auch für die Bardiete und für die nach eigenen Schemata gestalteten Oden bzw. für die freirhythmischen Oden dienen« (S. 132). Theorie wie Praxis basieren nämlich auf einer »Theorie der Polymetrie« (S. 131), so dass die Heliand-Rezeption unmittelbar sowohl in eine poetologische als auch in eine poetische Produktion mündet. Obwohl Klostock selbst keineswegs zu »einer schlüssigen metrischen Gesamtinterpretation des Heliand« vorgedrungen ist (S. 145), gelingt es Amtstätter, auf dieser Grundlage die Ähnlichkeiten zu beschreiben, welche die altsächsischen Schemata mit der Wortfußrhythmik der Eislaufoden haben.

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Bilanz

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Wenn man Amtstätters Arbeit als konservativ bezeichnen kann, so mit dem ganzen Respekt, den dieses Attribut auszudrücken vermag. Amtstätter unterzieht sich den Strapazen einer ebenso akribischen wie peniblen Lektüre. Das beginnt bereits mit der – durchaus unbequemen – Praxis, Klopstocks Erstausgaben zu zitieren, in denen das Alphabet an die Grenzen einer Lautschrift getrieben wird. Diese Gründlichkeit geht mit einem bemerkenswerten philologischen Wissen über die historische Metrik im Allgemeinen und Klopstocks Rhythmik im Besonderen einher. Amtstätter nimmt sich nicht nur die Zeit und den Raum, die Rhythmen sorgfältig und genau zu beschreiben, sondern er veranschaulicht seine abstrakte Argumentation immer wieder durch konkrete Beispiele (dazu gehört ein umfassender editorischer Anhang inklusive metrischer Schemata). Doch nicht nur in philologischer, sondern auch in stilistischer Hinsicht ist die Arbeit tadellos. Umsichtig, klar und sicher präsentiert Amtstätter seine Argumente, mit denen er scheinbar mühelos seinem durchaus sperrigen Gegenstand Kontur verleiht. Dadurch gelingt es ihm, ein heute sicherlich auch in Fachkreisen nicht mehr weit verbreitetes Wissen so zu aktualisieren, dass es seinen hermetischen Charakter verliert. Eine solche Darstellung setzt nicht nur Kompetenz, sondern auch den Mut der philologischen Überzeugung voraus, sich gegen den kulturwissenschaftlichen, etwas ungeduldigen Zeitgeist zu stellen, der das philologische Detail nicht immer würdigt.

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Wenn man Amtstätters Arbeit als konservativ bezeichnen muss, so aber auch mit dem ganzen Vorbehalt, den dieses Attribut ebenfalls ausdrückt. Dass sich seit einigen Jahren eine konservative Wende innerhalb der Kulturwissenschaften vollzieht, liegt auf der Hand. Darin, dass mit dieser Wende Modelle aktualisiert werden, die lange Jahre unter das Verdikt der Dekonstruktion gefallen sind, liegt eine Chance, die Amtstätter nicht nutzt. Dies führt dazu, dass er in seinen systematischen Kapiteln, in denen er die Codierung von Freundschaft profiliert, solche Modelle beziehungsweise deren zentrale Begriffe ohne theoretische Revisionen wieder belebt: »Im Verlauf der Untersuchung erwies sich«, fasst Amtstätter diese systematischen Einstellungen der Arbeit zusammen,

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[...] dass die genannte Poetik der actio im Werk Klopstocks nicht nur als dichtungstheoretische Konzeption zu gelten hat, sondern als übergreifendes Konzept ganzheitlicher Selbst-Erfahrung und ‑Äußerung der späten 1760er Jahre und darüber hinaus zu sehen ist; dass gewissermaßen die Verbindung von Transtextualität und Autorzentrik begründet ist in die Einheit von Rezeption und Produktion, von eigener physischer wie psychischer Bewegung, der daraus resultierenden Bewegung des Textes und der erwirkten Bewegung des Hörers (bzw. still hörenden Lesers); ja, dass sie fast schon zu betrachten ist als poetisches Lebenskonzept, das – die Frühromantik antizipierend – eine Poetisierung des Lebens als Erleben und dessen Heiligung im Gedicht als organische Verlebendigung der Poesie feiert. (S. 153)
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Das Tableau arrangiert all diejenigen Begriffe, die Amtstätter wie ungedeckte Münzen in Umlauf gebracht hat: Wenn diese Begriffe tatsächlich konzeptuell verwendet würden und nicht der in literaturtheoretischer Hinsicht unhaltbaren Vorstellung folgen würden, ein eislaufbegeisterter Dichter habe seine Erfahrungen unmittelbar in solche Eislaufoden übersetzt, deren Rhythmik das »Körpererlebnis der Bewegung in das Spracherlebnis der Wortbewegung überträgt« (S. 155), dann wäre zu überprüfen gewesen: Was ist Erfahrung? Was Erlebnis? Was Ganzheitlichkeit? Was Transtextualität? Was ein Autor? Welches Modell regelt die Schnittstellen des Körperlichen: Autor – Ereignis – Text? Welches medientheoretische Modell vermittelt das Hören mit dem stillen Hören? Welches materialästhetische Modell verfolgt die Schreibmetaphorik, die sich mit den das Eis spurenden Schlittschuhen verbindet? – Kurzum: Wie ist der gesamte Komplex der »Übersetzungsarbeit« (S. 155) von Text und Körper systematisch abgesichert? Doch das sind Amtstätters Sorgen offenbar nicht gewesen – an und für sich ja auch kein Problem, würde der Cluster an derart vorausgesetzten, aber leider doch voraussetzungsreichen Begriffen nicht dazu ermuntern, wider den Stachel zu löken. Insgesamt erreichen Amtstätters systematische Erwägungen also an keiner Stelle das Niveau seiner metrischen Analysen, was zur Folge hat, dass die Klopstock-Forschung zwar um eine gelehrte Arbeit reicher geworden ist, Textanalyse und Texttheorie in dieser Arbeit indes unversöhnt nebeneinander stehen und daher alles andere als ein »Ganzheits–Erlebnis« (S. 136) vermitteln.



Anmerkungen

Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke, I. Oden, Leipzig 1798 (Göschen-Ausgabe), S. 328.   zurück
Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf den rezensierten Titel. Dort kursivierte Begriffe oder Hervorhebungen sind in einfache, kursivierte Titel in doppelte Anführungszeichen transkribiert.   zurück
Winfried Menninghaus: »Darstellung«. Friedrich Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas, in: Was heißt »Darstellen«?, hrsg. v. Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt a.M., 1994, S. 205 – 226, hier S. 213.   zurück
Zum Begriff der Schreibszene im Spannungsfeld von Körper und Text vgl. Martin Stingelin: Schreiben. Einleitung, in: Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, hrsg. von Martin Stingelin, München 2004, S. 7 – 21.   zurück
Katrin Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, Stuttgart u. Weimar 2000, S. 94.   zurück