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Einklammerung und Transformation

Eine intellektuelle Biografie über Michel Foucault

  • Ulrich Johannes Schneider: Michel Foucault. Darmstadt: Primus 2004. 264 S. Gebunden. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 3-89678-517-6.
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Ulrich Johannes Schneider, in der Diskursforschung über seine Aufsätze zu Foucault bekannt und seines Zeichens apl. Prof. am Institut für Philosophie der Universität Leipzig und Leiter der Abteilung Forschungsprojekte an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, hat mit seiner neuesten Publikation zum ersten Mal eine längere Studie zu Foucault vorgelegt. Seine Einführung in das Denken Michel Foucaults liest sich mit ausgesprochenem Gewinn und großem Vergnügen. Gerichtet ist die Monografie in erster Linie an Leser/innen, die sich ohne große Vorkenntnisse dem Denken Foucaults annähern, gleichwohl ist sie ein Surplus auch für jene, die sich seit längerem mit Foucault beschäftigen. Hervorzuheben ist zunächst die vorsichtige und genaue Lektüre, die in hohem Maße davon profitiert, dass Schneider sich – im Gegensatz zu vielen anderen auf dem Markt befindlichen Sekundärpublikationen zu Foucault – nicht auf die deutschen Übersetzungen verlässt, sondern da, wo es aufgrund von Aussparungen und Sinnentstellungen nötig ist, auf die französischen Originale zurückgreift.

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Eine »intellektuelle Biografie« (Vorwort) über jenen Denker zu schreiben, der wie kaum ein anderer die Kategorien von Werk und Autor als Konstruktionen eines Diskurses entlarvte und der sich stetig und immer wieder dagegen verwahrte, auf sein früheres Sprechen festgelegt zu werden, ist eine paradoxe Angelegenheit: Entweder bleibt man hinter dem theoretischen Anspruch desjenigen, den man schreibend erfassen möchte zurück, oder man geht das Wagnis ein, eine Werkbiografie ohne Werk und Autor zu verfassen. Schneider hingegen schafft es, in seiner Monografie einen überzeugenden Mittelweg einzuschlagen. Indem er die Offenheit des Denkens Foucaults an den Beginn seiner »Lektüren« (Vorwort) stellt, eröffnet er seinem eigenen Schreiben die Möglichkeit, den diskontinuierlichen Denkbewegungen Foucaults nachzugehen.

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Leben und Werk

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Schneiders Monografie ist eine Werkbiografie in dem Sinne, dass die Werkchronologie als Zeugnis einer Denkbewegung durch die Zeit die Abfolge der insgesamt 13 Kapitel vorgibt: Über die frühen Schriften Wahnsinn und Gesellschaft und Die Geburt der Klinik (Kapitel 2 und 3) geht der Fokus zu den systematisierenden Schriften Die Ordnung der Dinge, Archäologie des Wissens und Die Ordnung des Diskurses (Kapitel 4 bis 6), um nach Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen (Kapitel 7 und 8) zwei thematische Exkurse zu Literatur und Kritik und Macht und Individuum (Kapitel 9 und 10) zu integrieren. Auf den Blick zurück zu Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich (Kapitel 11) folgen anschließend zwei Kapitel, die die Aufmerksamkeit von den Schriften Foucaults auf die methodische Reflexion des philosophischen Denkens (»Philosophie als Denken und Übung«, Kapitel 12) sowie auf seine bisherige Rezeption und gegenwärtige Anschlüsse (»Eine Philosophie der Transformation«, Kapitel 13) lenken. Ein Verzeichnis der angeführten Schriften, das mehr als dreihundert Einzelaufsätze Foucaults nennt, und ein Namenregister komplettieren die Publikation. Hier allerdings wünscht man sich, das Buch möge bei der Fülle der behandelten und immer wieder neu miteinander vernetzten Themen zusätzlich einen thematischen Index bereitstellen.

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Den jeder Werkbiografie inhärenten biografischen Bezug löst Schneider durch ein einleitendes Kapitel zu »Autor und Werk« (Kapitel 1) ein, dass ein – allerdings knappes – Unterkapitel zur Person Foucaults bereit stellt (S. 14–17), welches sich im Wesentlichen auf die Biografien von Eribon und Macey stützt. 1

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Die quantitative Gewichtung macht vor allem eins deutlich: Schneider geht es nicht darum, das Werk Foucaults aus dessen Biografie zu entfalten, wie dies James Miller vor einigen Jahren mit zweifelhaftem Ergebnis versucht hat. 2 Schneiders Monografie ist vielmehr als Komplementärschrift zu Didier Eribons lebensweltlicher Biografie Foucaults angelegt. 3 Während jener das philosophische Denken Foucaults in dessen Lebensgeschichte, der das hauptsächliche Augenmerk gilt, einbettet, ist bei Schneider das Biografische auf die intellektuellen Beziehungen des Philosophen Foucault zu seinen Zeitgenossen komprimiert. Foucault wird im Blick Schneiders zu einem Denker, der sich in seinem Denken und Schreiben neu entwirft und dabei wechselnde Gestalt annimmt. Dieser Fokus kommt Foucaults Selbstbeschreibung in Die Ordnung des Diskurses sehr nahe, in der Foucault sich selber als eine sich nur momenthaft konstituierende Stimme im unendlichen Murmeln des Diskurses imaginierte. 4 Schneider grenzt sich damit ab von der

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durchaus problematischen Forderung, einen mit historischen Material arbeitenden Denker systematisch in dem Sinne zu definieren, dass er eine Sprache und Terminologie durchhalten müsse, um sie dann gewissermaßen auf verschiedene Arbeitsbereiche und Gegenstände anzuwenden. (S. 21)
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Die theoretische, begriffliche und methodische Inkonsequenz, die in der Forschung immer wieder beklagt wird, gereicht Foucault bei Schneider zum Vorteil. Zwei sich ergänzende Denkfiguren, die er aus dem Denken Foucaults ableitet, dienen dabei als Leitmotive: die Einklammerung und die Transformation.

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Einklammerung

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Eine Fotografie Foucaults, in der dieser gedankenverloren sein Gesicht in die Hände stützt, steht als emblematischer Ausdruck der Einklammerung des Denkens Foucaults am Anfang der Darstellung:

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Es gibt Stützen des Denkens, Klammern an seiner Seite, die man thematisieren muss, wenn es um die Anerkennung der Wirklichkeit geht. […] Foucault war dort am anregendsten, wo er in der Anstrengung seiner großen Werke darauf hinarbeitet, ein Dilemma – oder Paradox, wie er es zu nennen liebte – aufzuweisen: dass nämlich das Denken seine Grenzen und Klammern mitdenkt, und damit seine eigene Geschichte zum Motor der Reflexion werden lässt. (S. 27)
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Als Leitfigur des eigenen Schreibens fordert die Ein- und Umklammerung, die Eigenständigkeit des Denkens Foucaults herauszustellen, seine Eingebundenheit in die philosophischen Auseinandersetzungen seiner Zeit zugleich jedoch mitzudenken. Diesen Anspruch löst Schneider, indem er mit rhythmisch in den Text eingewobenen Passagen zu Foucaults Zeitgenossen (angefangen bei Derrida, über Jaspers, Sartre, Merleau-Ponty, Dumézil, Marcuse, Barthes, Bourdieu, Elias, Baudrillard bis hin zu Duerr, Habermas, Honneth und Jaeger) dessen Denken mit dem seiner Zeit verflicht, dabei – quasi nebenbei – in zahlreiche weitere Denkgebäude einführt und ein mit aller Vorsicht skizziertes intellektuelles Panorama der französischen und deutschen Philosophie von der Nachkriegszeit bis in die 1980er zeichnet.

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Unter Verzicht auf vorschnelle Einordnungen umreißen diese Ausflüge in benachbarte und nach dem Prinzip der Abgrenzung zusammengestellte Denkräume die Auseinandersetzungen Foucaults mit ›dem‹ Strukturalismus (Dumézil), der Existenzialphilosophie (Sartre, Merleau-Ponty) und der Phänomenologie (Jaspers), mit strukturalistischen und post-strukturalistischen Positionen zur Historiografie (Marcuse), zur Soziologie (Bourdieu) und zur Kulturanthropologie (Elias), mit der Frage von Subjektermächtigung (Habermas, Honneth) und Subjektentmächtigung (Derrida) u. a. m. in präzisen Strichen. 5

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Transformation

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Eben jenen Fixierungen, die mit dem Zwang zu disziplinärer und / oder methodischer Positionierung einhergingen, entzog sich Foucault, indem er Wandelbarkeit für sich reklamierte. Zusammengehalten werden seine Schriften – und hier setzt Schneider einen neuen Akzent in der Forschung zur Diskurstheorie wie zum Denken Foucaults – nicht durch ein fixiertes methodisches Verfahren oder durch bestimmte Gegenstände, nicht einmal durch leitmotivische Fragen, die in verändertem Gewand immer wiederkehren, 6 sondern durch eine »Bewegung der Transformation« (S. 11). Diese sei nicht als Ausdruck einer Unsicherheit zu lesen (vgl. S. 225), sie erschaffe auch kein »verwirrendes Labyrinth«, in dem der Autor »umherirrt und sich verliert«, wie Fink-Eitel es formuliert, 7 sondern sei als ein Verfahren zu lesen, das Denkordnungen, Zugriffe, Themen und Gegenstände immer wieder neu miteinander in Beziehung setze, um sie in wechselnde Formationen zu stellen:

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Diese transformierende Bewegung des Denkens ist an der Oberfläche des Werks als Wechsel der Methoden und Kategorien erkennbar, im Inneren der Bücher zeigt sie sich als Vertiefung und Radikalisierung von Fragestellungen, die in das philosophische Denken umso tiefer hineinführen, je stärker sie aus der Philosophie herauszuführen scheinen. (S. 11)
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Schneider, so viel wird deutlich, liest Foucault als Philosophen, 8 wenn auch als einen Philosophen mit einer »komplizierten Neugier« (S. 206), der die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen des Denkens selber immer wieder neu und anders versuchte auszuloten. Dass Foucault dabei sein Denken maskiere (vgl. S. 215), indem er es als ein an historische Gegenstände gebundenes Bemühen ausgab, sei eine Strategie der Verweigerung einer von außen herangetragenen intellektuellen Identität (vgl. S. 216–217).

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Die beeindruckende Leistung von Schneiders Monografie liegt darin, das hinter der Strategie der Maskerade liegende Begehren um Irritabilität und Wandelbarkeit ernst zu nehmen und dennoch eine Gesamtlektüre der Schriften Foucaults vorzulegen, die zeigt, dass erst die konstante Transformation es Foucault erlaubte, Bekanntes in jenen Bezügen zu denken, für die sein Name inzwischen steht.



Anmerkungen

Vgl. Didier Eribon: Michel Foucault. Eine Biografie, 2. Aufl., Frankfurt / M. 2003; David Maceys: The Lives of Michel Foucault, London 1993. Auch die Kurzbiografie von Parvu Mazumdar, die Schneider allerdings nicht einbezieht, ist als biografische Einführung sehr lesbar. Vgl. Pravu Mazumdar (Hg): Foucault (Philosophie jetzt!, hrsg. v. Peter Sloterdijk), München 2001, S. 15–82.   zurück
Vgl. James Miller: Die Leidenschaften des Michel Foucault. Eine Biografie, Köln 1995.   zurück
Vgl. Eribon (wie Anm. 1).   zurück
Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, erweiterte Ausgabe, 9. Aufl., Frankfurt / M. 2003, S. 10.   zurück
Über die Einordnung der Autoren in die Kontexte der jeweiligen Kapitel kann man sicherlich streiten, denn nicht in allen Fällen ist der Fokus, mit dem Schneider sich den Konzepten und Autoren nähert, der auf den ersten Blick nahe liegendste. Auch werden ohne Ausnahme nur männliche Denker behandelt. Offensichtlich spielten Simone de Beauvoir, Hannah Arendt, Julie Kristeva, Helen Cixous, Luce Irigaray u. a. keine Rolle, entweder für Foucault oder für Schneider.   zurück
M.E. wird man der Leistung Schneiders nicht gerecht, wenn man – wie in einigen Rezensionen zu seinem Buch zu lesen war – in der Frage der Konstituierung des Subjekts den ›roten Faden‹ vermutet, der das Werk Foucaults zusammenhalte. Schneider verwahrt sich vielmehr gegen solche thematisch still stellenden Lesarten Foucaults. Nicht ohne Grund ist das letzte Kapitel des Buches mit »Eine Philosophie der Transformation« übertitelt und betont so nochmals die transformierende Bewegung als das entscheidende Charakteristikum von Foucaults Denken (vgl. Schneider: Michel Foucault, S. 219–235, insbes. S. 233).   zurück
Vgl. Hinrich Fink-Eitel: Michel Foucault zur Einführung, 3. durchges. Aufl., Hamburg 1997, S. 10.   zurück
Und grenzt ihn damit explizit von der disziplinären Zuordnung als Historiker ab:
Foucaults Nobilitierung als Historiker kann dennoch nicht so weit gehen, die philosophische Motivation seiner Forschung zu verkennen. Foucault ist ein Historiker […], wenn man nur das Verhältnis von Quellenstudium und darüber hinaus führende Reflexionen zum Maßstab nimmt, er ist einigermaßen unvergleichlich, wenn man die starke Beziehung auf Problematiken und Thesen berücksichtigt […].(Schneider: Michel Foucault, S. 212).
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