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Goethe und die 'zwei Kulturen'

  • Aeka Ishihara: Goethes Buch der Natur. Ein Beispiel der Rezeption naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden in der Literatur seiner Zeit. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. 237 S. Kartoniert. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 3-8260-2994-1.
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Die Kluft zwischen den von Charles Percy Snow so benannten ›zwei Kulturen‹, 1 Natur- und Geisteswissenschaften, ist in den letzten Jahrzehnten verstärkt ins Bewußtsein der Öffentlichkeit getreten; damit haben auch die Anfänge dieses Dualismus im 18. und 19. Jahrhundert für die Forschung an Interesse gewonnen. Eine so vielseitige Persönlichkeit wie Goethe, der sich als Dichter, Naturforscher und Politiker betätigte und sich dezidiert gegen eine Trennung von Wissenschaft und Dichtung aussprach, 2 eignet sich unter diesen Voraussetzungen wohl besonders zum Gegenstand einer kulturwissenschaftlich akzentuierten Studie.

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Konzeption und Aufbau

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Ausgehend von der neuplatonischen Metapher vom ›Buch der Natur‹, dessen göttliche Chiffrenschrift zu entziffern ist und das als Vorbild dichterischen Schaffens dienen kann, untersucht die japanische Literaturwissenschaftlerin Aeka Ishihara Goethes Beziehung zur zeitgenössischen Naturforschung und deren Reflexe in seinem poetischen Werk. Dabei soll nicht nur der Verwendung von Motiven aus verschiedenen Bereichen der Natur, sondern auch den poetischen Zügen in Goethes naturwissenschaftlichen Texten nachgegangen und darüber hinaus gezeigt werden, daß und wie seine Auffassung der Natur und der mit ihr befaßten Wissenschaften in seinen dichterischen Texten als »konstitutive Elemente« präsent sind (S. 11).

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Die Verfasserin knüpft hierbei an ihre Dissertation Makarie und das Weltall. Astronomie in Goethes ›Wanderjahren‹ 3 an, die »ein aus den Quellen erarbeitetes Bild der Beziehung zwischen Goethe und den astronomischen Entdeckungen im 18. Jahrhundert« entwirft (ebd.). Bei der Vorbereitung dieser früheren Publikation überzeugte sich die Autorin davon, »dass es erforderlich ist, die Literatur der Goethezeit im Hinblick auf die damalige Entwicklung der Naturwissenschaft grundsätzlicher und intensiver zu erforschen« (S. 11 f.). Sie bezieht daher weitere Bereiche der Naturforschung in ihre Untersuchung ein, vergleicht Goethes Texte mit denen anderer zeitgenössischer Schriftsteller und rekonstruiert so »eine naturwissenschaftlich-literarische Landschaft in seinem Umkreis« (S. 11). Die sechs Kapitel der Arbeit geben jeweils einen knappen Überblick über Goethes Beschäftigung mit den Disziplinen Geologie (S. 19–46), Astronomie (S. 47–73), Physik (S. 74–104), Chemie (S. 105–147), Botanik (S. 148–187) und Zoologie (S. 188–217) und ordnen sie in einen wissenschafts-, kultur- und literaturgeschichtlichen Kontext ein.

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Naturforschung um 1800 und ihr Einfluß
auf das zeitgenössische Weltbild

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In einer Zeit wachsender Beanspruchung durch dienstliche Pflichten und intensiver Arbeit an mehreren dichterischen Projekten erwähnt Goethe in einem Brief an Frau von Stein vom 12. Dezember 1785 seine jüngsten Streifzüge auf dem Gebiet der Anatomie und der Botanik und schließt seinen Bericht mit dem bedauernden Ausruf: »Wer doch nur einen aparten Kopf für die Wissenschafften hätte« (WA IV 7, S. 140). Außer dem notorischen, vielfach beklagten Zeitmangel des Vielbeschäftigten dürfte dieser Stoßseufzer auch dem Bewußtsein entspringen, in einer Zeit zu leben, in der in nahezu allen Bereichen der Naturforschung geradezu atemberaubende Fortschritte erzielt werden und tiefgreifende Umwälzungen stattfinden:

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In der Geologie bzw. Geognosie löste die vulkanistische Erklärung der Erdentstehung und -formung die neptunistische ab, und die Theorie des Aktualismus, die davon ausgeht, daß zu allen Zeiten dieselben geologischen Gesetzmäßigkeiten wirken, kollidierte mit der Katastrophentheorie, die erdgeschichtliche Veränderungen auf umwälzende Ereignisse wie die biblische Sintflut zurückführt. Die Erfindung und technische Verbesserung des Spiegelteleskops erlaubte zahlreiche astronomische Entdeckungen – die spektakulärste unter ihnen war wohl die des Planeten Uranus durch Friedrich Wilhelm Herschel im Jahr 1781 –, die den ›naiven‹ Glauben an die Einmaligkeit der Erde und an die Einzigartigkeit des Menschen erschütterten. Physikalische Phänomene wie Elektrizität, Feuer, Wärme, Licht und Farben wurden zunehmend erforscht und für den Menschen nutzbar gemacht oder doch, wie die Gewitterelektrizität, ›gebändigt‹, so daß insgesamt von einer »Entzauberung« der Natur gesprochen werden kann, deren Beherrschung zum Wohl der Menschheit in greifbare Nähe zu rücken schien. Die Chemie, die bis dahin als praktische Hilfswissenschaft für Medizin und Pharmazie betrachtet worden war, etablierte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert als eigenständige Disziplin; geradezu revolutionäre Bedeutung kam der Entdeckung des Sauerstoffs durch Priestley im Jahr 1774 und Lavoisiers Erklärung von Verbrennungsvorgängen mit Hilfe seiner Oxydationstheorie zu; er begründete damit eine ›neue‹, ›antiphlogistische‹ Chemie. Botanik und Zoologie beschäftigten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Beschreibung und Systematisierung von Flora und Fauna. Carl von Linné klassifizierte die Pflanzenwelt nach dem von ihm entwickelten Sexualsystem und führte die heute noch verwendete binäre Nomenklatur ein. In der Zoologie galt das besondere Interesse der Frage nach der Stellung des Menschen innerhalb der Schöpfungsordnung und der Entstehung der Arten bzw. ihrer Abgrenzung voneinander.

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Goethe und …

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… die Geologie

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Goethes Auseinandersetzung mit geologischen bzw. geognostischen Fragen stand zunächst in Zusammenhang mit seinen dienstlichen Aufgaben als Leiter der Bergbaukommission in Sachsen-Weimar-Eisenach, die den Kupfer- und Silberbergbau in Ilmenau wieder in Gang bringen und damit die Wirtschaft des Herzogtums fördern sollte. Doch erstreckte sich sein Interesse nicht allein auf praktisch verwertbares bergbautechnisches Wissen, sondern er beschäftigte sich eingehend mit geologischen, mineralogischen und paläontologischen Themen, zu denen er nahezu 100 Abhandlungen, Skizzen und Entwürfe hinterließ, und legte eine Sammlung von rund 18.000 Mineralien und Gesteinen an.

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Obwohl der Neptunismus schon bald nach dem Tod seines Hauptvertreters, des Freiberger Mineralogen Abraham Gottlob Werner, als überholt galt, hielt Goethe beharrlich an der Theorie der Erdentstehung durch urzeitliche Wassermassen fest, da sie seinem ›gegenständlichen‹, 4 einem Konzept stetiger harmonischer Entwicklung verpflichteten Denken entsprach. In seinen Dichtungen griff er wiederholt auf die Motive des Erdbebens und des Vulkanausbruchs zurück, die in der zeitgenössischen Literatur häufig als politische Metaphern fungieren; so führt er im II. Akt des Faust II den Gott Seismos als Personifikation des Revolutionären, die Grundfesten des Bestehenden Erschütternden ein (Vers 7495–7950). Bezeichnenderweise und nicht ohne hintersinnigen Witz läßt Goethe, dem im politisch-gesellschaftlichen Bereich nicht weniger als in den Wissenschaften alles Gewaltsam-Umwälzende »in der Seele zuwider« war, 5 in einer 1830/31 kurz nach der Julirevolution entstandenen Passage von Faust II Mephisto im Gespräch mit Faust als dezidierten Vulkanisten auftreten (IV. Akt, Vers 10075–10123).

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Einen selbständigen Beitrag zur geologischen Diskussion leistet Goethe in der sogenannten Bergfestszene von Wilhelm Meisters Wanderjahren (Buch II, 9. Kapitel), in der er im Kontrast zu den lärmenden Anhängern der neptunistischen, vulkanistischen und aerolithischen Theorien eine kleine Gruppe von Festgästen, die sich im Trubel des Parteienstreits einen kühlen Kopf bewahrt, die interessante Hypothese einer Formung der Erdkruste durch eiszeitliche Gletscher aufstellen läßt. Ohne von Goethes Text zu wissen, gelangten die Geologen Jean de Charpentier und Louis Agassiz in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts bei Forschungen in den Alpen zu Resultaten, die Goethes literarischer Spekulation Recht gaben.

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… die Astronomie

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Trotz seiner Abneigung gegen die Mathematik und mathematische Verfahren beschäftigte sich Goethe ausgiebig und ausdauernd mit Astronomie. Wichtige Anstöße für seine Aktivitäten in diesem Bereich gingen von Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha und Altenburg aus, der zum Teil unter Beteiligung seiner Gemahlin die Himmelskunde mit wahrer Begeisterung betrieb und 1787 eine Sternwarte einrichtete. Der Hofastronom Franz Xaver von Zach und die Herzogin Marie Charlotte Amalie dienten als Vorbilder für die Figuren der Makarie und des mit ihr befreundeten Astronomen in Wilhelm Meisters Wanderjahren. Seit etwa 1790 studierte Goethe die aktuelle Fachliteratur, stellte mit Hilfe des Teleskops Mondbeobachtungen an, verfolgte aufmerksam das Erscheinen des großen Kometen von 1811 und beschäftigte sich mit der Frage nach Ursprung und Beschaffenheit der Meteoriten, für die damals noch keine schlüssige Erklärung existierte; Goethe vermutete einen Zusammenhang zwischen ihrem Auftreten und dem Barometerstand.

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Auch den naturwissenschaftlich interessierten Herzog Carl August scheint die Begeisterung seines Gothaer Verwandten für die Astronomie angesteckt zu haben; 1791 ließ er in Weimar für Himmelsbeobachtungen das sogenannte Meridianhaus und 1813 in Jena eine Sternwarte errichten. Mit der Übernahme der Oberaufsicht über diese Einrichtung wurde Goethes Beschäftigung mit der Astronomie Teil seiner amtlichen Tätigkeit; er veranlaßte, daß in der Jenaer Sternwarte und an anderen Beobachtungspunkten systematische meteorologische Messungen vorgenommen und Aufzeichnungen zum Witterungsverlauf geführt wurden.

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In seinen Dichtungen verarbeitet Goethe nicht selten astronomische Motive: Der Komet, der seit der Antike als unglückliches Vorzeichen gilt, begegnet im Götz und in Des Epimenides Erwachen; Faust versammelt als wahrhaft kosmisches Drama eine Vielzahl astronomischer Motive; in den Wanderjahren und in der Novelle äußert Goethe seine Skepsis gegenüber dem Fernrohr in zweifacher Hinsicht: Er erkennt, daß der Einsatz optischer Instrumente das subjektive Moment bei der Beobachtung keineswegs ausschließt, und er weist darauf hin, daß technische Hilfsmittel tendenziell den ›Späher-‹ oder gar ›feindseligen Blick‹ (WA I 3, S. 155) begünstigen, der den Beobachteten zum bloßen Objekt herabsetzt.

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… die Physik

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Im gleichen Maß, wie die Angst vor den Naturgewalten eingedämmt wurde, traten die ästhetischen Qualitäten der Natur ins Bewußtsein des zeitgenössischen Betrachters, wie die Verfasserin bei der Analyse von Barthold Hinrich Brockes’ und Klopstocks Gewittergedichten und anhand der Gewitterszene von Goethes Werther deutlich macht. Die Prometheus-Figur in Goethes gleichnamiger Hymne kann als Prototyp eines neuen, von der Aufklärung geprägten, selbstbewußten Menschen gelten. Doch war sich Goethe sehr wohl der Grenzen der Menschheit bewußt – so der Titel eines wohl 1781 entstandenen Gedichts –, was ihn zu ehrfürchtiger Betrachtung der Natur und ihrer Erscheinungen veranlaßte.

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Auch im Bereich der Farbenlehre wird Goethes spezifische Haltung gegenüber der Natur und sein Selbstverständnis als Naturforscher sichtbar. Im Unterschied zu Newton, der sich moderner analytischer Methoden bedient, die Einzelerscheinungen isoliert und durch Abstraktion zu allgemeingültigen Ergebnissen gelangt, betrachtet Goethe die Natur »in ihrem lebendigen Zusammenhang« (S. 94), in dem erst die ›Urphänomene‹ zutage treten. Dabei steht der Beobachter seinem Forschungsgegenstand nicht distanziert und mit dem Anspruch der Objektivität gegenüber, vielmehr bedingen sich Natur- und Selbsterkenntnis gegenseitig.

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… die Chemie

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Nach alchemistischer Lektüre und Experimenten in den Frankfurter Krankheits- und Krisenjahren 1768–1770 wurde für Goethe die Beschäftigung mit chemischen Fragen im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit in der Weimarer Bergbaukommission erforderlich. Im Bewußtsein, daß ihm das hierfür erforderliche fundierte Fachwissen fehlte, stützte er sich auf kompetente Berater wie Friedrich August Göttling und Johann Wolfgang Döbereiner.

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Eine eher pessimistische Einschätzung des naturwissenschaftlichen Fortschritts wird in der Laboratoriumsszene des II. Akts von Faust II erkennbar. Hatte Goethe 1826 noch geplant, Wagner nach Alchemistenmanier ein Menschlein in der Retorte erzeugen zu lassen, gibt er diesen Plan bei der endgültigen Ausarbeitung Ende 1829 auf. Im Jahr zuvor war es dem Chemiker Friedrich Wöhler gelungen, aus anorganischen Ausgangsstoffen die organische Verbindung Harnstoff zu synthetisieren. Diese Leistung weckte die Erwartung, daß in absehbarer Zeit im Labor künstliches Leben hergestellt werden könne. Goethe stand solchen hochgespannten Erwartungen offensichtlich skeptisch gegenüber, denn in der Endfassung der Laboratoriumsszene mißlingt die Schöpfung des Homunkulus trotz tatkräftiger Unterstützung Wagners durch Mephisto gründlich, und das bedauernswerte, nur »halb zur Welt gekommen[e]« (Vers 8248) Menschlein bleibt körperlos in seiner Phiole eingeschlossen.

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… die Botanik

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Im botanischen Garten von Padua gelangte Goethe der Überlieferung zufolge am 27. September 1786 zur Überzeugung, daß sich die Vielfalt der Pflanzengestalten auf den allgemeinen Typus einer ›Urpflanze‹ zurückführen lasse. In der Wandlungsfähigkeit des Blatts im Hinblick auf Gestalt und Funktion glaubte er den Schlüssel sowohl für die Entwicklung der Individuen als auch für die Differenzierung der Arten entdeckt zu haben. Goethe legte seine Gedanken in dem 1790 veröffentlichten Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären dar. Mit seiner genetischen Perspektive steht er im Gegensatz zu Linnés statischer Einteilung des Pflanzenreichs, die von einer Konstanz der Arten ausgeht. In seinem an die Geliebte gerichteten Lehrgedicht Die Metamorphose der Pflanzen setzte Goethe die Prinzipien der Pflanzenmetamorphose poetisch um; »Naturwissenschaft und Dichtung gehen ihre anmutige Verbindung ein« (S. 161). Zugleich legt Goethe einen Gegenentwurf zu Erasmus Darwins Lehrgedicht The Love of the Plants (1789) vor, das eine – von den Zeitgenossen zum Teil als anstößig empfundene – Popularisierung des Linnéschen Sexualsystems unternahm.

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Angeregt durch den Botaniker Karl Friedrich Philipp von Martius entdeckte Goethe 1828 in der ›Spiraltendenz‹ neben den Prinzipien der Polarität und der Steigerung eine dritte grundlegende in der Natur und speziell im Pflanzenreich wirksame Gesetzmäßigkeit. Als poetische Verkörperung dieser Tendenz deutet die Verfasserin die Figur der Makarie in Wilhelm Meisters Wanderjahren: »sie wandelt seit ihrer Kindheit um die Sonne, und zwar [...] in einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunct entfernend und nach den äußeren Regionen hinkreisend« (WA I 25.1, S. 280). Für das Meeresfest der Klassischen Walpurgisnacht in Faust II stellt das Wasser als lebenspendendes Element den Schauplatz dar und bestimmt darüber hinaus das dramatische Geschehen wesentlich mit. Unter den auftretenden Meeresgottheiten symbolisiert der sprichwörtlich wandelbare Proteus das Prinzip der Metamorphose, und in Figurenkonstellation, Handlungsführung und ›Choreographie‹ der Szene lassen sich gedankliche Strukturen erkennen, die auch Goethes späten Arbeiten zur Botanik zugrunde liegen.

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… die Zoologie

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Besonders durch die Entdeckung der afrikanischen und asiatischen (Menschen-)Affen wurde seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die bis dahin vorausgesetzte Überlegenheit des Menschen gegenüber den übrigen Geschöpfen problematisch. Durch seinen Nachweis des Zwischenkieferknochens beim Menschen im Frühjahr 1784 widerlegte Goethe die Annahme einer Sonderstellung des Menschen und fand seine Überzeugung von der Einheit der Natur bestätigt. Die Verfasserin vermutet, daß nicht allein die ablehnende Haltung renommierter Fachgelehrter Goethe veranlaßte, seine Abhandlung über den Zwischenkieferknochen erst 1820 zu veröffentlichen, sondern auch die Scheu davor, die Grenze zwischen Mensch und Tier aufzuheben, wie es Charles Darwin einige Jahrzehnte später mit seiner Evolutionstheorie tat.

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Im Pariser Akademiestreit um die Entstehung der Arten aus dem Jahr 1830 stand für die Zeitgenossen der Gegensatz zwischen der analytischen Methode Cuviers und der synthetischen Geoffroys im Vordergrund. Goethe begrüßte grundsätzlich, daß wissenschaftliche Auseinandersetzungen öffentlich ausgetragen wurden, und trug mit seiner Besprechung Principes de Philosophie Zoologique (1830/31) wesentlich dazu bei, die Öffentlichkeit für die kontroverse wissenschaftliche Diskussion zu interessieren und über deren Gegenstand zu informieren. Goethe selbst stand der Position Geoffroys nahe, versuchte jedoch zu vermitteln und plädierte für eine Verbindung beider einander ergänzender Ansätze.

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Goethes Naturmodell oder:
Was hat uns Goethe heute zu sagen?

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Die zentrale These bzw. das Ergebnis ihrer Studie formuliert die Verfasserin im ersten Kapitel, in dessen Schlußpassage sie Goethes Naturauffassung kulturhistorisch einordnet. Sie stützt sich dabei auf das von Hartmut Böhme, Peter Matussek und Lothar Müller erstellte Fünf-Phasen-Modell einer »Kulturgeschichte der Natur«: Das naturphilosophische Modell der Antike (1.) denkt über die Natur nach, ohne sie zu bearbeiten; das im Mittelalter entwickelte und bis in die Romantik wirksame hermeneutische Modell (2.) liest das Buch der Natur, ohne diese zu beherrschen; das in der Renaissance entstandene und in der Neuzeit vorherrschende technische Modell (3.) zielt auf die Beherrschung der Natur, ohne sie zu verstehen; das ökologische Modell (4.) stellt Schutz, Bewahrung und ›Reparatur‹ der beschädigten Natur in den Vordergrund; im kulturellen Modell (5.) wird »Natur [...] gestaltet, aber nicht beherrscht«. 6 Goethe zeigt sich dem hermeneutischen Naturmodell verpflichtet; der technisch-instrumentellen Beherrschung und dem damit verbundenen Einsatz mathematisch-analytischer und quantifizierender Methoden begegnet er (wie z.B. auch der Physiker Lichtenberg in seiner Traum-Erzählung) kritisch, ja ablehnend und plädiert dafür, der Sprache der Natur zu lauschen, die »mit sich selbst und zu uns durch tausend Erscheinungen« spricht (WA II 1, S. X).

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Goethes Naturforschung wurde in der Vergangenheit oft als Zeitvertreib eines Dilettanten abgetan, dessen Vorstellungen im Widerspruch zur zeitgenössischen wissenschaftlichen Entwicklung standen oder von ihr rasch überholt wurden; demgegenüber wird in den letzten Jahrzehnten die ›Modernität‹ seines naturwissenschaftlichen Denkens entdeckt oder doch postuliert und damit zuweilen – unnötigerweise – die Beschäftigung mit einem historischen Forschungsgegenstand gerechtfertigt. Auch die vorliegende Arbeit läßt diese Tendenz erkennen, wenn sie »Goethes Naturmodell« als »erstaunlich modern und vorbildlich zum ›kulturellen Projekt‹ der Natur von heute« (S. 46) charakterisiert oder einen eilig aktualisierenden Bogen schlägt vom Puppenmotiv in Goethes Triumph der Empfindsamkeit zu den Robotern der Gegenwart (S. 140–142) und von Goethes vorbildlich-respektvoller Lektüre im ›Buch der Natur‹ zur ›Entzifferung‹ des menschlichen Genoms mit ihren ethisch fragwürdigen Konsequenzen (S. 143 f.).

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Fazit

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Die Studie von Aeka Ishihara bietet einen auch für Laien gut lesbaren, im allgemeinen zuverlässigen und an den Ergebnissen neuerer Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte orientierten Überblick über die Entwicklung von sechs naturwissenschaftlichen Disziplinen bis zur Goethezeit, deren Wissensstand im ausgehenden 18. Jahrhundert und die damals aktuellen Themen und Methoden. Der an weiterführender Lektüre interessierte Benutzer wird in diesem Zusammenhang begrüßen, daß das umfangreiche Literaturverzeichnis auch entlegenere Forschungspublikationen aufführt. Vor diesem auch kulturhistorisch bedeutsamen Hintergrund zeichnet die Verfasserin Goethes spezielle Beschäftigung mit den verschiedenen Bereichen der Naturforschung nach und zeigt die hiervon ausgehenden Impulse für seine Dichtung auf. Dabei wird deutlich, daß die Wechselwirkung zwischen Naturwissenschaften und Literatur sehr verschiedene Formen annehmen und unterschiedliche Textebenen betreffen kann: 7 Goethe gestaltet u.a. einzelne (tradierte) Naturmotive, bedient sich naturwissenschaftlicher Vorstellungen und Gegenstände als Bildspender, thematisiert in seiner Dichtung aber auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse oder beleuchtet diese im Medium der Poesie kritisch, und schließlich kann der literarische Entwurf gelegentlich sogar Resultate der Forschung vorwegnehmen. Allerdings wurde diese Vielfalt wechselseitiger Beeinflussung von der Autorin nicht methodologisch reflektiert oder z.B. im Hinblick auf Goethes Beziehung zu den jeweiligen Einzeldisziplinen näher untersucht. Als überwiegend zusammenfassende Darstellung und reichhaltige Materialsammlung wird die vorliegende Arbeit dennoch ihre Leser zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema Goethe und die Naturwissenschaften anregen und den Dialog zwischen den ›zwei Kulturen‹ fördern.



Anmerkungen

Charles Percy Snow: The two cultures: and a second look. An expanded version of the two cultures and the scientific revolution. Cambridge: University Press 1964.   zurück
Vgl. z.B. Zur Morphologie. Verfolg. In: Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 143 Bände in IV Abteilungen. Weimar: Hermann Böhlau 1887–1919, hier II 6, S. 139 f. Auf die Weimarer Ausgabe wird im folgenden mit der Sigle WA verwiesen.   zurück
Aeka Ishihara: Makarie und das Weltall. Astronomie in Goethes ›Wanderjahren‹ (Kölner Germanistische Studien 42) Köln u.a.: Böhlau Köln 1998.   zurück
Vgl. hierzu im einzelnen WA II 11, S. 58–60, Bedeutende Förderniß durch ein einziges geistreiches Wort.   zurück
Christoph Michel / Hans Grüters (Hg.): Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Friedmar Apel u.a. II. Abteilung, 12. Band) Frankfurt / M.: Deutscher Klassiker Verlag1999, S. 559 (27.4.1825). Vgl. u.a. auch WA I 36, S. 155 (Tag- und Jahres-Hefte 1820) und WA II 9, S. 259–262 (Verschiedene Bekenntnisse).   zurück
Hartmut Böhme / Peter Matussek / Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 118 und S. 123.   zurück
Hierzu im einzelnen Hans Dietrich Irmscher: Naturwissenschaftliches Denken und Poesie in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Eine Skizze. In: Peter-André Alt u.a (Hg.): Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 167–189, hier besonders S. 168–170.   zurück