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Camden House History of German Literature

Eine unprätentiöse, in bester angelsächsischer Tradition auf Lesbarkeit hin entworfene Darstellung

  • Barbara Becker-Cantarino (Hg.): German Literature of the Eighteenth Century. The Enlightenment and Sensibility. (Camden House History of German Literature) Rochester, NY: Camden House 2004. 368 S. 6 s/w Abb. Hardback. GBP 50,00.
    ISBN: 1571132465.
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Der Verlag Camden House gibt seit 2001 eine zehnbändige History of German Literature heraus, die demnächst abgeschlossen sein wird und die Wahrnehmung deutscher Literatur im englischsprachigen Ausland (und darüber hinaus) maßgeblich beeinflussen dürfte. Laut Internet-Ankündigung handelt es sich bei dem Unternehmen um »one of the most ambitious undertakings in the field of German literary history in years« 1 – Grund genug, einen der jüngst erschienenen Bände exemplarisch vorzustellen.

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Angelsächsische
Perspektive

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Der dem 18. Jahrhundert gewidmete Band 5 ist dafür besonders geeignet, thematisiert er doch eine Epoche, die seit der in den 1980er Jahren vollzogenen ›anthropologischen Wende‹ in der Literaturwissenschaft als ›prägnanter Moment‹ einer Nationalliteratur an der Schwelle zur Moderne gilt. Der Untertitel des Buches (»Enlightenment and Sensibility«) stellt die Aufklärungsperiode in den Kontext der Empfindsamkeit; eine Entscheidung, die der angelsächsischen Präferenz für eine im englischen Sprachraum aufgekommene Zeitströmung des 18. Jahrhunderts entspricht, sich aber auch auf die Forschungen deutscher Interpreten stützen kann, man denke an die Empfindsamkeits-Studien von Gerhard Sauder oder – in jüngster Zeit – die mediologischen Analysen Albrecht Koschorkes.

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Im Vorwort und in der Einleitung präsentiert die Herausgeberin die Leitlinien des Unternehmens. »Any literary history« – so Barbara Becker-Cantarino – »requires pragmatic decisions about periodization, setting a beginning and end, selecting representative topics and materials, and presenting a cohesive, reasoned narrative.« (S. 2) Obwohl aktuelle Forschungsfragen nur am Rande diskutiert werden, legt das Buch Wert darauf, »the recent re-evaluation of cultural and social phenomena« mitzuvollziehen. Angekündigt wird »the inclusion of hitherto neglected but important texts not considered in older literary histories, works such as essays, travelogues, philosophical texts, and letters«. (S. ix)

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Diese Disposition trägt der Forderung nach einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung des Textkorpus Rechnung und stützt sich dabei auf die Theoriepostulate des New Historicism. Eine teleologische Perspektivierung des Textmaterials lehnt die Herausgeberin folgerichtig ab: »We can no longer reiterate the formerly progressive view according to which all things lead up [...] to the Age of Goethe, the presumed peak of genuine, ›deep‹ German culture [...].« (S. 2) In den einzelnen Beiträgen entfalten elf Forscher aus den USA, Großbritannien, Deutschland, Österreich und der Schweiz eine »diversity of perspectives« (S. 2), die dieses Programm einlösen soll. Die Essays sind zwischen 18 und 35 Seiten lang, durch Zwischenüberschriften leserfreundlich gegliedert und mit einem Anmerkungsapparat ausgestattet, der jeweils bis zu 20 Prozent des Gesamtumfangs ausmacht und die wissenschaftliche Nachprüfbarkeit der Befunde sicherstellt.

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Geistes- und sozialgeschichtliche
Entwicklungslinien

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Im ersten Artikel verortet Kai Hammermeister die deutsche Aufklärungsbewegung kenntnisreich im europäischen geistesgeschichtlichen Kontext. Die Entwicklung in Deutschland erscheine einerseits als »response to the metaphysical systems of Descartes, Spinoza and Leibniz«. (S. 35) Mit ihren Äußerungen zur Religionskritik gerate die deutsche Aufklärung jedoch auf einen »Sonderweg«, der vom gesamteuropäischen Projekt abweiche: »In Germany, Enlightenment criticism of religion lacked the radicalism of anti-theological and anti-clerical thought that could be witnessed in England and France.« (S. 40) Besondere Bedeutung gewinne hingegen die Ästhetik, die als philosophisches Unternehmen »would soon advance its marginal position in enlightenment discourse to the center of philosophical debates.« (S. 49)

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Mit Johann Christoph Gottsched widmet sich der Beitrag von Katherine R. Goodman einem der wichtigsten Vertreter der Frühaufklärung. Der unter Berufung auf Lessings im 17. Literaturbrief geäußerte Kritik oft als formalistisch und dogmatisch gescholtene Leipziger Literaturprofessor erfährt eine nachdrückliche Würdigung: »He had predesessors, aides and critcs, but he was the single most effective mobilizing force for a modern German literature.« (S. 55)

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Die sich im Verlauf des 18. Jahrhundert rapide wandelnden sozialen und ökonomischen Bedingungen für die Produktion und Rezeption von Printmedien untersucht Helga Brandes. Sie demonstriert anhand einer Fülle von Material die sprunghaft zunehmende Verbreitung von moralischen Wochenschriften, Journalen und Almanachen, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine bis heute bestehende Institution der literarischen Öffentlichkeit ins Leben rufen: das Rezensionswesen. Friedrich Nicolais 1805 eingestellte Allgemeine Deutsche Bibliothek dient als Beleg dafür, dass am Ausgang des 18. Jahrhunderts die Aufklärung als umfassendes Projekt an ihr Ende gekommen ist:

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It was no longer possible to present an encyclopedic review of the entire book market. Specialised journals for all scientific, cultural, and literary areas took their place. These reviews of the nineteenth century replaced the encyclopedic with selectivity. (S. 97)
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Gattungsgeschichte,
Kunsttheorie und Musik

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Das Nebeneinander von geistlicher und weltlicher Dichtung beleuchtet Kevin Hilliard am Beispiel der Versepen von Klopstock und Wieland. Obwohl Peter Gays These vom »rise of modern paganism« (S. 105) explizit abgelehnt wird, belegt der Artikel implizit doch, dass gerade die Lesekultur zum Indikator einer tief greifenden Säkularisierung wurde: »Poetry was one of the surplus products of an increasingly commercial and leisured society, and itself a stimulus to enjoyment in and of moments of leisure.« (S. 117)

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Den Beitrag Schweizerischer Autoren für die Kunsttheorie und -praxis der Aufklärungszeit arbeitet Rosmarie Zeller heraus. Ausgehend von den Zürcher Kritikern Bodmer und Breitinger und deren »contributions to poetics and to literary theory« (S. 133) über Hallers Alpen-Gedicht, das einer neuen Naturwahrnehmung den Weg bahnte, bis zu Gessners Idyllen, welche die bukolische Form der klassischen Antike für die moderne Literatur adaptierten, entwirft sie das Bild eines Landes, das erstmals eine überregional bedeutsame Rolle in der Literaturgeschichte zu spielen begann, »and not only German but world literature«. (S. 131)

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An dramatischen Dichtungen lässt sich besonders gut zeigen, dass der literarische Paradigmenwechsel, der im 18. Jahrhundert vonstatten geht, vom Ringen um eine Nationalkultur begleitet wird, die sich in Ablehnung ›ausländischer‹ Vorbilder zu konstituieren sucht und in Bestrebungen zur Gründung eines Nationaltheaters (Hamburg, Wien) manifestiert. Francis Lamport verfolgt diese Entwicklung von der noch im Schatten Gottscheds entworfenen Dramenpoetik Johann Elias Schlegels bis hin zu Lessings dramentheoretischen Reflexionen und dramatischen Dichtungen, die nicht nur dem aufklärerischen Gehalt nach, sondern auch mit Blick auf die »theatrical vitality« ihrer formalen Konzeption einen neuen Standard setzten. »Time and place are no longer treated mechanically, but as essential dimensions of the dramatic action.« (S. 180)

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Im umfangreichsten Artikel des Bandes entwirft Sarah Colvin ein Panorama von »Musical Culture and Thought« (S. 185) der Aufklärungszeit und beschreibt die Herausbildung einer Musikkultur, an der sowohl die höfischen Zentren in Dresden, Berlin und Wien als auch bürgerlich geprägte Städte wie Hamburg und Leipzig Anteil hatten. Besondere Berücksichtigung erfährt dabei das Singspiel, das – im Anschluss an eine Reflexion Wielands – »would suit modern Enlightenment Germany not least because (unlike the more extravagant types of opera) it is affordable in the bourgeois civic context«. (S. 204) Damit im Zusammenhang macht die Verfasserin auf einen vernachlässigten Aspekt literarischer Produktion des 18. Jahrhunderts aufmerksam: die Verfertigung von (meist unvertont gebliebenen) Libretti, an denen sich nicht nur Autoren wie Christian Felix Weiße, sondern auch Wieland und Goethe versucht haben. Überlegungen zum »Musical Orientalism«, dem Mozarts Entführung aus dem Serail zuzurechnen ist, zur Herausbildung des Liedes als neuer, spezifisch deutscher Kunstform und zur gesamteuropäischen Verflochtenheit der Musikkultur beschließen den materialreichen Beitrag.

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In enger Auseinandersetzung mit dem Untertitel des Bandes skizziert Anna Richards »The Era of Sensibility and the Novel of Self-Fashioning«. (S. 223) Sie wendet eine von Stephen Greenblatt für die Literatur der frühen Neuzeit geprägte Formulierung auf die Romane der Aufklärungszeit an und sucht zu zeigen, dass die Heldinnen und Helden von Schnabel, Gellert, Wieland, La Roche und Thümmel in vergleichbarer Weise um die Schaffung einer zwar zeitbedingten, aber doch bewusst gestalteten eigenen Identität gerungen haben.

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In its redirection of narrative attention from outward adventures to inner states of mind, the sentimental novel of self-fashioning prepared the way for psychological realism and thus for one of the most important tools to be employed by modern novelists both male and female. (S. 240)
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Regionale Zentren,
historischer Kontext und
Wirkungsgeschichte

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Dass die Aufklärungsbewegung keineswegs allein ein norddeutsch-protestantisches Projekt gewesen ist, arbeitet Franz M. Eybl heraus. Er untersucht »The ›Catholic Enlightment‹ and the Emergence of Austrian Literature« (S. 245) und spannt dafür einen Bogen von den Sonnenfels’schen Theaterreformen der zweiten Jahrhunderthälfte bis in die Zeit des aufgeklärten Josephinismus am Ausgang der Epoche. Als überdauerndes Werk des »Austrian Enlightenment« (S. 257) tritt unter dieser Perspektive Schickaneders Libretto zu Mozarts Zauberflöte hervor; eine Klassifizierung, die innerhalb der kulturwissenschaftlich erweiterten Epochenkonzeption vertretbar wäre, wenn sie nicht der Artikel selbst implizit wieder in Frage stellen würde: »Schickaneder’s text does not follow Gottsched’s or Lessing’s rules of drama, but those of the operatic genre, more specifically, of baroque opera.«

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Die historisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Aufklärungszeit entfaltet der Beitrag von W. Daniel Wilson, indem er die Konsequenzen der vorherrschenden Vielstaatlichkeit und sozialen Hierarchisierung für die Entwicklung freier Autorschaft beschreibt: »no writer lived as a freelancer in Germany for more than a few years before the 1790s.« (S. 269) »The predominance of ›enlighted absolutism‹« (S. 271) habe darüber hinaus eine im europäischen Vergleich auffällige Konfliktscheu der Autoren bewirkt: »few intellectuals of the German eighteenth century conceived the kind of radical political critique seen in England and France«. In weiteren Unterkapiteln werden die Aktivitäten von Geheimgesellschaften und die konfessionelle Spaltung Deutschlands thematisiert, wobei ein weiteres Mal die Vorstellung einer Vorreiterrolle des protestantischen Nordens im Aufklärungsgeschehen zurückgewiesen wird: »Protestant lands were hardly more liberal than Catholic ones«. (S. 275) Ein Blick auf »several important women writers in this period« (S. 278) beschließt den Artikel, auch wenn auf keines der Werke von Sidonia Hedwig Zäunemann (1714–1740) und Christina Mariana von Ziegler (1695–1760) näher eingegangen wird.

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Der abschließende Beitrag von Robert C. Holub versucht sich an einer Bilanz der Aufklärungsbewegung und verfolgt dafür ihre Nachwirkungen von der »Metacritique« (S. 287) Hamanns und Herders über die dezidiert aufklärungskritische Wendung der Romantiker (S. 292–295) sowie Nietzsches »New Enlightenment« (S. 296) bis hin zur »Dialectic of Enlightenment« (S. 299) der Frankfurter Schule. Im Ergebnis attestiert er dem Vernunftzeitalter eine Legitimität, die alle Versuche seiner Diskreditierung überdauert habe: »The ultimate lesson the Age of Reason has to offer – even in the harshest critiques from the most inveterate adversaries – may be that it is impossible to escape the legacy of Enlightenment.« (S. 306)

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Fazit

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Mit dem Band 5 der Camden House History of German Literature liegt kein geschlossenes Epochenporträt der Aufklärungszeit vor, sondern ein Sammelband mit themenzentrierten Aufsätzen, die verschiedene Facetten der Literaturgeschichte im 18. Jahrhundert neu beleuchten und dabei manche überraschende Einsicht zu Tage fördern – auf der anderen Seite aber auch etliche Lücken lassen. So scheint es fraglich, ob der spätbarocke Lyriker Johann Christian Günther (1695–1723) im zeitlichen Horizont der Epoche ein eigenes Unterkapitel verdient hat (S. 57–60), während die aus einer aufgeklärten Naturerfahrung gespeiste Lyrik von Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) nur sporadisch gestreift wird als eine Tendenz »to colonize the newfound terrain of leisure«. (S. 114)

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Weiterhin führt der Vorsatz, bislang unberücksichtigt gebliebene Autoren und Autorinnen zu würdigen, gelegentlich zu literarischen Wertungen, die die vorurteilsbehafteten Urteile der Entstehungszeit unbefragt übernehmen; etwa wenn die seinerzeit als ›deutsche Sappho‹ gehandelte und von Sulzer, Ramler und sogar Lessing geförderte Anna Louise Karsch als »one of the most remarkable poetic talents of the century« (S. 112 f.) gepriesen wird. Auch hätte man sich wünschen können, dass die Schreibung von Orts- und Personennamen genauer überprüft worden wäre, damit nicht neben Georg Friedrich Händel noch ein »George Frederic Handel« (S. 185) im Text vorkommt oder eine niedersächsische Residenzstadt in allen Beiträgen und dem Register als »Hanover« (S. 69, 186, 192, 338) firmiert.

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Der grundsätzlichen Qualität des Bandes tun diese Unzulänglichkeiten aber keinen Abbruch. Was vorliegt ist eine unprätentiöse, in bester angelsächsischer Tradition auf Lesbarkeit hin entworfene Darstellung, die kompetent über wesentliche Aspekte der Aufklärungszeit informiert. Sämtliche Zitate aus den deutschen Originaltexten werden durch eine englische Übersetzung ergänzt, was die Brauchbarkeit des Bandes für Deutsch-Unkundige sicherstellt. Diese benutzerfreundliche Anlage macht die vorliegende – und zweifellos verdienstvolle – Literaturgeschichte auch zu einem Indikator der abnehmenden Bedeutung des Deutschen nicht nur als Wissenschaftssprache, sondern auch als Gegenstand originalsprachlicher literarischer Lektüre im Ausland.



Anmerkungen