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Ein Grundtext der modernen Rhetorik in deutscher Übersetzung

  • Chaim Perelman / Lucie Olbrechts-Tyteca: Die neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren. Hg. von Josef Kopperschmidt. Aus dem Französischen übersetzt von Freyr R. Varwig in Zusammenarbeit mit dem Hg. Überarbeitet für die Drucklegung von Hans-Jörg Ehni in Zusammenarbeit mit dem Hg. 2 Bde. (problemata 149) Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2004. 835 S. Gebunden. EUR (D) 128,00.
    ISBN: 3-7728-2229-0.
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Anzuzeigen ist mit diesem Buch die deutsche Übersetzung eines Standardwerkes der Rhetoriktheorie: des Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique von Chaim Perelman und Lucie Olbrechts-Tyteca, erschienen zuerst 1958, dann in der 2. Auflage 1970. Daß der Herausgeber die beiden Teile des Titels in der deutschen Version umstellt, geschieht nicht ohne Absicht. Will er doch mit dem Verweis auf die »neue Rhetorik« (nach der Titelfolge der Erstauflage von 1958) das Programmatische des Perelmanschen Entwurfs hervorheben: die Konzeption einer auf die Argumentation und nicht mehr auf Figurenschmuck und Sprachästhetik konzentrierten Rhetorik. Als Perelman und seine Mitarbeiterin versuchten, die praktische Geltungsfähigkeit von Argumenten theoretisch zu durchleuchten, erkannten sie, daß Logik und cartesianische Philosophie ihnen dafür keine Handhabe boten, daß ihnen aber die »alte« Rhetorik dazu den Schlüssel liefern konnte. Allerdings mußte diese dazu selbst erst in ihrer vollständigen, auf Aristoteles zurückgehenden Gestalt rekonstruiert werden, denn die an Schulen und Universitäten damals bekannte und primär die Figurenlehre umfassende Form war nur eine Schwundstufe. Das Ergebnis dieser Rekonstruktion, die natürlich infolge ihrer Konzentration auf die Argumentation manches auch ausblendet wie etwa die Affektenlehre, war zugleich ein eigener Ansatz, der die Rhetorik unter einem neuen Blickwinkel präsentierte und sie für neue Interessen öffnete. Über die Erfahrungen, die sie machten, und die Ziele, die sie ansteuern wollten, berichten die Autoren in ihrem Buch.

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Im Einleitungs- und Schlußkapitel werden die theoretischen Ambitionen der »Neuen Rhetorik« vor allem in philosophischer Hinsicht vorgestellt. Der Hauptteil ist dreifach untergliedert. Der erste Teil entwickelt die konzeptionellen Grundkategorien des Ansatzes und formuliert kategoriale Unterscheidungen wie die zwischen »Argumentation« und »Demonstration«, »Überzeugen« und »Überreden«, »universeller« und »partikularer Hörerschaft«. Der zweite Teil erläutert das Prinzip der Zustimmungsgeltung, das auf dem Einverständnis der Hörer basiert und die Grundlage der Argumentation bildet. Die Autoren stellen dabei verschiedene Typen solcher Einverständnisse vor. Der dritte und weitaus umfangreichste Teil enthält eine Auflistung und Erläuterung wichtiger Argumentationsmuster bis hinein in die Figurenlehre wie z.B. das Autoritätsargument, das a-fortiori-Argument, die Analogie usw. Die Analyse dieser und anderer Argumentationsformen zeigt exemplarisch methodische Verfahren, wie sich argumentativ an Einverständnisse anschließen läßt. Die noch von Perelman und Olbrechts-Tyteca zusammengestellte Bibliographie rundet das Buch ab und spiegelt die Einflüsse der damaligen Philosophie und Wissenschaft auf das Denken der beiden Autoren.

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Die Lektüre dieses Grundtextes der modernen Rhetorik, der zu Unrecht immer noch viel zu wenig bekannt ist, macht erst wirklich nachvollziehbar, worin das (damals, 1958!) Neue der »nouvelle rhétorique« liegt. Es ist zum einen ein verändertes Rationalitätsparadigma, das auf der These beruht, es gebe keine Evidenz zum Erweis von Wahrheit, sondern nur den Konsens der am Wahrheitsfindungsprozeß Beteiligten. Zum anderen gehört dazu die Idee der universalen Hörerschaft, die sich nicht auf die Tatsächlichkeit der Zustimmung, sondern die normative Geltung des Einverständnisses bei Anerkennung von Vernunftgründen bezieht. Diese Idee erinnert an das Konzept vom »universalen Konsens« bei Habermas. In der Tat dürfte der Ansatz von Perelman und Olbrechts-Tyteca als ein Vorläufer der Diskursethik anzusehen sein. Habermas und auch Apel nahmen das Werk der beiden Autoren jedoch erst spät zur Kenntnis. Dieser Aspekt der Wirkungsgeschichte und Probleme der Deutung der »Neuen Rhetorik« sollen, wie man hört, in einem von Kopperschmidt betreuten und voraussichtlich 2005 erscheinenden Sammelband zu Perelman behandelt werden.