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Die Metaphorik der 'Gesellschaft'

Mechanismen soziologischer Begriffsbildung

  • Susanne Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären. München: Wilhelm Fink 2004. 214 S. Broschiert. EUR (D) 26,90.
    ISBN: 3-7705-3989-3.
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Die Soziologie und
ihr Gegenstand ›Gesellschaft‹

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Die Soziologie ringt seit jeher mit ihrem Gegenstand. Seit ihrer nunmehr über 100-jährigen Geschichte hat sie, so wird oft beklagt, keine Einhelligkeit über ihren Gegenstand erreichen können. Die (akademischen) Gründerväter des Faches haben daran gearbeitet, ›Gesellschaft‹ »auf den Begriff zu bringen« und dies durch verschiedene Konzeptualisierungen, mit Bezug auf ganz unterschiedliche Paradigmen und Semantiken. So wurden theoretische Bestimmungen und Ausdeutungen von ›Gesellschaft‹ hervorgebracht und verschiedene Theoriearchitekturen und Traditionen ausgebildet. Dies führte zu einer Koexistenz ganz unterschiedlicher und heterogener soziologischer Paradigmen und theoretischer Ansätze, sodass man von einer multiparadigmatischen Konstitution der soziologischen Landschaft sprechen kann.

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Die Soziologie bezieht sich auf einen Gegenstand, der nicht festgelegt und entwickelbar, also kontingent ist. Dies lehrt die Beschäftigung mit der Geschichte des Faches. In der neueren Systemtheorie geht das Ringen um die Identität einher mit einer Schließung, einer Abschottung nach außen. Dieser narzisstische Mechanismus (durchaus zeitgemäß) wird von der Systemtheorie als Selbstreferenzialität beschrieben und als funktionale Notwendigkeit propagiert. Gestützt wird dies mit biologischen Importen (z.B. Autopoiesis), die auch für das Soziale gelten sollen. Solche Tendenzen der Einschließung und Selbstbezüglichkeit verhindern aber einen Austausch mit Entwicklungen in benachbarten, nachbarschaftlichen Bereichen, die der Soziologie dabei behilflich sein können, das Selbstverständnis ihrer Konstitution besser zu reflektieren.

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Die Textualität
soziologischer Begriffsbildungen

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An einem nachbarschaftlichen Austausch mit den Literaturwissenschaften ist Susanne Lüdemann in ihrem Buch interessiert und deckt »blinde Flecken« einer sich einschließenden Soziologie auf. Die Literaturwissenschaften können hier für die Soziologie aber mehr als ein bloßer Nachbar sein – die Autorin setzt den Hebel tiefer an, nämlich am Problem der Konstitution und Konstruktion des soziologischen Gegenstandes: es geht um die Analyse der Textualität soziologischer Theoriebildung, um das Aufzeigen der prinzipiell textlich und metaphorischen Verfasstheit soziologischer Begriffsbildungen. Auf dieser Ebene sind Literaturwissenschaft und Soziologie Intimpartner, penetrabel, kann doch eine sprachanalytische, (post)strukturalistische oder hermeneutische Analyse des soziologischen Sprechens und Schreibens die Soziologie über ihre eigene »Text-Praxis«, über ihre tradierten Metaphern aufklären, kann ihr eine semantische Genealogie ihrer Begrifflichkeiten geben. Die tatsächlich aber zu konstatierende Berührungsferne der Disziplinen ist dabei erstaunlich und bezeichnend, wenn doch eigentlich Sozialwissenschaften im Prinzip Textwissenschaften sind und vice versa, wie die Autorin Hans-Georg Soeffner zitiert (S. 9).

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Eine Reflexion über ihre Begriffsproduktion gehört nicht zum Selbstverständnis und nicht zur »Politik«, zur Selbstdarstellung der Soziologie, stellt Lüdemann heraus und liefert an diesem Punkt ansetzend eine »Kritik soziologischer Theoriebildung mit literaturwissenschaftlichen Mitteln« (S. 9). Soziologische Gesellschaftsbeschreibungen, so die Autorin, stellen ihre Textualität, ihre literarischen und rhetorischen Elemente, nicht aus, geben sich in der Beschreibung von Gesellschaft als wissenschaftlich-deskriptiv, obwohl sie doch in erheblichem Maße präskriptiv und performativ konstituiert sind (S. 11).

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Das gilt freilich nicht allein nur für die Soziologie, aber hier hat die Analyse der Begriffsbildung eine besondere Brisanz: bei der Repräsentation einer ungreifbaren Wirklichkeit ›Gesellschaft‹, beim »auf den Begriff bringen« ihres Gegenstandes bedient sich die Soziologie Metaphern, Bildern und Analogien, um »soziale Ordnung« zur Darstellung zu bringen; sie ist insofern ständig an der Produktion von sozialem Sinn beteiligt, indem sie Bilder und Vorstellungen von ›Gesellschaft‹ formt und in Umlauf bringt. Zwei traditionelle Metaphern, die für die Soziologie von hoher Wichtigkeit waren (und sind), stellt die Autorin besonders heraus: die im 19. Jahrhundert aus der Biologie importierte Organismus-Metapher (Metapher der Natürlichkeit) und ihre Weiterentwicklung in der Soziologie sowie die Metapher des »Gesellschaftsvertrages« am Beispiel der hobbes’schen Staatslehre (Metapher der Künstlichkeit).

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Metapher und Begriff

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Die Brisanz einer solchen »Kritik mit literaturwissenschaftlichen Mitteln« wird klar, wenn man die Bedeutung und Funktion der Metapher in ihrem Verhältnis zum (wissenschaftlichen) Begriff analysiert. Dies führt Lüdemann im ersten Teil ihrer Arbeit eingehend und überzeugend aus. Zur Sprache kommt Hans Blumenberg, der mit seinem Werk Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960) das Verhältnis von Wissenschaft und Imagination, Logos und Phantasie, Begriff und Metapher neu zu interpretieren verstand und die Metaphorik damit in einen epistemologischen Rahmen setzte: Um etwas erkennen zu können, ist dieses Erkennen auf Metaphern und Bilder geradezu angewiesen (Blumenberg spricht von »Hintergrundmetaphoriken«). Diese sind keine sekundären, »uneigentlichen« Artefakte gegenüber dem »eigentlichen«, exakten Begriff. Die Metaphorik ist vielmehr der Primärprozess, die Möglichkeit erzeugend, überhaupt etwas zu erkennen.

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Dies lässt sich bereits bei Nietzsche ausformuliert finden. In seiner frühen genialen Abhandlung Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873) hatte dieser bereits in aller Radikalität und in seinem ihm ganz eigenen provokativen Elan Dekonstruktion betrieben und die wissenschaftliche Perspektive seiner Zeit umgedreht, indem er die »Dinge«, die »Gegenstände«, als durch und durch anthropomorphisch geprägt und dabei die sprachliche Repräsentation in den Vordergrund rückte. Das Verhältnis des Menschen zur Welt sei ein metaphorisches. »Wahrheit« ist für Nietzsche ein »bewegliches Heer von Metaphern«, sie ist also nicht bestimmt durch ihr Verhältnis zur Sache sondern durch das Verhältnis der Metaphern untereinander (durch die Relation der Signifikanten, sagt dann de Saussure ca. 40 Jahre später).

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Das bedeutet für Nietzsche keineswegs ein »anything goes«, das Metapherngefüge ist eine feste obligate Konstruktion. Schärfer formuliert: »die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind«, wobei mit Begriffen zu arbeiten bedeute, »nach einer festen Konvention zu lügen« (freilich um »anschlussfähig« zu bleiben!). Die Kontinuität von Welt zum Begriff war damit gekappt! Erkennen bewegt sich in einem Korpus von Zeichen, die auf sich selbst verweisen und nicht auf die Dinge. Und die Bedeutungen generieren sich durch die Relationen und Differenzen der Zeichen untereinander. Die epistemologischen Konsequenzen und Folgeprobleme sind enorm, scheinen aber nicht großartig in die Wissenschaftspraxis und ihr Selbstverständnis eingesickert zu sein. Das wissenschaftliche Arbeiten operiert, als könne man zwischen Begriff und Metapher, zwischen einer vollen und buchstäblichen, das Seiende selbst aussagenden und einer im »bloß übertragenen Sinne«, also »bloß metaphorischen« Sprache klar unterscheiden.

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Blumenberg bezeichnet das althergebrachte, klassische Selbstverständnis der Wissenschaft als den Weg vom Mythos zum Logos, also von der Metapher zum Begriff. Die Bedeutung des Begriffs, cartesianisch bestimmt, lag in der klaren, buchstäblichen und passiven Vergegenständlichung der Dinge. Die Metapher, die Analogie, das Bild, kann i. d. S. nur verstanden werden als sekundär, vorläufig, als Hilfsmittel, wenn nicht gar als »falsch«, ist die Metapher doch eine Über-tragung von einem Bereich in einen anderen, »uneigentlichen«. Aber die beanspruchte qualitative Differenz von Begriff und Metapher fällt mit Nietzsche in der Philosophie, mit de Saussure in der modernen Linguistik in sich zusammen. Das Metaphorische ist unhintergehbar. Diese Dimension fasst Lüdemann mit dem Begriff des gesellschaftlich Imaginären, jenes Rhetorisch-Performative, das die Wahrnehmung des »Gegenstandes« (hier: ›Gesellschaft‹) strukturiert und bestimmt.

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Gesellschaft als Organismus:
Beispiel Emile Durkheim

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Ob ›Gesellschaft‹ als ›Organismus‹ oder als ›Mechanismus‹ (Natürlichkeit / Künstlichkeit), als Vertragsverhältnis oder als Familie etc. konzipiert wird, Lüdemann weist nach, dass sich die Soziologie bei der Repräsentation ihres Gegenstandes an den metaphorischen Beständen der alten philosophischen und theologischen Traditionen abarbeitet. Die Soziologie, so Lüdemann, konstituiert sich als Wissenschaft schlechthin über den Metapherntransfer (S. 24). Im Blick der Autorin sind zwei zentrale Metaphern der Gesellschaft, mit denen sich die Soziologie und Sozialphilosophie das unerreichbare Ganze »vertretend vorstellig« (Blumenberg) machte: Organismus und Vertrag. Beide Metaphoriken lassen sich historisch bis in die Antike zurückverfolgen, unterliegen im geschichtlichen Verlauf Modifizierungen, bleiben aber kontinuierlich als Referenzparadigmen erhalten (S. 26).

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Bei der Analyse der Organismus-Metapher wählt Lüdemann frühe soziologische Schlüsseltexte. Dies ist zum einen Emile Durkheims De la division du travail social (Über soziale Arbeitsteilung) (1893), zum anderen Ferdinand Tönnies Gemeinschaft und Gesellschaft (1887). Durkheims Text hat ganz entscheidende Auswirkungen auf die weitere soziologische Theoriebildung gehabt, z.B. als »founding father« des Strukturfunktionalismus bei Talcott Parsons bis hin in die Theorie des Parsons-Schülers Niklas Luhmann. Insofern ist Lüdemanns Vorgehen reizvoll, denn am Beispiel Durkheims könnte man die Entwicklung der Organismus-Metapher letztlich bis hin zur aktuellen soziologischen (System-)Theorie (Luhmann) weiterverfolgen, baut der Begriff des Systems doch soziologiegeschichtlich auf der Tradition der Organismus-Metapher und ihrer Umbauprodukte auf (S. 38).

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Emile Durkheim stand vor dem Problem der Begründung und Etablierung der akademischen Soziologie als Fachwissenschaft und arbeitete an einem tragfähigen Konzept des soziologischen Gegenstandes. In Abgrenzung zum Vertrags-Paradigma entwickelte er ein Konzept von ›Gesellschaft‹ mithilfe von Analogiebildungen, die er aus der Biologie entlehnte. Tatsächlich liest sich Über soziale Arbeitsteilung streckenweise wie eine biologische Abhandlung. Durkheims Behauptung einer »organischen Solidarität« als der Kitt, welcher eine Gesellschaft zusammenhält, überträgt die Vorstellung eines Organismus, in dem die differenzierten Teile sich ergänzen, auf das Soziale und erklärt damit ›Gesellschaft‹ als Naturzusammenhang. ›Gesellschaft‹ ist mithilfe der Organismus-Metapher als Teil der Natur konzipiert und unterliegt somit auch »Naturgesetzen«, so kann Durkheim auch aus der Feder fließen, es gäbe in der »Gesellschaft« »normale« Entwicklungen und »pathologische«, wobei letztere den »organischen« Zusammenhalt störten. Die Kluft zwischen Kultur und Natur ist mithilfe der Metapher einfach übersprungen!

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Es geht Lüdemann nicht darum, die Schwächen einer solchen theoretischen Vorgehensweise zu zeigen, auch nicht darum, die Metapher als Metapher zu entlarven. Im Falle Durkheims fällt es (aus heutiger Sicht!) nicht schwer, die metaphorischen Implikationen und Strategien wahrzunehmen. Es geht vielmehr um den präskriptiven und performativen Gehalt des Metapherngebrauchs, um die semantische Erzeugung des Gegenstandes und das damit verbundene bedeutungsgenerierenden Potenzial. Dies dekonstruiert eine Sicht, die sich dünkt, sie beschreibe durch das »auf den Begriff bringen« ihren Gegenstand, welcher vorher schon existierte, lediglich passiv.

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Die Metapher, die in der behaupteten Ähnlichkeit oder Wesensgleichheit von ›Gesellschaft‹ und Organismus über-setzt wird, bildet ja diese Ähnlichkeit oder Gleichheit nicht ab, sondern erzeugt sie vielmehr erst. Die Wahrnehmung und Vorstellung von ›Gesellschaft‹ wird durch die Metapher strukturiert und bestimmt. Und dies hat dann Konsequenzen in der Analyse und Bewertung von gesellschaftlichen Prozessen und Problemen. Zur »epistemologischen Ambivalenz der Metapher« (Derrida) gehört es, das die Metapher als Metapher nicht wahrgenommen und wörtlich genommen werde, sozusagen zum Status des Begriffs aufsteigen kann. Dies äußert sich dann in der Hypostasierung der metaphorischen Rede: die organische Konzeption von ›Gesellschaft‹ wird zu einer Eigenschaft des Realen, weist als metaphorischer Sekundäreffekt ›Gesellschaft‹ als Organismus aus und sie ist in den Konsequenzen dann Organismus mit den dazugehörigen Konnotationen.

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Gemeinschaft und Gesellschaft:
Beispiel Ferdinand Tönnies

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Tönnies Gemeinschaft und Gesellschaft ist aus ganz ähnlichem metaphorischem Holz gebaut (S. 127 ff.). Die normative Konnotation ist gegenüber Durkheim nur umgekehrt. Vertraut dieser auf eine progressive, »organisch-natürliche« »Gesellschaftsentwicklung«, ist für Tönnies »Gesellschaft« das Verfallsprodukt einer »organisch« zusammengehaltenen vergangenen »Gemeinschaft«. Die Organismus-Metapher mit ihren Konnotationen von Substanz, Einheit, Identität, unmittelbarer Durchdringung, Zusammenhalt etc. ist der unter(ge)legte Konstitutionsgrund, auf dem die Kategorie der »Gemeinschaft« ersteht und ihre Wirkung entfaltet.

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Lüdemann stellt auch anhand der Rezeptionsgeschichte von Gemeinschaft und Gesellschaft die performative Kraft der Metapher heraus, indem sie zeigt, wie diese Zwillingskonstruktion zum Begriff und darüber hinaus zu einer sozialontologischen Realität hypostasiert wurde, obgleich Tönnies es als idealtypisch konstruiert verstandenen wissen wollte. Die Metapher war als Metapher nicht erkennbar und tauchte als effet de réel im Realen reifiziert wieder auf. Auch an diesem Beispiel ist es (aus heutiger Sicht und gerade nach 1945) nicht schwer, das Metaphorische zu erkennen. Die Analyse legt aber einmal mehr den Blick auf die Mechanismen der metaphorischen Konstitution frei und auf die Ambivalenz, die eine Unterscheidung zwischen Begriff und Metapher unmöglich macht und den Begriff als eine »Illusion der Buchstäblichkeit« (S. 44) dekonstruiert.

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Wichtig ist zu betonen, dass die Autorin eine Auswahl trifft – Texte Durkheims und Tönnies für die Organismus-Metapher, Texte von Hobbes (als Nicht-Soziologe!) zur Analyse der Vertrags-Metapher – die nicht pars pro toto verstanden werden können. Die soziologische Theorielandschaft ist viel mehrdimensionaler, sodass die ausgewählten Beispiele nur einen Teil, nur eine bestimmte Figur darstellen. An verschiedenen Stellen erweckt Lüdemann den Eindruck, als wäre die Ausrichtung an der Organismus-Metapher die zentrale Konstitutionsfigur der frühen Soziologie. Nicht nur, dass derartige holistische Konstruktionen sehr unterschiedlich ausgearbeitet wurden, eine Überbetonung dieser Figur wird dem multiparadigmatischen Charakter der Soziologie nicht gerecht. So wären z.B. nur in Deutschland vor allem die Soziologiekonzeptionen von Georg Simmel und Max Weber anzuführen, die sich auf andere Traditionen beziehen und den Gegenstand der Soziologie völlig different konzipieren. Kurz: Lüdemanns Zugriff wirkt in den Anwendungsbeispielen etwas verengt und der Blick für die Diversität und Vielfalt soziologischer Konzeptionen geht dabei verloren.

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Gesellschaft als Vertragsverhältnis:
Hobbes Staatstheorie

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Bei der Untersuchung der Vertragsmetapher nimmt die Autorin die Staatstheorie von Thomas Hobbes bzw. die darin enthaltenen Elemente des »Gesellschaftsvertrages« zur Grundlage. Warum hier ein Nicht-Soziologe und warum eine Staatstheorie? Interessant wäre doch gewesen, einen dezidierten Soziologie-Entwurf mit Ausrichtung an der Vertrags-Metapher gegen die Interpretationen zur Organismus-Metapher zu stellen. Hobbes Theorie referiert auf Politik, nicht auf Sozialität! Eine solche Differenz wird von der Autorin nicht eingeholt und das bringt die Analyse der Vertrags-Metapher in eine Schieflage gegenüber der Abhandlung zur Organismus-Metapher.

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Wie kann aus diesem Bezugsrahmen ›Gesellschaft‹, um die es doch als Grundbegriff zentral geht, analysiert werden? Und wie kann die Begriffsbildung beobachtet werden, wenn die Referenz verschoben ist? Ist es mit Durkheim und der »organischen« Tradition immerhin möglich, eine Kontinuitätslinie zur aktuellen Systemtheorie zu ziehen und so an einer aktuellen Theorie kritisch anzusetzen (was die Autorin anspricht, aber nicht ausführt), bleibt die Vorstellung der Vertrags-Metaphorik bei Thomas Hobbes quasi im historischen Raum als (zwar einflussreicher aber) antiquierter Entwurf stehen, ohne dass hier die Weiterentwicklung hin zu zeitgenössischen und komplexitätsangemessenen Theorien aufgezeigt würde. Prekär ist diesbezüglich vielleicht, dass gerade die soziologische Rezeptionslinie des Hobbes über Herbert Spencer wieder im »organologischen« Denken bei Durkheim und dann bei Parsons System-Begriff ankommt. Vielleicht mag dies ein Grund dafür sein, dass Lüdemann Hobbes quasi isoliert betrachtet.

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Nicht zuletzt werden damit aber auch die Einheitssemantiken und theologisch-metaphysischen Elemente bei Hobbes ausgeblendet (die z.B. schon Carl Schmitt in seiner Politischen Theologie herausgestellt hat), die im Leviathan konstitutiv sind. Diese sind zwar nicht als an einer Organismus-Metaphorik ausgerichtet zu verstehen, sind aber gerade die Implikationen von gesetzter Substanz, Einheit und Identität, gegen die die Autorin die Vertrags-Tradition auffährt. Lüdemann will nämlich ausdrücklich die Vertrags-Metapher favorisiert wissen. Diese habe gegenüber der Organismus-Metapher den Vorteil, »daß es nicht nur die als Vertragsverhältnis entworfene gesellschaftliche Totalität, sondern auch diesen Entwurf selbst als Konstruktion herausstellt« (S. 13). Schon in der Leitmetaphorik des Vertrages sei gegenüber der des Organismus das konstruktive, fiktive Element mitbenannt. So weist Lüdemann den viel diskutierten hobbes’schen »Naturzustand« (homo homini lupus) als Ursprungsmythos aus, wie aus dieser fiktiven Ursprungssetzung dann der »Gesellschaftsvertrag« quasi als regulative Idee, also als ebenso imaginäres, fikives Element hervorgeht – eine metaphorische »Substitution des Ursprungs [...], der als realer fehlt« (S. 170).

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Aber ist nicht auch die Vertrags-Metaphorik, wie eben jede Metaphorik den effets de réel unterworfen, dem »Wörtlich-Nehmen«, der Reifikation? Und ist es tatsächlich so, dass soziologische Theorien, die sich der Organismus-Metaphorik bedienen, soziale Spaltung und Konflikt zugunsten einer prästabilisierenden Harmonie verdecken und verdrängen (S. 126), während die Vertrags-Metapher Konflikt- und Machtprozesse, die im Sozialen eingelassen sind, besser in den Blick bekommt, da sie auf Künstlichkeit und nicht auf Natürlichkeit gemünzt ist? Durkheims Sorge galt dem Versagen des sozialen Zusammenhalts, der Anomie, und dies beinhaltete doch sehr wohl die Wahrnehmung von Auflösung und Konflikt. Ein Organismus in seiner Natürlichkeit ist auch immer mit dem Tod bedroht, mit Verletzlichkeit, mit Auflösung, mit Kollaps! Dies darf bei aller Kritik an der Organismus-Metaphorik nicht außer acht gelassen werden!

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Letztlich sind daher die Interpretationen, die Lüdemann dem sehr gelungenen theoretischen Teil in ihrem Buch folgen lässt, nicht immer ohne weiteres überzeugend. Die Beispiele zur Organismus-Metaphorik dienen gut der Veranschaulichung des theoretisch vorgestellten Materials und zeigen die rhetorischen Mechanismen soziologischer Begriffsbildung in gelungener Weise auf. Die Vertrags-Metaphorik als die »bessere« Metapher gegen die Organismus-Metapher zu stellen, vermag in den Ausführungen gerade am Beispiel Hobbes nicht recht einzuleuchten, nicht zuletzt weil unklar bleibt, wie sich dies auf eine aktuelle Soziologie und ihre Begriffe beziehen kann.

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(Post)strukturalistische Infusionen

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Die von Susanne Lüdemann ausgeführten sprachtheoretischen, dekonstruktiven Interventionen reflektieren die Begriffsbildungen der Soziologie und deren sprachlich-rhetorische Verfasstheit. Sie stellen grundsätzlich die Frage nach der soziologischen Repräsentation und Repräsentierbarkeit ihres Gegenstandes. Repräsentation ist dann zu denken als konstitutive rhetorische Herstellung des Gegenstandes. Die Frage ist hier: Wie schafft sich die Soziologie ihren Gegenstand? Was sind die rhetorischen Konstitutionsbedingungen des Sozialen? Hat sich mit de Saussure nicht ein Paradigmenwechsel abgezeichnet, den die Soziologie verschlafen hat? Wenn man annimmt, dass im 20. Jahrhundert die Linguistik die Biologie als Leitwissenschaft abgelöst hat, wie verhält sich die Soziologie zu diesem linguistic turn?

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Lüdemann stellt die Realität generierende Kraft des Diskursiven in den Vordergrund. Das ist folgerechte Konsequenz aus den linguistischen Erkenntnissen von de Saussure, der strukturalen Psychoanalyse Lacans, der Dekonstruktion Derridas. Die Fragestellung verschiebt sich vom: »Was ist das Soziale/die Gesellschaft?« zu »Wie wird das Soziale/die Gesellschaft durch diskursive Praktiken und Techniken hergestellt?« Dies bedeutet nicht, dass die erste Frage beantwortet wäre sondern geht davon aus, dass diese Frage nicht beantwortet werden kann ohne den Täuschungen der sprachlich-metaphorischen Repräsentation zu erliegen. Es wird demgegenüber die prinzipielle Grundlosigkeit des Sozialen angenommen, die Unmöglichkeit einer Totalisierung des Gegenstandes.

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Lüdemann leistet somit einen wertvollen und kritischen Beitrag, die Soziologie über sich selbst aufzuklären. Über ihre metaphorischen Bestände, die sie (oft unreflektiert) mitschleppt und über die (selbst verschuldete) Blindheit ihrer präskriptiven und performativen Begriffe, deren Dekonstruktion erst durch eine sprachtheoretische (post)strukturalistische Infusion geleistet werden könnte. Solche Penetrationsvorstöße laufen aber Gefahr, an den Schließungstendenzen der Soziologie abzuprallen, an den effets de réel der Einheitssemantiken, die (oft implizit) nach totalisierenden Darstellungen von ›Gesellschaft‹ verlangen. Das Trägheitsmoment in der Soziologie scheint sehr stark zu sein, zumal akademische Institutionalisierung und disziplinspezifische Ordnungs- und Gruppenzwänge solche vermeintlich »gefährlichen« (weil gattungseinebnenden?) Öffnungen nachhaltig abschotten. Warum sonst wurde und wird Strukturalismus und Poststrukturalismus in der Soziologie nicht nennenswert diskutiert und aufgenommen, was in den Sprach- und Literaturwissenschaften bereits in den 80er Jahren auf breiter Basis geschehen ist? Susanne Lüdemanns Arbeit ist als ein Vorstoß in diese Richtung sehr zu begrüßen!