IASLonline

Liebessemantiken: Romantik / Neue Sachlichkeit

  • Elke Reinhardt-Becker: Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und Neuen Sachlichkeit. Frankfurt/M., New York: Campus 2005. 344 S. Kartoniert. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 3-593-37723-3.
[1] 

Die den Titel dieser Abhandlung bestimmende semantische Gegenüberstellung zwischen »Seelenbund« und »Partnerschaft« entspricht dem im Verlauf der Argumentation funktional gebrauchten Dual zwischen dem ›romantischen Tiefen- und dem sachlichen Oberflächendiskurs‹. Charakterisiert werden damit sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht zwei Liebesmodelle, wie sie einerseits für die Romantik und andererseits für die Neue Sachlichkeit kennzeichnend sind. Diese stehen »in jedem Punkt«, so Elke Reinhardt-Becker bereits am Anfang ihrer Studie, in vollkommener Asymmetrie zueinander, ist doch »die ›moderne Liebe‹ das genaue Gegenteil ihrer romantischen Rivalin« (S. 39).

[2] 

Im Sinne dieser Zuspitzung wird im Fortgang der Analyse eine ganze Fülle fast spiegelverkehrt aufeinander abgebildeter Subunterscheidungen vorgestellt. Während die romantische Liebe auf dem Individuum aufbaut, besteht das zentrale Merkmal der sachlichen Liebe in der Entindividualisierung der beteiligten Liebespartner; erfüllt sich die romantische Liebe im gegenseitigen, wenngleich sprachlosen Verstehen, so ist die partnerschaftliche Beziehung, wie sie die Neue Sachlichkeit denkt, vor allem auf gemeinsame Aktivitäten ausgerichtet; bildet sich die romantische Liebe in Abgrenzung zur Gesellschaft, begreift sich demgegenüber die sachliche Liebe als soziales Phänomen, postuliert die Romantik eine Exklusivität der / des Geliebten, weiß die sachliche Liebe um die Kontingenz der Partnerwahl, um nur einige der grundlegenden zentralen Oppositionen zu nennen.

[3] 

So beschreibt Reinhardt-Becker zwei literarhistorische Standpunkte, welche das 19. Jahrhundert rahmen und den Eintritt in die Moderne des 20. Jahrhunderts vollziehen. Entscheidend ist, daß Elemente beider Liebesdiskurse, wie die Verfasserin im Schlußteil ihrer Abhandlung festhält, die heutige Semantik noch prägen. Nicht zuletzt vom Standpunkt dieser ungebrochenen Aktualität aus, daß heißt von der Feststellung ausgehend, daß die gegenwärtige Liebessemantik sich maßgeblich sowohl an der romantischen als auch an der sachlichen Liebe orientiere, erfährt die hier vorgenommene literarhistorische Zusammenführung besondere Plausibilität.

[4] 

Die Thematisierung der Liebeskonzepte setzt aber auch eine Reflexion des jeweiligen sozialhistorisch relevanten Frauenbildes voraus, wie die vorliegende Studie immer wieder bekennt, weshalb ihr eine erkennbare genderanalytische Dimension eignet. In dieser Hinsicht zumindest läßt sich die Beziehung zwischen Romantik und Neuer Sachlichkeit nicht nur kontrastiv, sondern auch als eine aufeinander aufbauende und zunehmende Emanzipationsentwicklung bestimmen. So folgt auf das im romantischen Kontext stark vertretene Spiel der Geschlechtermaskierung, mithin den Topos der androgynen Frau, in welchem »der Idee der Naturfrau eine deutliche Absage erteilt« (S. 154) wird, im Kontext der Neuen Sachlichkeit eine Angleichung der Geschlechter. Hier wie dort werden, wenn auch im unterschiedlichen Maße und mit unterschiedlicher Konsequenz, die Grenzen zwischen dem Bild der Männlichkeit und Weiblichkeit verrückt oder kurzzeitig aufgehoben. Nicht unerheblich ist in diesem Zusammenhang gleichwohl, daß Reinhardt-Becker in ihrer liebessemantischen Untersuchung ausschließlich heterosexuelle Beziehungen in den Blick nimmt. Dabei ließen sich – vor allem abseits der eindeutig explizierenden semantischen Strukturen – in beiden hier behandelten Epochen auch Beispiele für gleichgeschlechtliche Liebe finden.

[5] 

Das zugrundegelegte Textkorpus ist durchaus kanonisch und auf Erzählliteratur, schwerpunktmäßig auf Romane ausgerichtet. Einerseits werden die literarischen Quellen von der Verfasserin exemplarisch gelesen, gilt es doch die Liebeskonzepte als Ausdruck allgemeiner gesellschaftlicher Diskurs- und Semantikordnungen zu deuten. Was Literatur verhandelt, ist demnach als Reflex der jeweiligen sozialhistorischen Konstitution aufzufassen. Auf dieser Grundlage schließt die vorliegende Arbeit an die systemtheoretische Analyse historischer Semantik sowie die diskursanalytische Perspektive an. Beiden Ansätzen ist sie ausdrücklich verpflichtet, obschon letzterer in geringerem Maße umgesetzt wurde. Als Ressource »semantische[r] Innovationen« wird der Literatur andererseits jedoch auch ein herausragender Status zugewiesen. Sie sei »neben der Philosophie der bevorzugte Ort, an dem Antworten auf diese Probleme entworfen und neue Modelle für das menschliche (Zusammenleben-)Leben erprobt werden« (S. 23). Die einzelnen Lektüren suchen aber nicht diesen Aspekt herauszustellen. Von Bedeutung sind vielmehr charakteristische Merkmale, welche sich den narrativen Zusammenhängen der Texte entnehmen und als signifikante semantische Konstellationen beschreiben lassen.

[6] 

Dabei wäre ein Zugriff, welcher die formalen Strukturen und semiotischen Bewegungen der Texte genauer unter die Lupe nähme, stellenweise wünschenswert gewesen. So erhellend und prägnant es Reinhardt-Becker gelingt, die zwei Typen beziehungsweise Modelle der Liebessemantik anhand der literarischen Texte abzugrenzen, ja mit Hilfe dieser Abgrenzung in ihrer jeweiligen Spezifik überhaupt erst zu konturieren, ein wenig unbefriedigt bleibt durchaus das Begehren nach eingehender Interpretation. Ein Manko, welches der Verfasserin nur bedingt anzukreiden ist, da sie mit ihrer Studie ein anderes Ziel verfolgt. Denn nur soweit und ausschließlich im Hinblick darauf, wie die Texte über die Semantik der von ihnen repräsentierten Epoche Aufschluß gewähren, werden sie ausgelegt. Der Semantikbegriff ist dabei recht voraussetzungsvoll als »die Gesamtheit dessen, was die Welt sinnhaft konstituiert«, wie Reinhardt-Becker Niklas Luhmann zitiert, zu verstehen. Er erfaßt »die Summe aller Formen«, heißt es weiter, »die der Wirklichkeit und dem menschlichen Existieren in dieser Wirklichkeit Bedeutung zuschreiben« (S. 43). Zu fragen bleibt schließlich doch, ob nicht neben der narrativen auch andere textuelle Schichten auf ihren Beitrag zur historischen Semantik zu prüfen seien.

[7] 

Reinhardt-Becker legt mit ihrer Analyse, die eine überarbeitete und stark gekürzte Fassung ihrer Dissertation ist, ein aufgrund seiner erhellenden und transparenten Argumentation sehr lesenswertes Buch vor. So bereichert sie das ohnehin schon reich bestückte Feld der Untersuchungen zur Sozialgeschichte der Liebe mit einer Arbeit, welche durch die ebenso überraschende wie plausible Gegenüberstellung von Romantik und Neuer Sachlichkeit ein ganzes Bündel wichtiger Strukturmerkmale formuliert. Die jeweiligen Eigenheiten dieser beiden Epochen macht sie dabei gerade mittels der unwahrscheinlichen, gleichwohl aber in der Asymmetrie engen Beziehung besonders greifbar.