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Zwischen Empirie und Spekulation

Geschichte der Medizin und Philosophie im Dialog über die anthropologische Diskussion um 1800

  • Katja Regenspurger / Temilo van Zantwijk (Hg.): Wissenschaftliche Anthropologie um 1800? Stuttgart: Franz Steiner 2005. 139 S. Broschiert. EUR (D) 37,00.
    ISBN: 3-515-08567-X.
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Anthropologische Forschung und Literatur:
zur allgemeinen Forschungssituation

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Mit der kulturwissenschaftlichen Reformierung der Geisteswissenschaften setzte auch in Deutschland in den achtziger Jahren ein Prozess der Neukartierung von Forschungslandschaften ein. Forschungsfelder, die bislang in einem der traditionellen akademischen Fächer beheimatetet gewesen waren, wurden nun einer Neubetrachtung in interdisziplinärer Perspektive unterzogen. Zu diesen Feldern zählt auch die Anthropologie. War diese zuvor, zumindest primär, in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie gefallen, so avancierte sie nunmehr zu einem der produktivsten Forschungsgebiete der im Entstehen begriffenen »Kulturwissenschaft«. Doch handelte es sich hier nicht einfach um den »Umzug« einer alten Disziplin in eine neue Wohnung, vielmehr wurde zugleich der Gegenstandsbereich der Anthropologie neu abgesteckt: Nicht mehr »der Mensch« als Abstraktum war Objekt neuerer anthropologischer Forschung, gefragt wurde vielmehr nun nach den »vielseitigen kultursozialen Bedingtheiten« 1 , d.h. den historisch je spezifischen Konditionen menschlichen Handelns, Denkens und Fühlens.

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Neben der »Historischen Anthropologie« bzw. Mentalitätsgeschichte als Forschungsfeld der kulturwissenschaftlich reformierten Geschichtswissenschaft formierte sich innerhalb der Literaturwissenschaft die sogenannte »Literarische Anthropologie« als relativ eigenständiger Forschungsbereich. Angeregt durch eine richtungweisende Untersuchung Helmut Pfotenhauers 2 entwickelte sich am Ende der achtziger Jahre eine breite Diskussion um die Rolle der Literatur bei der Ausformung eines Körper und Seele in ein neues Verhältnis setzenden Bildes vom Menschen in der Epoche der Aufklärung. 3 Dabei stellte sich die von Koselleck so genannte »Sattelzeit« zwischen 18. und 19. Jahrhundert − auch in der vorliegenden Publikation firmiert der inzwischen anscheinend fast unverzichtbare Zusatz »um 1800« im Titel − als besonders aufschlussreich für exemplarische anthropologische Studien heraus. Pfotenhauer und seinen ebenfalls letztlich noch auf der Grundlage klassischer Hermeneutik arbeitenden Nachfolgern, die »das Literarische der Anthropologie und das eigentümlich Anthropologische der Literatur« 4 des 18. Jahrhunderts zu beschreiben suchten, wird allerdings in letzter Zeit zu Recht vorgeworfen, »Literatur und Ästhetik, genauer: Literatur und Ästhetik affine Formen für das Verzeichnis des Einzelfalls und als emphatischer Ort des Humanums« 5 von vornherein zu privilegieren und damit von einer Prämisse auszugehen, die erst noch zu beweisen wäre: dass sich in Literatur und Wissenschaft grundsätzlich voneinander unterschiedene Formen der Rede über den Menschen herauskristallisiert hätten.

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Am Ende der 90er Jahre kam es daher zu einer Neuorientierung der anthropologischen Forschung innerhalb der kulturwissenschaftlich reformierten Literaturwissenschaft. Der von Joseph Vogl 1999 herausgegebene Band Poetologien des Wissens um 1800 6 ist neben einigen anderen 7 Dokument dieser Trendwende. Anders als die zuvor erwähnten Studien gehen diese Untersuchungen davon aus, dass ein literarischer bzw. ästhetischer Text nur »eine von mehreren realisierbaren Repräsentationsweisen [ist], die eine Wissensordnung ausbildet« 8 , und demnach zunächst als gleichrangig mit anderen, nicht-literarischen Texten oder Repräsentationsweisen betrachtet werden muss. In diesen Arbeiten, die sich als Beiträge zu dem Großprojekt einer »Geschichte des Wissens« 9 verstehen und sich insbesondere mit dem kulturellen Wissen vom Menschen beschäftigen, wird daher das Etikett »literarische Anthropologie« bewusst vermieden.

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Angeregt einerseits durch Michel Foucaults Vorhaben einer die Regelungsmechanismen historisch spezifischer Diskursformationen freilegenden »Archäologie des Wissens« 10 und andererseits durch die Arbeiten Stephen Greenblatts, der als Exponent des amerikanischen New Historicism die Austauschprozesse zwischen einzelnen kulturellen Praktiken analysiert, 11 sind auch im deutschsprachigen Bereich inzwischen eine Reihe von Untersuchungen entstanden, die literarischen bzw. ästhetischen Texten nicht mehr von vornherein eine herausragende Rolle bei der Entstehung der epistemischen Formationen einer Epoche einräumen. Nicht-literarische Texte aus dem Bereich der empirischen Natur- und Humanwissenschaften, aber etwa auch aus dem der Mathematik, der Jurisprudenz oder des Ingenieurwesens 12 werden von der jüngeren Forschung nicht mehr lediglich als Quellen betrachtet, aus denen sich ästhetische Texte speisen, ebensowenig werden diese wissenschaftlichen Texte in Bausch und Bogen der Literatur einverleibt, indem eine wie auch immer geartete literarische Struktur in ihnen herausgearbeitet würde; vielmehr geht es der aktuellen anthropologischen Forschung darum, »parallellaufende Prozesse« 13 zu beschreiben und die Modalitäten des Austauschs zwischen Kunst, Theorie und Wissenschaft in einer historisch gegebenen kulturellen Formation herauszuarbeiten.

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Für den anthropologisch interessierten Literaturwissenschaftler hat diese Entwicklung die Konsequenz, dass er seinen Blick erweitern muss: einerseits kommt er nicht mehr umhin, Forschungen aus Disziplinen in die eigenen Überlegungen einzubeziehen, die in früheren Jahrzehnten als fachfremd ausgeschieden worden wären; andererseits kann er sich nicht mehr auf die einfache Frage beschränken, wie andere Wissenschaftsgebiete sich in der Literatur als einer von vornherein als privilegiert angesehenen Form der Rede vom Menschen niederschlagen. Ein möglichst offener und unvoreingenommener Blick auf das scheinbar abseits Liegende ist für jeden Literaturwissenschaftler, der die kulturwissenschaftliche Wende mitvollziehen will, zur Notwendigkeit geworden.

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Kommunikationsverdichtung: Ansatz
und Ziele des Bandes

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Diese knappe Skizze der momentanen Forschungssituation mag die Begründung dafür liefern, warum die oben angezeigte Publikation aus der Reihe »Wissenschaftsgeschichte« des Franz Steiner Verlags überhaupt Gegenstand einer Rezension für eine Zeitschrift bilden sollte, die sich – in ihrer gedruckten, von IASLonline unabhängigen Ausgabe – als Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur versteht. Der schmale Band präsentiert Ergebnisse eines Workshops, der im April 2004 im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 482 Ereignis Weimar − Jena. Kultur um 1800 stattgefunden hat, der seinerseits in seiner interdisziplinären Struktur den oben beschriebenen neuen Prämissen der Forschung zu den Verflechtungen von Wissenschaft und Ästhetik Rechnung trägt. Erklärtes Ziel des Sonderforschungsbereiches ist es nämlich,

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über eine umfassende Materialerschließung und eine systematische Analyse die unterschiedlichen personellen, strukturellen und ideengeschichtlichen Konstellationen im Ereignisraum aus dem Blickwinkel der verschiedenen beteiligten Disziplinen neu zu beschreiben und über deren Vernetzung in einem holistischen Zugriff angemessene Fragestellungen zu entwickeln. 14
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Spezifikum dieses Ereignisraums sei, so heißt es auf der Internetseite des SFBs, nicht nur die räumliche Nähe der beiden komplementär aufeinander bezogenen Orte Weimar und Jena, sondern auch »die bewußt gesuchte und geförderte intellektuelle Nähe zwischen Wissenschaften und Literatur bzw. Kunst«. 15

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Alle Einzelforschungsprojekte, die unter dem Dach des SFBs zusammenarbeiten, beziehen sich daher in doppelter Weise auf den Begriff der »Kommunikationsverdichtung«: Einerseits ist die außergewöhnliche Kommunikationsverdichtung im »Ereignis Weimar – Jena« zentraler Gegenstand der Forschungen, andererseits lässt sich auch das dem SFB zugrundeliegende methodische Verfahren als eines der Kommunikationsverdichtung beschreiben. Der vorliegende, acht Einzelbeiträge umfassende Band setzt diese auf die Förderung interdisziplinärer Kommunikation abzielende Methodik insofern um, als er ein produktives Forschungsgespräch zwischen den akademischen Fächern Philosophie und Geschichte der Medizin initiiert.

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Im Vorwort skizzieren die Herausgeber Katja Regenspurger (Geschichte der Medizin) und Temilo van Zantwijk (Philosophie) die dieses Forschungsgespräch leitenden Überlegungen: Erstmals, so lasse sich konstatieren, seien um 1800 zwei Begriffe miteinander in Verbindung gebracht worden, die vorher nicht aufeinander bezogen wurden: Anthropologie und Wissenschaft. Sowohl Philosophen als auch Mediziner − exemplarisch genannt werden Schmid, Hufeland und Loder − verwendeten neuerdings das Kompositum »wissenschaftliche Anthropologie« und kennzeichneten solcherart ihr gemeinsames Ziel, ausgehend von der Philosophie Kants Medizin und empirische Psychologie »als Wissenschaften unter dem Dach einer allgemeinen Anthropologie« zu begründen (S. 7). Die neue Wortfügung verweist somit auf das Ziel, bisher getrennte Denk- und Forschungstraditionen zusammenzuführen.

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Mit diesem Ziel korrespondierten allerdings insofern auch Tendenzen der Segregation, als zugleich die Bildung von wissenschaftlichen Teildisziplinen befördert wurde: Um 1800, das möchte der Band also auch zeigen, differenzierte sich die Wissenschaft vom Menschen in medizinische, psychologische und philosophische Anthropologie aus. Die Herausgeber betonen, dass es sich bei diesen drei Fachgebieten um 1800 noch nicht um wissenschaftliche Disziplinen im heutigen Sinne gehandelt habe, und zwar deshalb, weil der Begriff der »Wissenschaft« in dieser Zeit erst noch gesucht worden sei: »Was eine Erkenntnis als eine speziell wissenschaftliche Erkenntnis qualifiziert und wo der Horizont wissenschaftlicher Erkenntnis im Gesamtumfang möglicher Erkenntnis zu ziehen sei, ist offen.« Gemeinsam sei den genannten Fachgebieten allerdings der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, und gerade dieser habe zu einer theoretischen Auseinandersetzung geführt, innerhalb derer »der Begriff ›Anthropologie‹ einer der aspektreichsten Analysen unterzogen [wird], die er je erfahren hat« (S. 8).

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Die acht Beiträge wollen also eine anthropologische Diskussion nachvollziehbar machen, die einerseits innerhalb von im Entstehen begriffenen Fachgebieten geführt wurde, andererseits aber auch zwischen ihnen. U.a. widmen sie sich der Physiologie, der Makrobiotik, der populären Medizin, der »gerichtlichen Arzneywissenschaft« sowie der frühen Hirnforschung − jeweils in ihren Bezügen zur zeitgenössischen Philosophie. Ergänzt wird der Band durch ein umfangreiches gemeinsames Literaturverzeichnis, in das sowohl die zeitgenössischen Quellen als auch die Forschungsliteratur zum Themenkomplex »wissenschaftliche Anthropologie« aufgenommen worden sind. Zudem enthält der Band eine Auswahlbibliographie des SFBs 482, die allerdings nur Sammelbände und Monographien verzeichnet. Ausführlichere Informationen bietet hier die Internet-Seite des SFBs.

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Physiologie zwischen
Philosophie und Medizin

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Den ersten Beitrag, »Allgemeine Lebenswissenschaft? Physiologie zwischen Philosophie und Medizin«, steuern die beiden Herausgeber selbst bei. Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts, so stellen die Autoren eingangs fest, wurde die physiologia medica noch im Wesentlichen materialistisch konzeptualisiert: Sie war nichts anderes als die deskriptive Lehre vom menschlichen Körper und den Verrichtungen der Organe. Um 1800 nun geriet diese Auffassung in die Kritik. Der Jenaer Philosoph Carl Christian Erhard Schmid etwa hält die auf Beobachtung und Analogieschluss basierenden Methodik der traditionellen Physiologie für unwissenschaftlich, insofern sie nicht auf einer Theorie beruhe. Physiologie, wie sie bisher betrieben worden war, ist für ihn reine »Zoohistorie«, aber noch nicht »Zoonomie«, Theorie der Gesetze des Lebens (S. 10).

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Auch aus der Naturforschung kamen zur gleichen Zeit Impulse für eine Neukonzeptualisierung der Physiologie: Alexander von Humboldt und Christian Heinrich Pfaff etwa, die Galvanis Theorie der »tierischen Elekrizität« rezipierten und selbst experimentierten, erstrebten eine Erneuerung der Physiologie als empirischer Lebenswissenschaft, ebenfalls mit dem Ziel, sie nunmehr zur »Wissenschaft« zu erheben. Schelling wiederum, der mit seiner Abhandlung Über den Ursprung des allgemeinen Organismus ebenfalls einen Beitrag zur Neufundierung der Physiologie leistete, möchte eine »allgemeine Lebenswissenschaft« gerade nicht empirisch-experimentell, sondern naturphilosophisch-spekulativ begründet wissen. Spekulation ist für ihn mithin keinesfalls mit Wissenschaftlichkeit unvereinbar.

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So nehmen die Autoren Schelling denn auch gegen den im 20. Jahrhundert häufig gegen ihn erhobenen Vorwurf, er habe die Ausbildung einer wissenschaftlichen Physiologie verhindert, in Schutz: Dieser Vorwurf treffe Schelling nur dann, wenn man an einem szientistischen Wissenschaftsbegriff Maß nehme, der dazu zwinge, Schmids an Kant geschulte Konzeption der spekulativen Schellings vorzuziehen. Schelling und Schmid nähmen aber in Wirklichkeit »an derselben Grundlagendiskussion der Medizin in der Philosophie um 1800« teil. Beide hätten dazu beigetragen, dass sich die Physiologie von der deskriptiv verfahrenden Anatomie emanzipiert habe und im 19. Jahrhundert zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin geworden sei. Nicht mehr die Beschreibung von Aufbau und Verrichtungen des menschlichen Körpers standen zukünftig im Zentrum der Physiologie, sondern die »Suche nach dem Prozess und dem Wesen des Lebens« (S. 12).

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Allerdings sehen die Autoren durchaus erhebliche Differenzen zwischen Schmid und Schelling. Für Ersteren ist es Kennzeichen einer »wissenschaftlichen« Naturforschung, dass sie Sachverhalte nicht nur beschreibt, sondern Gesetzmäßigkeiten aufdeckt: Der »Zoonomist« soll »erklären« (S. 20). Die philosophische Bearbeitung der Physiologie dient damit letztlich dem Zweck der Heuristik: Sie vermehrt die empirischen Erkenntnisse nicht, stellt aber Grundbegriffe zur Analyse vorliegender und zukünftiger empirischer Beobachtungen bereit. Dennoch bleibt die Physiologie für Schmid letztlich empirisches Fachgebiet. Darin unterscheidet er sich für die Autoren auch grundsätzlich von Schelling, der die Physiologie als »reine Naturwissenschaft« zu etablieren suche. Seine zentrale Frage, »durch welche Mittel die Natur dem Proceß [des Lebens] Permanenz gebe«, sei gerade nicht empirisch zu entscheiden. Schelling beansprucht als Philosoph, den rationalen Kern der Physiologie bereitzustellen: »Der Begriff Leben soll construiert werden« (S. 22). Damit ist seine Philosophie jedoch keineswegs empiriefeindlich: Schelling versteht vielmehr »den wissenschaftlichen Erkenntniszuwachs gerade als fortschreitende Immunisierung empirischer Theorien durch Kritik im Lichte rationaler Philosophie« (S. 23). Idealerweise aber beflügelt die Empirie die philosophische Spekulation.

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Insgesamt, so die beiden Autoren, berechtigten die aufgezeigten Veränderungen von einer in der Romantik geformten ›neuen‹ Physiologie zu sprechen (S. 26). Der Dialog zwischen empirischer Forschung und philosophischer Reflexion brachte nicht nur Gewichtsverschiebungen im Gegenstandsbereich der Physiologie, sondern auch eine Verschiebung der Stellung des Faches in der Wissenschaftssystematik. Zudem führte der Austausch zwischen Naturforschung und -philosophie zu einer Annäherung der nunmehr zur Lebenswissenschaft erweiterten Physiologie an die Anthropologie, so dass die Begriffe »Physiologie« und »wissenschaftliche Anthropologie« teilweise sogar synonym gebraucht werden.

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Makrobiotik als »Prinzipienlehre
des rechten Lebens«

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Hans-Peter Nowitzki widmet sich in seinem Beitrag der makrobiotischen Lehre des an der Jenaer Universität lehrenden Arztes Christoph Wilhelm Hufeland. Dessen 1797 veröffentlichter und im Laufe der folgenden Jahrzehnte in viele Sprachen übersetzter Bestseller Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlängern müsse, so erläutert Nowitzki, vor dem Hintergrund der für die Aufklärung grundlegenden Idee der »Bestimmung des Menschen« gelesen werden, verstehe doch der Autor sein Werk, das in einen theoretischen und einen praktischen Teil gegliedert ist, als einen »Beitrag zur physischen Erziehung des Menschengeschlechts« und damit letztlich als ein »moralisches Buch« (S. 35).

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Hufelands makrobiotische Lehre baut auf der vitalistischen Aufklärungsmedizin auf und geht davon aus, dass die Dauer des menschlichen Lebens durch gezielte Arbeit an der intellektuellen und physischen Selbstvervollkommnung zu verlängern sei. Anders als die gewöhnliche Medizin ziele sie nicht primär auf die Verhütung und Heilung von Krankheiten, sondern immer auf das Ganze des menschlichen Lebens, so dass es aus makrobiotischer Perspektive beispielsweise besser sein kann, eine Krankheit nicht medizinisch zu bekämpfen, wenn sie die inneren Abwehrkräfte anregt und sich damit langfristig günstig auf die Lebensdauer auswirkt. Generell geht es Hufeland nicht um »bloße Regeln und banale Rezepte«. Vielmehr versteht er die Makrobiotik als eine »Prinzipienlehre des rechten allgemeinen Lebens und damit auch der öffentlichen Wohlfahrt« (S. 39). Für ihn arbeitet sie als der physischen Vervollkommnung dienende Disziplin im Verbund mit der Philosophie, der ihrerseits die Förderung der sittlichen Vervollkommnung obliege.

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Für den literatur- bzw. kulturwissenschaftlich interessierten Leser liefert Hufelands 1810 gehaltene Vorlesung Geschichte der Gesundheit, nebst einer physischen Karakteristik des jetzigen Zeitalters, die Nowitzki als Dokument einer »evolutionären Kulturphilosophie« (S. 46) versteht, möglicherweise noch interessanteres Material als sein Erfolgsbuch zur Makrobiotik. Hier unterscheidet Hufeland zunächst drei Perioden der physischen Geschichte der Menschheit − Urwelt, Alte Welt und Neue Welt − um die letztgenannte Periode, die für ihn mit der Entstehung des Christentums einsetzt, noch einmal in fünf aufeinander folgende »Hauptepochen« zu unterteilen.

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Das achtzehnte Jahrhundert erscheint in der Stufenfolge als Zeitalter der Dekadenz avant la lettre: Hufeland nennt es die »Nervenperiode«, die durch »Luxus, Sittenlosigkeit, Geistes- und Gefühlskultur [und] immer höher steigende Verfeinerung der Menschenorganisation« (S. 49) gekennzeichnet sei und in der alles Physische primär »Nervenkarakter« besitze. Zu Recht erkennt Nowitzki in Hufelands Sicht auf die eigene Zeit den Versuch einer soziokulturellen Begründung des für die literaturgeschichtliche Entwicklung so bedeutsamen Phänomens der Empfindsamkeit. Die Verbindung der Makrobiotik zur Anthropologie sieht Nowitzki darin, dass »sie einer empirisch begründeten, teleologisch fixierten und theologisch verankerten nicht-anthropozentrischen ›Bestimmung des Menschen‹ vorarbeitet« (S. 57). Hufelands Lehre stehe im Kontext einer Moralisierung des Gesundheitsbegriffes, denn ein »lange währendes Dasein in Gesundheit ist [...] als Voraussetzung eines Strebens nach Perfektibilität nicht nur medizinisches Ideal, sondern ethisches Postulat« (S. 59).

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Medizinische Anthropologie als
Populärwissenschaft

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Katja Regenspurger geht in einem weiteren Beitrag auf das populärwissenschaftliche Engagement des Mediziners Justus Christian Loder ein. Dieser etablierte an der Jenaer Universität eine Vorlesungsreihe zur medizinischen Anthropologie, die dem Interesse von Nicht-Medizinern an Anatomie und Physiologie Rechnung tragen sollte. Das Skript dazu publizierte er 1791 unter dem Titel Anfangsgründe der medicinischen Anthropologie und Staats-Arzneykunde. Regenspurger bezeichnet Loders Anthropologiekonzept insofern als reduktionistisch, als Loder unter Anthropologie allein die »Lehre von der Beschaffenheit und dem Nutzen der Theile des menschlichen Körpers« verstehe. Seine Ausführungen zu Anatomie und Physiologie seien »rein deskriptiv angelegt« (S. 62) und setzten somit die Tradition des 16. und 17. Jahrhunderts fort. Zwar leugne Loder nicht die Existenz von psycho-somatischen Wechselwirkungen, doch beziehe er weder die zeitgenössische philosophische Diskussion zum Leib-Seele-Problem noch die Ergebnisse der empirischen Psychologie der Epoche in sein anthropologisches Konzept mit ein. Damit wirke er an der Ausbildung spezialisierter wissenschaftlicher Teildisziplinen innerhalb der Anthropologie mit:

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Für ein genaues Studium der Eigenschaften der Seele und deren Wirkungen auf den Körper verweist Loder auf die psychologische oder philosophische Anthropologie und treibt damit eine eindeutige Trennung der Kompetenzbereiche der beiden Teile der Anthropologie voran. (S. 65)
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Im zweiten Teil seines Werkes, der »Staats-Arzneykunde«, zeigt sich für die Autorin, dass Loder in hohem Maße dem aufklärerischen Nützlichkeitsgedanken verpflichtet war, gehe es ihm doch nicht zuletzt darum, das medizinische Wissen von Laien und besonders betroffenen Berufsgruppen zu vermehren. Auf diese Weise leistete er vor allem einen entscheidenden Beitrag zur »gerichtlichen Arzneywissenschaft«, dem Vorläufer der heutigen Gerichtsmedizin, denn er instruierte die Rechtsgelehrten über strafrechtlich relevante Themen wie unnatürlichen und gesetzeswidrigen Beischlaf, Erstickungen, Vergiftungen, vermeintlichen Kindermord und die Beurteilung des menschlichen Alters. Die ungewöhnliche Themenkombination und die bewusste Nicht-Rezeption außerdisziplinärer Schriften zu anthropologischen Fragestellungen in Loders Schrift erklärt Regenspurger damit, dass sich der Autor in erster Linie an ein akademisch gebildetes Publikum wende, für das er relevante Ergebnisse der medizinischen Forschung in einer »gut verträglichen Dosierung aufbereitet und verabreicht« (S. 69) habe.

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Medizinische und philosophische Anthropologie
am Scheideweg

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Jean François Goubet geht in seinem Beitrag den Spuren der Auseinandersetzung Fichtes mit dem Leipziger Mediziner und Anthropologen Ernst Platner (1744−1818) nach, die sich vor allem in Fichtes Vorlesungen und in der Grundlage des Naturrechts finden ließen. Platner legt in der Vorrede zu seiner Anthropologie für Ärzte und Weltweise (1772) insofern selbst den Grundstein zu diesem interdisziplinären Dialog, als er dort eine harmonische Vereinigung von Medizin und Philosophie explizit fordert und sich auch in der pointierten aphoristischen Schreibweise von den gängigen, streng systematisch angelegten Werken zur medizinischen Anthropologie bewusst absetzt. Dennoch bleibt er der üblichen medizinischen Herangehensweise darin treu, dass er empirische, d.h. physiologische, anatomische, pathologische und psychologische Tatsachen voraussetzt.

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Hierin liegt nun Goubet zufolge der zentrale Unterschied zu Fichtes transzendentalphilosophischem anthropologischen Ansatz: Unter einer »philosophischen« Behandlung des Leib-Seele-Problems versteht dieser nämlich ausdrücklich eine Deduktion, die ohne empirische Tatsachen auskommt, d.h. eine a priori durchgeführte Untersuchung. Dazu passt es, dass Fichte sich augenscheinlich kaum für die Ergebnisse der Jenaer Naturforschenden Gesellschaft interessierte: »Weit entfernt, persönliches Interesse an der bunten Mannigfaltigkeit der Empirie zu zeigen, vertritt Fichte entschieden eine der beiden kantischen Schulen in Jena, nämlich diejenige, die den Apriorismus radikalisiert.« (S. 73) Im Zentrum seiner nicht-kulturalistischen anthropologischen Reflexion steht, so betont Goubet, immer der »strebende Mensch« und damit die kantische Frage »Was macht der Mensch durch Freiheit aus sich selbst?« (S. 74). Anders als die kantische sei allerdings die fichtesche Anthropologie auch nicht moralisch. Sie versuche vielmehr unter Einbeziehung des physiologischen Wortschatzes die überlieferte Leib-Seele-Problematik neu zu formulieren (S. 75).

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Auf die zentrale Frage nach dem Wie der Verbindung zwischen Körper und Seele finden der »philosophische Arzt« Platner und der Transzendentalphilosoph Fichte ganz verschiedene Antworten: Während Platner, von einem ontologischen Dualismus ausgehend, die getrennte Existenz von Körper und Seele annimmt und eine Durchdringung von »Substanzen« für das Ineinandergreifen von Physischem und Psychischem verantwortlich macht, geht Fichte von einer ursprünglichen und unauflöslichen Einheit von Körper und Geist aus, denn für ihn, so Goubet, lässt sich »ein echt menschliches Leben [...] nicht ohne Gefühle, Vorstellungen und Willensakte begreifen« (S. 79). Resümierend stellt der Autor fest, dass die Auseinandersetzung Fichtes mit Platners medizinischer Anthropologie durchaus deutliche Spuren im Werk des Ersteren hinterlassen habe − trotz aller Einwände des Philosophen gegen den platnerschen Ansatz, in der Anthropologie empirische Fakten zur aposteriorischen Bestätigung einer apriorischen teleologischen Begründung zu gebrauchen. Insgesamt aber belegen Fichtes Schriften somit aber einmal mehr die Tendenzen der Segregation, die Regenspurger in ihrem Beitrag auch in Bezug auf Loder festgestellt hatte, sind doch für ihn »philosophische und medizinische Anthropologie [...] nicht länger mit einander in Einklang zu bringen« (S. 85).

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Philosophische Logik,
anthropologisch begründet

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Temilo van Zantwijk macht in einem recht knappen Beitrag mit der kategorialen Anthropologie des Philosophen Jakob Friedrich Fries bekannt. Sein Anliegen ist es, Fries’ nach dessen eigener Aussage »anthropologisch« begründete Erkenntnistheorie, die dieser in seinem System der Logik (1837) niederlegte, gegen den seit dem 19. Jahrhundert immer wieder vorgebrachten Vorwurf des Psychologismus zu verteidigen. Zantwijk zufolge bezieht sich Fries auf verschiedene um 1800 verfochtene Konzeptionen von Anthropologie, unter denen diejenigen Kants und Schmids insofern von besonderer Bedeutung sind, als Fries mit seiner eigenen Konzeption einen dritten Weg zwischen diesen beiden beschreitet. Kant unterscheidet zwischen physiologischer, d.h. auf empirischer Naturforschung beruhender, und pragmatischer bzw. philosophischer Anthropologie und vertritt die Ansicht, dass diese beiden Perspektiven auf den Menschen nicht zueinander in Beziehung zu setzen seien. Schmid hingegen ist insofern Vertreter der Gegenposition, als es für ihn gerade die Aufgabe der philosophischen Anthropologie ist, Ergebnisse der empirischen Forschung in Physiologie und Psychologie zur Klärung der Korrelationen zwischen Körper und Geist zu nutzen.

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Fries schließt sich nun weder der einen noch der anderen Position vollends an, sondern sieht die Aufgabe der philosophischen Anthropologie darin, »eine Theorie der innern Natur unsers Geistes, eine Erklärung der geistigen Organisation unsers Lebens« jenseits bloßer Naturbeschreibung zu suchen. Er fasst die Anthropologie mithin als eine »wissenschaftliche Theorie der objektiven Strukturen des Geistes«. Solcherart gelinge ihm, erläutert Zantwijk, die »Verbindung eines rationalen mit einem empirischen Moment«, denn Fries versuche, »anthropologische Bedingungen menschlicher Erkenntnis aufzuweisen, die in dieser Erkenntnis unübersteigbar und für sie konstitutiv und in dieser doppelten Hinsicht als kategorial zu bezeichnen sind« (S. 89). Insgesamt sei die Anthropologie bei Fries kein Selbstzweck; sie stehe vielmehr »im Dienst der Überführung der formalen Logik in eine Erkenntnislogik« (S. 92). Indem er die Logik anthropologisch begründet, möchte er ein Problem lösen, das die transzendentale Logik Kants nicht zu überwinden vermag: Kant muss sich in seiner Definition der Logik als eines »Kanon[s] des Verstandes und der Vernunft« auf zentrale anthropologische Begriffe beziehen, die aber nicht geklärt werden, so dass auch der Ausdruck »reine Logik« letztlich unbestimmt bleiben muss. Anthropologisch wird die Logik hingegen dann, wenn sie zu klären versucht, »warum ein erkennendes Wesen eine Logik ausbildet und was diese zu seiner Erkenntnis beiträgt« (S. 93). Eigentliches Ziel der kategorialen Anthropologie Fries’ ist daher für Zantwijk die Vereinigung von Anthropologie und formaler Logik zur Wissenschaftsphilosophie.

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»Gerichtliche Arzneywissenschaft« als Theorie
der Seelenkrankheiten

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Matthias John widmet sich in seinem − im Gegensatz zu den anderen Beiträgen − sehr unterhaltsam zu lesenden Aufsatz Johann Christoph Hoffbauers Gerichtlicher Arzneywissenschaft nach ihrem psychologischen Theile (1808), d.h. einem Grundlagenwerk der forensischen Medizin bzw. Psychologie. Hoffbauer war kein Mediziner, sondern von Haus aus Jurist und Philosoph, und als solcher, wie John betont, »Kantianer und Logiker, auf keinen Fall ein Romantiker« (S. 95). Allerdings führte ihn sein Interesse an den praktischen juristischen Problemen der Schuld-, Zurechnungs- und Geschäftsfähigkeit offensichtlich ab vom Pfad der transzendentalen Philosophie, »bei der es bloß der Erkenntnis als Erkenntnis gilt« (S. 96), und hin zur empirischen Psychologie, d.h. zu einer Theorie der Seelenkrankheiten. In seinen 1802 veröffentlichten Untersuchungen über die Krankheiten der Seele und die verwandten Zustände grenzt er die Seelenkrankheit vom Laster ab, indem er sie als einen Zustand definiert, »in welchem die Seelenvermögen sich auf eine ihrer Naturbestimmung zuwiderlaufende Art und unwillkürlich äußern« (S. 97).

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Probater Gutachter dafür, ob ein solcher für die juristische Beurteilung relevanter Zustand in einem gegebenen Fall vorliege, ist nun für Hoffbauer nicht mehr von vornherein der Arzt. Vielmehr hält er zur Begutachtung juristischer Fälle spezialisierte Psychologen für geeignet, »da der Arzt, wenn er den Blödsinn, die Melancholie und diesen ähnlichen Krankheiten zu behandeln hat, nur von dem Psychologen die eigentliche Kenntnis dieser Zustände entlehnen kann« (S. 97). Modern mutet Hoffbauers Standpunkt aber nicht nur darin an, dass er die öffentliche Anstellung von Psychologen fordert, sondern auch in seiner liberalen Haltung zum Problem von Schuld und Strafe. Schuld besteht für ihn grundsätzlich in einem vermeidbaren Mangel an Aufmerksamkeit. Auf der Grundlage dieser Auffassung hält er auch vorübergehende psychische Zustände wie Rausch und Halluzination für schuldfähigkeiteinschränkende Faktoren.

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Dieser Liberalismus wird von John sehr eindrücklich anhand eines Vergleichs der Positionen Hoffbauers und Heinroths herausarbeitet, welch letzterer seit 1827 als erster ordentlicher Professor für »Psychische Medizin« in Leipzig wirkte. Aus heutiger Sicht fällt Heinroth hinter Hoffbauer zurück, indem er sich wieder auf Gott, Sünde und Gewissen als zentrale Begriffe bezieht und den Bereich des Entschuldbaren verkleinert. So bestätigte Heinroth auch ausdrücklich das Literaturwissenschaftlern wohlbekannte Clarus-Gutachten zum Fall Woyzek, das ein Todesurteil zur Folge hatte. Hoffbauer erscheint gerade im Vergleich als der weitaus modernere Forensiker: Strafe sieht er vor allem unter dem Aspekt der Generalprävention, und sein Konzept von Schuld kommt ohne religiöse Fundierung aus. Was ihm von seinem Zeitgenossen Reil vorgeworfen wurde, nämlich dass er »in der Speculation nicht glücklich« sei und aus Mangel an einer spekulativen »Darstellung der Seele an sich« nie »auch nur den entferntesten Abstrich ihrer scientifischen Bearbeitung bekommen« könne (S. 101), d.h. also, dass seine Seelenkunde mangels spekulativer Fundierung unwissenschaftlich sei, würde ihm heute wohl heute nicht mehr attestiert werden.

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Ent-philosophierte anthropologische Lehre
in kosmologischer Perspektive

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Olaf Breidbach konstatiert in seinem Beitrag zu Karl Friedrich Burdachs Anthropologie zunächst eine fortschreitende »Ent-Philosophierung« in der anthropologischen Lehre seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Sowohl Loders von Regenspurger im selben Band vorgestellte medizinische Anthropologie als auch die biologische Anthropologie Matthias Jacob Schleidens verstünden unter »wissenschaftlicher« Anthropologie primär die Darstellung physiologischer, anatomischer und funktionsmorphologischer Tatsachen. Gerade das Werk des letzteren stünde am Beginn einer Anthropologie, die sich nach 1900 vor allem »auf die Frage konzentrierte, von welcher Affenart wir im Eigentlichen abstammen« (S. 104), einer Anthropologie mithin, die »keinen Platz mehr [hat] für einen eigenen Raum des Menschlichen, der anders als biologisch zu begreifen wäre« (S. 105).

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Angesichts dieser fortschreitenden »Physiologisierung der Anthropologie« interessiert ihn einerseits, ob eine solche deskriptiv verfasste Anthropologie tatsächlich als ein Versuch aufzufassen sei, die philosophische Anthropologie zu ersetzen, andererseits, ob die Anthropologie so, ihres genuinen Gegenstandes, des Menschen in seiner Eigenart nämlich, beraubt, nur mehr reine Popularwissenschaft sei oder aber »Heilslehre einer neuen, objektiven und sich jeder Ideologisierung entwunden präsentierenden Naturwissenschaft« (S. 106). Warum wurde, so fragt Breidbach, zu Beginn des 19. Jahrhunderts dann überhaupt noch »Anthropologie« von »Physiologie« unterschieden?

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Diese Frage trägt er an Burdachs 1837 erschienene Anthropologie für das gebildete Publicum heran. Burdach behandle keineswegs allein physiologische Tatsachen, sondern auch die Reaktionen des Seelenorgans, die allerdings für ihn zunächst ebenfalls physiologisch zu beschreiben seien. Die Tätigkeit der Seele ist für ihn allein als Funktion eines Organs fassbar, das im Nervensystem angesiedelt ist. Während die Sinnesorgane die Funktion des Wahrnehmens übernehmen, ist es Resultat der Tätigkeit der Seele, diese dem Hirnorgan als Gefühl bewusst zu machen. Burdachs Ansatz komme in der Tat ohne Philosophie aus, sei doch das, »was philosophisch bearbeitet wird, [...] einer Anthropologie im Sinne Burdachs als Phänomen verfügbar«, so dass auch der »Geist« letztlich eine Funktion darstellt, die sich physiologisch entschlüsseln lässt: Begriff, Urteil, Schluss sind demnach in eben diesem Sinne zu enträtselnde Verstandesfunktionen, die entsprechend in ihrer Funktionalität erläutert und als Momente einer zumindest analog der Neurophysiologie zu beschreibenden Seelenmechanik begriffen werden. » (S. 109) Auf diese Weise erarbeite Burdach einen eigenen Raum eines Seelenlebens, »der zwar aus einer Bestimmung des Organischen erwächst, sich dann aber nicht direkt, sondern nur vermittelt über die organisch initiierten Zustandsebenen auf die Funktionsmorphologie des Humanen zurückführen lässt«.

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Anthropologie ist für Burdach somit, so konstatiert Breidbach, »Lehre der Erfahrungen über den Menschen« (S. 110). Dieser erscheine einerseits als »Partikularbedingung eines Naturganzen«, vermöge andererseits aber »in sich und in seinem Begreifen der Natur dieses Ganze zur Geltung zu bringen« (S. 111). Burdach sei nicht einfach nur Positivist, vielmehr stünde seine Konzeption insofern durchaus in der Tradition spekulativen Philosophierens, als sie auf einem von Goethe beeinflussten morphologischen System beruhe, die er auf eine menschliche Gestaltlehre hin spezifiziere: »Der Mikrokosmos Mensch ist der Ereignisraum, in dem die Prinzipien des Naturalen zu erschließen sind«. Solcherart werde die Morphologie zu einer »Universalwissenschaft der Welt-Anschauung« (S. 113), in der sich nach Burdach die gemeinsamen Wurzeln von Wissenschaft und Kunst finden lassen. Breidbach erkennt in Burdachs Psychologie daher eine physiologisch begründete, aber letztlich »auf die kosmische Dimension zielende Seelenlehre«. Als pragmatisch materialistisch argumentierender Naturforscher sei er zwar selbst kein Positivist, bereite aber die Bahn für einen Positivismus, »der in der Anschauung dann nichts anderes als das Anzuschauende verortet«. Auf die Frage, ob eine solche Anthropologie eine Wissenschaft sei, antwortet Breidbach knapp und klar: »Da, wo sie Wissenschaft ist, ist sie Physiologie«. Als Anthropologie aber sei sie nichts anderes als das, was im Titel des Burdachschen Werkes versprochen wird: populärwissenschaftliche Darstellung des Menschen für das gebildete Publikum oder − ironisch formuliert − »Physiologie ›pour les dames‹« (S. 114).

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Romantische »Neurowissenschaft« zwischen
Empirie und Spekulation

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Stefano Poggi beschäftigt sich im letzten Beitrag des Bandes über »Psyche – Lokalisation – Gehirn bei Carus und Burdach« mit der »neurowissenschaftlichen« Forschung der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Gerade in ihr nämlich, so stellt er fest, komme »typische romantische Verknüpfung von Empirie und Spekulation am deutlichsten zum Ausdruck« (S. 115).

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Zunächst widmet sich Poggi Carl Gustav Carus’ Versuch einer Darstellung des Nervensystems (1814), der eine doppelte Untersuchungslinie verfolge: Einerseits verfahre Carus beobachtend-empirisch, indem er die Beschaffenheit der »Nervenmasse« und deren Struktur beschreibe, andererseits hypothetisch. Carus, dessen Ansatz Poggi zufolge stark von Burdach beeinflusst ist, wende sich zwar gegen die materialistische Position, man könne die Nerventätigkeit rein physisch erklären, beziehe sich aber zugleich auf den Galvanismus, indem er die Bedeutung von Elektrizitäts- und Lichterscheinungen in ihrer Bedeutung für die Nerventätigkeit hervorhebe. Die Ganglien, in denen sich die Nervenfasern bündeln, interpretiert er als »Kraftcentra«, in denen sich die Nerventätigkeit konzentriert und von wo aus sie in die verschiedenen Organe ausstrahlt.

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Die spekulative Seite der Konzeption Carus’ sieht Poggi in dessen Anlehnung an zentrale Vorstellungen Schellings verwirklicht. Wie Schelling sehe Carus das menschliche Dasein als »Manifestation einer Urthätigkeit« (S. 116), die immer polar wirke und jede Spaltung aufhebe, so dass die Spannung zwischen Innen und Außen als fundamentaler Zug der Nerventätigkeit verstanden werde. Im Gegensatz zu anderen Forschern der Zeit lehnt Carus die Vorstellung, man könne so etwas wie einen Sitz oder ein Organ der Seele identifizieren, ausdrücklich ab. Johann Christian Reil stimmt er darüber hinaus darin zu, dass bestimmte Hirnfunktionen mit bestimmten Gehirnarealen fest verbunden seien. Das Nervensystem als Ganzes, also Rückenmark und Gehirn, sei als ein Bündel von Strahlen aufzufassen, die sowohl ins Äußere als auch ins Innere des Organismus führten, und die sogenannte »Sensibilität« des Menschen komme, so formuliert er metaphorisch, durch ein der Lichtbrechung vergleichbares Phänomen zustande. Die »nervige Centralmasse« versteht er dabei als Abbild des Organismus, als »die Wiederholung des ganzen eigentlich thierischen Organismus« (S. 117).

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Diese Wiederholungstheorie − »Jede höhere Bildung nimmt die tieferstehende in sich auf, wiederholt sie in sich« − führt ihn auch dazu, die Lobotomie als für die Erforschung des Gehirns unzureichend zu kritisieren. Seiner Ansicht nach ist ein brauchbarer Begriff des Nervensystems nur dadurch zu gewinnen, dass die mannigfaltigen Modifikationen der »nervigen Centralmasse« genetisch, d.h. ihrer Entwicklungsgeschichte nach untersucht werden. Dass er dabei von der »Idee eines Urtypus eines Centralorgans der Sensibilität« (S. 118) ausgeht und letztlich in kosmologischer Perspektive forscht, verbindet ihn für Poggi wiederum mit Schelling, allerdings auch mit Burdach, der seinerseits 1817 in der Rede Über die Aufgabe der Morphologie (1817) seine Idee einer menschlichen Gestaltlehre skizziert hatte, und damit indirekt mit Goethe. Eine erste konsequente Durchführung des genetisch-morphologischen Forschungsansatzes finde sich in Karl Ernst von Baers Über die Entwicklungsgeschichte der Thiere (1828−1837), dessen Ausführungen zur Entwicklung des Embryos der Wirbeltiere Poggi zusammenfasst. Sowohl Baer als auch der für seine »Schädellehre« bekannte Franz Joseph Gall erwiesen sich von der romantischen Naturforschung im Sinne Burdachs und Carus’ beeinflusst, wenn sie auch mit ihrer skeptischen Haltung gegenüber der Vermischung von Empirie und Spekulation eine neue Phase in der biologischen Forschung eingeläutet hätten.

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Was ist »Wissenschaft«?

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Zum Schluss noch einmal zurück zum Vorwort des Bandes und zu einem Satz, an dem die Rezensentin schon bei der ersten Lektüre hängen geblieben ist: »Ob es die wissenschaftliche Anthropologie um 1800 gegeben hat«, wird dort beherzt formuliert, »wird am Ende wohl zu verneinen sein.« (S. 8) Nach der Lektüre des Bandes wäre diese Aussage nur dann zu verstehen, wenn dort »eine« gestanden hätte, und zwar kursiviert. Denn der Band macht in der Tat deutlich, was die Herausgeber auch eingangs betonen: »Wissenschaftlichkeit« ist um 1800 noch keine Größe, an der ohne weiteres Maß genommen werden kann, es ist vielmehr ein im Entstehen begriffenes Konzept, das immer wieder anders gefüllt wird. Für die einen, etwa Loder und Hoffbauer, ist Wissenschaftlichkeit an Empirie geknüpft und verfährt im Wesentlichen deskriptiv, für die anderen (Fries, Schmid, Schelling) wird Anthropologie gerade da erst wahre Wissenschaft, wo sie ins »reine« Denken vordringt. Für Schelling insbesondere schließt Wissenschaftlichkeit das Element der Spekulation nicht nur nicht aus, sondern notwendig mit ein. Wieder andere, Burdach und Carus beispielsweise, sehen gerade in der Überschreitung des Empirischen in die Regionen des Kosmischen Wissenschaftlichkeit erst eigentlich verwirklicht, oder suchen wie Hufeland nach einer ethischen Fundierung von Wissenschaft.

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Es hätte die Leserfreundlichkeit des Bandes deutlich erhöht, wenn die Spannbreite der Diskussion um das Konzept »Wissenschaft« am Ende noch einmal in einem resümierenden Beitrag kommentiert worden wäre. Doch auch ohne einen solchen Beitrag macht es die Qualität des Bandes aus, dass er zeigt, wie breit das Spektrum der Wissenschaftsbegriffe um 1800 war, und zugleich bewusst macht, wie eng gewöhnlich unser eigenes Konzept von Wissenschaft ist. Was schließen wir ein, was schließen wir aus? Warum eigentlich betrachten wir als »Wissenschaftler« heute jede Form von Spekulation mit Argwohn, warum eigentlich halten wir morphologisches und kosmologisches Denken für pseudowissenschaftlich? Weitere Fragen drängen sich auf, wenn man die in diesem Band dokumentierte Diskussion mit ästhetisch fundierten Wissenschaftskonzepten konfrontiert. Bekanntlich war noch im späten 18. Jahrhundert die Fügung »schöne Wissenschaften und Künste« gängig. Was sind »schöne Wissenschaften« und welches anthropologische Modell legt der zugrunde, der von ihnen redet? Diese Fragen kann und will der Band nicht beantworten, aber es macht ihn für die Literatur- und Kulturwissenschaft interessant, dass er sie anregt.



Anmerkungen

Richard van Dülmen: Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben. 2. Aufl. Köln u.a. 2001, S. 5.   zurück
Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Am Leitfaden des Leibes. Selbstbiographien und ihre Geschichte. Stuttgart 1987.   zurück
Eine Art vorläufige Bilanz der gesamten Diskussion bis zum Beginn der neunziger Jahre findet sich in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart / Weimar 1994.   zurück
Helmut Pfotenhauer: Einführung. In: Schings (Hg.): Der ganze Mensch (vgl. Anm. 3), S. 555−560, hier S. 557.   zurück
Christina Dongowski: Die zwei Körper des Menschen. Wilhelm von Humboldts Versuch, den Sinn der Fortpflanzung zu denken. In: Maximilian Bergengruen u.a. (Hg.): Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800. Würzburg 2001, S. 159−181, hier S. 161.   zurück
Joseph Vogl: Einleitung. In: I. V. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 7−16.   zurück
Thomas Lange / Harald Neumayer (Hg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Würzburg 2000; Maximilian Bergengruen u.a. (Hg.): Die Grenzen des Menschen (vgl. Anm. 5).   zurück
Martin Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft Darmstadt 2003, S. 64.   zurück
Joseph Vogl: Einleitung (vgl. Anm. 6), S. 7.   zurück
10 
Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. [frz. Orig. Paris 1966] Frankfurt / M. 1974.   zurück
11 
Stephen Greenblatt: Resonanz und Staunen. In: S. G.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Selbstbildern. [am. Orig. New York 1990] Frankfurt / M. 1995, S. 7−29.   zurück
12 
Vgl. dazu vor allem die Beiträge des bereits erwähnten Sammelbandes Poetologien des Wissens.   zurück
13 
Harald Neumayer: Historische und literarische Anthropologie. In: Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart / Weimar 2003, S. 108−131, hier S. 124.   zurück
14 
Vgl. Forschungsprogramm und Ziele des Sonderforschungsbereiches 482 Ereignis Weimar – Jena. Kultur um 1800. URL: http://www2.uni-jena.de/ereignis; letzter Zugriff: 14.11.2005.   zurück
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