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»O kommt! O seht, das alte Pompeji«

Klassizismus und 'kognitive Dissonanz'

  • Thorsten Fitzon: Reisen in das befremdliche Pompeji. Antiklassizistische Antikenwahrnehmung deutscher Italienreisender 1750-1870. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 29) Berlin / New York: Walter de Gruyter 2004. XI, 454 S. 33 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-11-017898-2.
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Mit seiner Elegie Pompeji und Herkulanum von 1796 hat Friedrich Schiller der Faszination Ausdruck verliehen, durch die Ausgrabung der verschütteten kampanischen Städte die Antike (vermeintlich) wiedererweckt zu finden: »Nichts ist verloren, getreu hat es die Erde bewahrt.« Besucht hat Schiller Pompeji nicht, gerade das setzte die poetische Einbildungskraft in Gang und ließ ihn beschreiben, was alle Reisenden dort zu finden hofften.

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»Die Rezeption Pompejis in der deutschen Reiseliteratur« sei »anders als die Rezeption in Architektur und Kunsthandwerk« bislang unzureichend erforscht, ebenso »das literarische Nachleben der Vesuvstadt« (S. 13); und es fehle eine bibliographische Zusammenstellung der literarischen Rezeptionszeugnisse, schreibt Thorsten Fitzon in der Einleitung seiner 2002 eingereichten Freiburger Dissertation. Die von ihm jetzt erstellte Bibliographie umfasst 139 im Original deutschsprachige und 19 deutsche Übersetzungen ursprünglich fremdsprachiger Reisebeschreibungen, die zwischen 1750 und 1870 erschienen. In jedem dieser Texte wird ein Besuch des Golfs von Neapel und der dortigen Ausgrabungsstätten beschrieben. Hinzugefügt ist eine Zusammenstellung von über 40 Pompeji-Dichtungen. Alles zusammen nimmt im Anhang des Buches 60 Seiten ein, vorbildlich ist jede Titelaufnahme mit Standortnachweisen und einem instruktiven Kommentar zu Verfasser und Reiseintention versehen. 1

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Von diesem gewaltigen Textkorpus ausgehend, wurde eine Fragestellung erarbeitet, die weitgehend der Gefahr entgeht, additiv bestimmte Motive vergleichend durchzugehen. Verfolgt wird, wie kaum anders zu erwarten, der Wahrnehmungs- und Diskurswandel im Verlauf des über 120 Jahre gespannten Untersuchungszeitraums. Fitzon behandelt die Reisetexte jedoch nicht in erster Linie als historische Rezeptionszeugnisse, sondern legt den Akzent seiner Fragestellung und Analyse vornehmlich auf philologische Aspekte.

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Die rhetorischen Strategien, mit denen Authentizität der Reiseberichte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts fingiert wurde, verdeutlichen, dass eine Beschreibung kein Überrest einer Reise ist und somit auch nicht als Quelle einer voraussetzungslosen und unverstellten Wahrnehmung gelesen werden kann. (S. 43)
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In einem ersten umfangreichen Kapitel untersucht Fitzon intertextuelle Bezüge in der Reiseliteratur und zeigt, wie die Autoren sich diskursgenerierend gegenseitig zur Kenntnis nahmen, einander zitierten, gegeneinander anschrieben. Dabei geht er wenig auf den biographischen Kontext ein und erwähnt kaum, daß zwischen vielen der schreibenden Pompejibesucher enge Freundschafts- und Bekanntschaftsverhältnisse bestanden, und Besuche oft gemeinsam absolviert wurden. Vor der Aufeinanderbezugnahme in den veröffentlichten Texten stand der private kommunikative Austausch im Gespräch und in Korrespondenzen. Das bleibt aus der Untersuchung – wohl zugunsten der Beschränkung auf das ohnehin schon übergroße Text-Korpus – ausgeblendet.

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Schützend springen die Dächer hervor,
die zierlichen Zimmer /
Reihn um den einsamen Hof
heimlich und traulich sich her

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Fitzon interessiert sich besonders für verschiedene Aspekte »ästhetischer Irritation«, die Besucher Pompejis erlebten: sie waren erstaunt ob der kleinen Dimensionen der Gebäude, die ihnen gemessen an den Dimensionen der Ruinen Roms »puppenstubenhaft« erschienen. Sie störten sich an der Enge, Asymmetrie, Fensterlosigkeit der einzelnen Häuser, an der Gleichförmigkeit der um ein Atrium angelegten Grundrisse. Viele Reisende wunderten sich über die Verwendung von Stuck als Bauschmuck und über die Polychromie der Fassaden und Innenräume. Die Ornamentformen der Fresken wurden – im Gefolge der Debatte um Grotesken und Arabesken in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts – besonders ambivalent beurteilt. Anstoß nahmen die Reisenden auch an den Priapea und erotischen Darstellungen, die überall in der ausgegrabenen Stadt zu sehen waren. Insofern war Pompeji »befremdlich«, es entsprach nicht den Erwartungen der Reisenden. Dieses Befremden stellt Fitzon beim Großteil der Texte fest, unabhängig davon, ob es direkt ausgesprochen wurde oder nicht.

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Die zentrale These der Arbeit lautet, daß die »kognitive Dissonanz«, also die konflikthaft erlebte Diskrepanz zwischen diskursiv vorgeprägter Erwartung und enttäuschender Wahrnehmung des tatsächlich Vorhandenen, zu textuellen »Kompensationsstrategien« führe. Diese betrachtet Fitzon gewissermaßen als die Symptome, an denen er die historischen Veränderungen im vorwissenschaftlichen bildungsbürgerlichen Diskurs über Pompeji belegen will. Mit Geschick handhabt er Methoden der Textanalyse, um besagte Kompensationsstrategien herauszuarbeiten. Auffällig ist vor allem seine präzise Benennung der rhetorischen Figuren in den ausgewählten Zitaten, an der Heinrich Lausberg eine wahre Freude gehabt hätte.

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»Kognitive Dissonanz« und
»Strategien der Nachträglichkeit«

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Gegen die These von der ›kognitiven Dissonanz‹ und dem daraus folgendem Kompensationsbedürfnis ist jedoch einiges einzuwenden: Das Genre der Reisebeschreibung lebt grundsätzlich von der Formulierung von Irritation angesichts des Fremden, ihre vermittelnde Reflexion wird meistens kompensatorisch genannt werden können. Dieselben Formen der »Correctio, Inkonzinnität oder Dubitatio« (S. 367), die Fitzon in den Beschreibungen Pompejis aufspürt, ließen sich in Berichten über die Begegnung mir den neapolitanischen Lazzaroni, den römischen Bettlern, aber auch in Beschreibungen der römischen Sehenswürdigkeiten nachweisen. 2 Durch die Anwendung rein philologischer Methoden läßt sich auch die Frage nicht beantworten, die Fitzon stellt, wenn auch nicht deutlich formuliert: Wie sind denn die Erwartungen entstanden, die von der Realität des freigelegten Pompeji offensichtlich enttäuscht wurden?

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Den Terminus ›Strategie‹, den Fitzon im Zusammenhang seiner Textkritik häufig verwendet, benutzt auch Peter Geimer im Titel seiner 2002 erschienenen Dissertation Die Vergangenheit der Kunst. Strategien der Nachträglichkeit im 18. Jahrhundert. 3 Auch diese Arbeit setzt sich mit dem aus Reiseberichten zu erschließenden Antikebild der Zeit auseinander. Geimer bemüht sich »um die Beschreibung einer bestimmten Formation, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Verhältnis von Lesen und Sehen, Buch und Ruine, Archäologie und Einbildungskraft neu definiert«. 4 Erst in dem Raum, der durch das Vergangensein der Antike entsteht, erst »nachträglich« kann das Ruinöse, fragmentarisch Überlieferte zu einem vollständigen Bild ergänzt werden. Mit diesem Konzept von ›Nachträglichkeit‹ hat Geimer einen Interpretationsansatz geliefert, der der Vielschichtigkeit und Produktivität der Beschäftigung mit der Antike um 1800 gerecht wird.

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Fitzons Ausführungen bleiben hier weitaus oberflächlicher. In dieser insgesamt so umsichtig und präzise argumentierenden Arbeit, beruht gerade die zentrale These von der »kognitven Dissonanz« darauf, daß Klassizismus als eine feste Größe hypostasiert wird, aus der sich ein Kanon von Geschmacksnormen ableite. Zwar erklärt Fitzon schon in seiner Einleitung, daß »die scheinbare Homogenität des Klassizismus«, sich »als eine dynamische Konstruktion« erweise, »die sich insbesondere aufgrund inhärenter Widersprüche fortentwickelte und dadurch eine ästhetische Integrationskraft entfaltete« (S. 11). Ebenda wird auch – zu Recht – davon geredet, daß sich klassizistischen Tendenzen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fortsetzen. Fitzon kommt im Verlauf des Textes, immer in den Passagen, wo er sich um die Darstellung historischer Zusammenhänge und nicht um Textkritik bemüht, auf dieses differenzierte Bild des Klassizismus zurück. Aber durch den Titel der Arbeit, in dem eine »antiklassizistische Italienwahrnehmung« ausgerufen wird, und in der Anwendung der Dissonanzthese wird deutlich, daß der Autor mit der Vorannahme arbeitet und diese auch als allgemein verbreitet unterstellt, daß es so etwas wie ein verbindliches Bild des Klassizismus nicht nur heute gäbe, sondern auch für die Reisenden gegeben habe. Fitzon verbindet damit, so läßt sich aus seinen Ausführungen entnehmen, ein rigides Geschmacksregime, das strenge Formen im Sinne edler Einfalt und stiller Größe fordert. Klassizismus wird mit »normativer Ästhetik« in Verbindung gebracht (S. 370).

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Aber wieso sollte der Klassizismus strengere Normen aufgestellt haben als irgendein anderer Zeitstil? Und wieso sollten die Reisenden in erster Linie durch die Abweichung von diesen Normen befremdet gewesen sein, und nicht einfach von gebündelten Fremdheitserfahrungen, die Fitzon ja auch anspricht: unheimlich war die Begegnung mit einer Stadt, in der sich eine Katastrophe ereignete; faszinierend war Pompeji als ein Ort, an dem über die Beziehung von öffentlichem und privatem Leben in einem urbanen Zusammenhang zu spekulieren war, ein Thema, das für die Gesellschaftsentwürfe der Zeit eine besondere Rolle spielte; neu waren auch die vereinten Anstrengungen von Staat und Wissenschaft, durch die das langfristige Unternehmen systematischer Ausgrabungen erst möglich wurde. Hinzu kamen die nicht übermäßig bequemen Umstände des Besuchs: es gab keine Übernachtungsmöglichkeiten vor Ort, die Fahrt von und bis Neapel dauerte jeweils zwei Stunden, so daß die Besichtigungszeiten begrenzt waren. Es bestand ein von den Bourbonen verhängtes Aufzeichnungsverbot. Das war nur ein Teil der Umstände, die den Besuch Pompejis zu etwas außergewöhnlich Spannungsvollem machten.

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Nur dann macht die psychologisierende These von kompensatorischen Figuren Sinn, wenn sie auf internalisierte Werte bezogen wird, die im Falle der Bedrohung auf irgendeine – hier rhetorische – Weise gerettet werden müssen. Folgt man Fitzons Argumentation, soll das zu Rettende die ästhetischen Normen des Klassizismus sein. Der Rezensentin scheint das nicht einleuchtend.

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Aber wo bleiben die Männer? die Alten?
Im ernsten Museum

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Über den Kontext der Pompejibesichtigungen, d.h. über die Grabungsgeschichte ebenso wie über den Ablauf der Besichtigungen, die Museen in Portici und später in Neapel, in denen die gefundenen beweglichen Objekte und abgenommene Wandfresken ausgestellt wurden, informiert Fitzon genau. Geschickt verschränkt er diese Angaben mit einer ideen- und realgeschichtlichen Periodisierung des langen Untersuchungszeitraums. Im wesentlichen unterscheidet er drei Phasen der Pompejirezeption: die erste reicht von den Anfängen der Ausgrabungen und Besichtigungen bis 1806, als die Besichtigung Pompejis Teil einer teils laienhaften, teils gelehrten Beschäftigung mit den Altertumswissenschaften gewesen sei. Die zweite wird durch die napoleonischer Herrschaft 1806–1814 markiert, als die Ausgrabungen stark befördert und systematisiert wurden. Die damit einhergehende Verwissenschaftlichung entlastete die Beschreiber in gewisser Weise, die sich nicht mehr um Objektivierung ihrer Wahrnehmung bemühen mußten, und nun beweglicher ihre eigenen Erfahrungen darstellten. In der dritten Phase, die Fitzon bis zur Veröffentlichung des 1860–64 erschienenen ersten offiziellen dreibändigen Führers des nunmehrigen Leiters der Grabungen, Giuseppe Fiorelli, verfolgt, wird das Reisen immer selbstverständlicher. Ab 1839 wurde als erste Bahnlinie in Italien die Strecke von Neapel nach Pompeji befahren. Pauschaltourismus begann sich zu entwickeln. Die Nachfrage nach individuellen Reiseberichten ist nach 1840 gesättigt, statt dessen entwickeln sich mehr und mehr Verknüpfungen zum modischen Genre des historischen Romans. Den Pompeji-Dichtungen widmet Fitzon das letzte Kapitel seiner Arbeit.

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Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Autor mit klarem Überblick durch die Menge der Quellen navigiert, literaturwissenschaftliche Methodik gekonnt anwendet, die Arbeit sich sehr gut liest. Die Untersuchung eines so langen Zeitraums erforderte besondere Fähigkeiten zur Systematisierung und Synthetisierung. Jeder einzelne behandelte Aspekt wurde mit beeindruckender Gründlichkeit ausgearbeitet, die Sekundärliteratur umfassend zur Kenntnis genommen und auf den Punkt ausgewertet.

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Der oben formulierte Einwand ist aber nicht marginal: Hätte die Diskussion der ästhetischen Fragen wirklich im Vordergrund stehen sollen, dann hätte der Autor sich auf eine umfassendere, interdisziplinäre Diskussion des Klassizismus einlassen, und unter anderem Bezüge zur nichtliterarischen, bildlichen, architektonischen, kunsthandwerklichen Antikerezeption herstellen müssen, um der These von der kognitiven Dissonanz wirklich Gehalt zu geben.



Anmerkungen

Eine von Fitzon zusammengestellte Bibliographie, die alle deutschsprachigen Italienreisen zwischen 1770–1870 aufnimmt, ist online zugänglich: http://www.lektueren.de/page7.htm. Sie ist eine sehr übersichtliche Ergänzung der von Wolfgang Griep an der Landesbibliothek Eutin erstellten umfangreichen Datenbank der deutschsprachigen Reiseliteratur, zu finden unter der URL http://www.bibliothek-eutin.de/reisen/reiselit.htm.   zurück
Einen sehr guten Überblick über die verschiedenen Formen der Reaktion auf die Irritationen, die den Reisenden in Neapel erwarteten, gibt Kay Kufeke: Himmel und Hölle in Neapel. Mentalität und diskursive Praxis deutscher Neapelreisender um 1800 (Italien in der Moderne 5) Köln: SH-Verlag 1999. Vgl. die Rezension Claudia Alberts: Das exotische Italien. Deutsche Neapelreisende um 1800. In: IASLonline, http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/albert.html.   zurück
Peter Geimer: Die Vergangenheit der Kunst. Strategien der Nachträglichkeit im 18. Jahrhundert (visual intelligence. Kulturtechniken der Sichtbarkeit 4) Weimar: vdg 2002. Vgl. die online-Rezension von Adelheid Müller: http://www.sehepunkte.historicum.net/2003/07/1674.html.   zurück
Geimer (Anm. 3), S. 11.   zurück