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Die Macht zum Leben

Diskursive Vernetzungen zwischen Biopolitik und Recht

  • Maximilian Bergengruen / Johannes F. Lehmann / Hubert Thüring (Hg.): Sexualität - Recht - Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800. Paderborn: Wilhelm Fink 2005. 320 S. Kartoniert. EUR (D) 42,90.
    ISBN: 3-7705-3967-2.

Inhalt

Maximilian Bergengruen / Johannes F. Lehmann / Hubert Thüring: Sexualität, Recht, Leben: Einleitung (S. 7–17) | Michael Niehaus: Wie man den Kindermord aus der Welt schafft. Zu den Widersprüchen der Regulierung (S. 21–39) | Johannes F. Lehmann: Energie, Gesetz und Leben um 1800 (S. 41–66) | Michael Gamper: Kollektives ›Leben‹ um 1800. Soziale (De-)Figuration bei Herder, Burke und Hardenberg (S. 67–88) | Natalie Binczek: »Im Abgrunde des Reizes«. Zu Herders »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele« (S. 91–111) | Reinhardt Brandt: Kants Eherecht (S. 113–131) | Stefan Greif: Sexualität im »Licht des Bildungstriebs«: Das Organismusmodell des jungen Schelling und das »Gesetz der epicureischen Polarität« (S. 133–151) | Stefan Metzger: Über organische und fruchtbare Unterscheidung. Organismus und Konjektur bei Schiller (S. 153–177) | Tanja van Hoorn: Leibhaftige Menschheitsgeschichte. Georg Forsters physiologischer Blick auf den Menschheitskörper (S. 179–191) | Gunhild Berg: Der Prozeß der »anthropologischen Zwänge« (Michel Foucault). Juristische, moralische und psychologische Verhandlungen am Beispiel der spätaufklärerischen Kriminalerzählungen August Gottlieb Meißners (S. 195–216) | Christine Weder: Poesie als / statt Polizei. Zum Verhältnis von Sexualität und Gesetz in Wielands »Goldnem Spiegel« und im polizeiwissenschaftlichen Kontext (S. 217–235) | Roland Borgards: Leben und Tod. Kleists »Zweikampf« (S. 237–261) | Maximilian Bergengruen: Tollwut, Werwolf, wilde Jagd. Wie das Gebiss des Jägers Jürge Brentanos »Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl« verzahnt (S. 263–293) | Barbara Thums: Diätetische Toilettenkunst und organische (Selbst-)Bildung: Goethes »Der Mann von funfzig Jahren« (S. 295–316)
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Diskurse, Praktiken – und Recht

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Seit einiger Zeit erfreuen sich die Thesen Michel Foucaults, wie er sie in Der Wille zum Wissen 1 und ausführlicher, in seinen Gouvernementalitätsstudien 2 entwickelt hat, einer nie dagewesenen Konjunktur. Nicht nur Diskursanalytiker verschiedenster Disziplinen, auch die historischen – und besonders die literarischen – Anthropologen haben in den letzten zehn Jahren zunehmend entdeckt, dass Foucaults Beobachtungen zur Entstehung des von ihm so genannten Dispositivs der »Biopolitik« weder ahistorisch noch ›modisch‹ sind, sondern dass sich auf ihrer Basis vielmehr jenseits der idealistischen Terminologie und Methodik des 19. Jahrhunderts bestimmen lässt, wie sich die »›anthropologisierte‹ Denkform« (S. 196) mit ihrer Konvergenz von Subjekt, Wissen und Macht als Effekt epistemologischer Umschichtungen historisch um 1800 ausbildet.

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Ein problematisches Vermächtnis der Arbeit Foucaults hatte darin bestanden, dass er zwar Wege einer nicht subjektzentrierten und nicht linear vorgehenden Archäologie des Wissens aufgezeigt, seine grundstürzenden Thesen jedoch – aufgrund eines frühen Todes – nur punktuell durch Quellenuntersuchungen gestützt hatte. 3 Spätestens seit den 90er Jahren wird nun dieses Manko breit und Disziplinen übergreifend behoben, indem von der (Wissenschafts-)Geschichte bis zur Philosophie historische Detailstudien entstanden sind, die die Befunde der historischen Epistemologie in der Nachfolge Bachelards und Canguilhems zu belegen vermögen. Der vorliegende Band leistet – aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, jedoch interdisziplinär informiert – zu diesem Unterfangen einen wichtigen Beitrag.

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Anliegen des Sammelbandes ist es, die diskursiven Verknüpfungen zwischen Sexualität, Recht und Leben, wie sie sich seit 1750 herausbildeten, in genauen Lektüren von zeitgenössischen juristischen, polizeiwissenschaftlichen, staatstheoretischen, naturwissenschaftlichen und theologischen Diskursen (Teil 1) einerseits sowie den von einzelnen Autoren der Zeit entwickelten Theorien (Teil 2) andererseits freizulegen. Die Analysen der Einzelbeiträge nehmen die von Kant, Schelling, Schiller, Forster und Herder entworfenen Konzepte in den Blick, innerhalb derer die Theoretisierung des Organismus mit seinen juristischen, ästhetischen und anthropologischen Implikationen im Zentrum stehen. Der letzte Teil widmet sich den Niederschlägen des neuen Dispositivs einer Regierung, deren Sorge sich der Verwaltung des Lebens einer Bevölkerung zuwendet, in literarischen Texten von August Gottlieb Meißner, Christoph Martin Wieland, Heinrich von Kleist, Clemens Brentano und Johann Wolfgang von Goethe.

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Die Einleitung des Bandes – verfasst von den Herausgebern Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann und Hubert Thüring – argumentiert theoretisch durchgängig auf hohem Niveau, indem sie im Hinblick auf die Entstehung des neuen Dispositivs, innerhalb dessen Sexualität (Fortpflanzung), Leben (Organismus) und Recht (lebendiges Recht) eine unauflösliche Amalgamierung eingehen, Foucaults Konzeption der Biopolitik, deren Machtanalyse die juridischen Modelle zugunsten von Diskurspraktiken zurückstellt, um Giorgio Agambens kritische Revision 4 erweitert. Die Macht, Leben zu machen, so die These der Herausgeber, in der sie Agambens in »Homo sacer« erstellter Diagnose folgen, ist auch in der Moderne nicht ausschließlich den regulierenden Diskurspraktiken von Polizei, Psychiatrie und Gefängnis vorbehalten, sondern »stellt vielmehr einen ›verborgenen Kreuzungspunkt‹ [Agamben, A. L.] zwischen Biopolitik und Gouvernementalität einerseits und Rechts- und Staatstheorie andererseits dar« (S. 9).

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Zur Debatte steht damit nicht nur der entstehende lebenswissenschaftliche Diskurs, der im Anschluss an die Durchsetzung des epigenetischen Generations-Modells in der Nachfolge Caspar Friedrich Wolffs und Johann Friedrich Blumenbachs und in fruchtbarer Auseinandersetzung mit Autoren wie Kant, Schelling, Novalis oder Johann W. Ritter eine umfassende Organismus-Theorie der »ganzen anorganischen wie organischen Natur« (S. 8) entwirft und das Leben erstmals als »Gesamtheit der Funktionen, die dem Tod widerstehen« 5 denkt. Zur Debatte stehen auch nicht nur die Verordnungen und Praktiken, wie sie im Zusammenhang mit Hygiene und einer dem guten Leben der Bevölkerung und der staatlich verwalteten Ökonomie verpflichteten beginnenden »medicinischen Policey« bzw. der Polizeiwissenschaft 6 ergehen. Insbesondere zieht der Band auch Verbindungslinien zum juristischen Diskurs, der im Anschluss an Autoren wie Justus Möser oder Friedrich Carl von Savigny bemüht ist, den Lebensbegriff ins Recht einzuführen und Gesetze organisch aus den für das Leben geltenden abzuleiten. Breiten Raum nimmt zudem die bei Foucault und Agamben weitgehend unscharf gebliebene Konturierung der Sexualität im Hinblick auf ihre Regulierung ein; 7 denn es ist kein Zufall, dass sich das wirkungsmächtige Konzept des Organismus und des Organischen, das die Herausgeber als Effekt des hinsichtlich seiner Grenzen und Zeichen unsicher gewordenen Verhältnisses von Leben und Tod lesbar machen, im Zusammenhang mit der entstehenden Generations-Biologie herausbildet.

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Regulation und Selbststeuerung

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Korrespondierend mit dem Anliegen einer dem physischen und moralischen Wohl verpflichteten »guten Regierung«, die natürlichen Gegebenheiten einer Bevölkerung regulierend zu optimieren, entspinnt sich 1780 eine Debatte um die Erhaltung einer der kostbarsten staatlichen ›Ressourcen‹, dem (hier ungewollten) Nachwuchs. Michael Niehaus zeichnet in seinem Beitrag »Wie man den Kindermord aus der Welt schafft. Zu den Widersprüchen der Regulierung« die Diskussion um die Abschaffung des Kindermordes nach, wie sie sich 1780 in den Antworten auf die Preisfrage eines anonymen »Menschenfreundes«, »welches [...] die beste ausführbare Mittel [sind] dem Kindermorde Einhalt zu thun?« (S. 23) spiegeln. Der Befund, dass gerade das Aussetzen des Gesetzesprinzips den Einsatzpunkt für den Diskurs der Verwaltungsbeamten, Kriminalrichter, Pädagogen, Mediziner, Literaten und Seelsorger bildet (S. 23), scheint zunächst Foucaults Diagnose zu bestätigen, wonach um 1800 das Recht – dieses Paradigma der Souveränität des klassischen Zeitalter – zugunsten von verwaltungstechnischen Praktiken und regulierenden Diskursen im weitesten Sinn abgelöst wird. Die von einer phantasmatisch-souveränen Subjekt-Position aus ergehenden Vorschläge für regulierende Maßnahmen tendieren hin zu einem partiellen Instrument der Aufsicht, das insbesondere die Sexualität verwaltet. Niehaus kann dabei zeigen, dass die Biopolitik weder auf totale Überwachung noch auf totale Datenerhebung zielt, sondern eine Verwaltung von Leben mittels der Disziplinierung der Subjekte zur Selbstregulation zu erreichen versucht. Selbst die Strafphantasien sind regulierende Phantasmen eines Straftheaters, das die Kindermörderin rituell jene Schande wiederholen lässt, aus der heraus sie gemordet hat. Das Verhältnis der Kindermörderin zum Gesetz beschreibt Niehaus mit Agamben als dasjenige einer »Ausnahme-Beziehung«: Selbst wenn das Gesetz an ihr nicht vollstreckt und sie nicht hingerichtet wird, bleibt sie in seinem Bann. Auf diese Weise nimmt die Kindermörderin innerhalb der regulierenden Diskurse rund um den Kindermord die schillernde Position eines zu regulierenden, aber letztlich nicht regulierbaren Objekts ein.

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Energetisches Leben

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Ausgehend von den Umwertungen alteuropäischer Topoi durch die französischen Materialisten – Arbeit bedeutet nicht mehr länger labor, Leiden, sondern Glück, Natur ist nicht mehr wie in der aristotelischen Physik Stillstand, sondern ein System aus Bewegung und die Leidenschaften sind nicht mehr perturbationes animi, sondern Quelle von Erkenntnis (S. 41) – zeigt Johannes F. Lehmann in seinem vorwiegend ideengeschichtlich angeleiteten Aufsatz »Energie, Gesetz und Leben um 1800«, wie das – zuerst in der Theologie formulierte – Verhältnis von Gesetz und als Energie gefasstem Leben in der Episteme um 1800 als inklusive Opposition von gesetzmäßiger und lebendiger, d.h. energetischer Bewegung gedacht wird (S. 42). Die Ablösung des dualistischen Paradigmas Descartes’ mit seiner Entgegensetzung von res extensa und res cogitans zugunsten einer auf Seiten des Körpers und seiner Bewegungsgesetze situierten inklusiven Opposition von Gesetz und Leben beschreibt Lehmann dabei als »Strukturmodell« (S. 52) der Episteme des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wie es nicht nur Literatur, Theologie und Lebenswissenschaften, sondern auch den Polizeidiskurs um 1800 prägt. Insofern sich die Aufmerksamkeit der Polizei auf alles richtet, was unmittelbar zur Fortdauer und Erhaltung des Lebens des Staates als Leben der Bevölkerung beiträgt, rückt das physische Leben der Bürger ins Zentrum polizeilicher Tätigkeiten. Diesseits der Gesetze und diese supplementierend entfalten sich Diskurs und Praktiken der Polizei als organizistisch gefasstes Rückkoppelungssystem zur Erhaltung und Steigerung der Energie und mithin des Lebens der Bevölkerung.

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»Transzendentalpoetische Biopolitik«

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Michael Gamper geht in seinem Beitrag »Kollektives ›Leben‹ um 1800. Soziale (De-)Figuration bei Herder, Burke und Hardenberg« neue methodische Wege, wenn er die Emergenz von Terminus und Phänomen der ›Masse‹ in den Zusammenhang der gouvernementalen Verwaltung der Vielen stellt, die den ständisch organisierten politischen Körper unterminiert und im Extremfall – so die Klage Burkes im Rekurs auf die französische Revolution – durch nivellierte dynamische Zusammenballungen ersetze. Vor dem Hintergrund konkurrierender Modelle des politischen Körpers – dem Maschinenparadigma in der Nachfolge der politischen Theorie des 17. Jahrhunderts setzen Herder und Burke das Modell des Organismus entgegen – schlägt Gamper eine Neulektüre der politischen Aphorismen (v.a. »Glaube und Liebe«) Friedrich von Hardenbergs vor: Novalis’ Utopie einer Masse, die die destruktiven Tendenzen der französischen Revolution überwunden hat, ist nur im Rahmen einer »transzendentalpoetischen Biopolitik« (S. 78) zu verstehen, die am Übergang einer Wissensordnung der Repräsentation zu einer der »Analytik des Menschen« (Foucault) verpflichteten Episteme situiert ist. Dabei liest Gamper das Idealbild des Königspaars – jene Verkörperung einer gelungenen Vergesellschaftung – als Konvergenz von biopolitisch-polizeilicher Disziplinierung und verinnerlichter Techniken der Selbststeuerung. Als Leitbild dient ein physiologisch geprägter Lebensbegriff, der Mensch und Geschichte zu grundlegenden epistemischen Kategorien macht (S. 88). Es sei kritisch angemerkt, dass bei Foucault das Königspaar und seine Repräsentation dem Allianzdispositiv angehört, während die Selbstregulation erst im Sexualitätsdispositiv zur Disposition steht. Paradigmatisch für die Schwelle, von der aus der Souverän und seine Repräsentanz verabschiedet werden, steht dabei Foucaults Lektüre von Velasquez’ Las meniñas, die man in die Analyse hätte einbeziehen können. 8

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Epigenetische Verwandtschaften

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Während die drei zum Teil »Diskurse« zusammengefassten Texte die strategischen Überkreuzungen von Sexualität, Recht und Leben innerhalb des biopolitischen Dispositivs freilegen, macht Natalie Binczek in ihrer Untersuchung von Herders Preisschrift Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele den Auftakt zu einer Reihe von Analysen, die der Theoriebildung einzelner zeitgenössischer Autoren verpflichtet sind. In Abgrenzung zur herrschenden Forschungsauffassung, die den Akzent bisher auf eine holistische Konzeption von Erkennen und Empfinden bei Herder gelegt hat, weist Binczeks Lektüre die Eigengesetzlichkeit beider Operationen nach, die erst auf der Ebene einer höheren, räumlichen Ordnung, dem »Gewebe«, miteinander vernetzt sind. Ist das Gewebe die Organisationsebene, auf der Erkennen und Empfinden miteinander kommunizieren, so macht Herder »Im Abgrunde des Reizes« (zit. n. S. 100) einen Anfang aus, der reine Wirkung ist. Anstatt nun die Spaltung der Seele in einer dritten Instanz aufzuheben, füge Herder der Reizphysiologie Hallers folgend mit der Unterscheidung von Empfinden und Reizbarkeit eine weitere Spaltung hinzu. Insgesamt würden in der Preisschrift mit Erkennen, Empfinden und Reizbarkeit so drei autonome Funktionszusammenhänge postuliert, deren Differenz sich als »epigenetisch reproduzierende Verwandtschaftsbeziehung« (S. 111) entfalte.

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Ehe, Sexualität und Recht

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Das Verhältnis von Ehe und Sexualität in »Kants Eherecht« ist das Thema des Beitrags von Reinhard Brandt. Er geht darin der Frage nach, inwiefern die Ehe für Kant eine Rechtsform darstellen kann, wenn, wie Kant argumentiert, die Sexualität den Menschen in den Naturzustand regredieren lässt und die Ehepartner damit ihres Rechtsstatus als Person beraubt. Der Ausgang aus dieser Aporie ist so verblüffend wie einfach: Brandt vertritt die These, dass Kant die Ehepartner nicht als zwei verschiedene Rechtssubjekte denke, sondern nach Platons Modell des Kugelmenschen und Rousseaus »moi commun« lediglich als eine Person (S. 124). Der legitime wechselseitige Gebrauch der Geschlechtsorgane diene dabei einzig und allein der Reproduktion.

[17] 

Systemtheorie des 18. Jahrhunderts

[18] 

Ausgehend von der Konzeption des Organismus und am Leitfaden von Johann Heinrich Lamberts zeitgenössischem »Fragment einer Systematologie« zeigt Stefan Metzger, wie der Diskurs der Spätaufklärung zu einer als offenes System konzipierten Epistemologie führe, in deren Zentrum der Begriff der Konjektur (der Modus des ›als ob‹) stehe (S. 164). Insbesondere Schillers ästhetische Theorie sieht Metzger durch die Prinzipien der Konjektur und der organischen Reproduktion organisiert, wenn Schiller das Naive und das Sentimentalische auf intrinsische Weise miteinander verknüpft und dem Spieltrieb den Status eines Vermittlers zwischen Stoff- und Formtrieb zuschreibt.

[19] 

Kriminalerzählung und anthropologischer Zwang

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Der letzte Teil des Bandes wendet sich germanistischen Einzelinterpretationen zu. Den Auftakt dieser Lektüren macht Gunhild Berg mit ihrer Analyse der spätaufklärerischen Kriminalerzählungen August Gottlieb Meißners, die sie als paradigmatisch für die von Foucault postulierte epistemische Verschiebung seit 1750 liest, insofern sich in der Überkreuzung von »juristisch-präskriptiven und literarisch-deskriptiven Diskurs- und Praxisformen« (S. 198) jene »anthropologischen Zwänge« manifestieren, die Foucault in Archäologie des Wissens als prägend für die gemeinsame Geschichte von Machtverhältnissen und Erkenntnisbeziehung beschrieben hat. Meißners Erzählungen bieten zwei mögliche anthropologische Modelle an, zwischen denen der Leser wählen kann, ein »normatives Modell der juristischen Praxis« (S. 200) und ein »nicht-normative[s] anthropologische[s] Modell« (S. 201), das auf drei der vier von Berg als Konstituenten der »›anthropologisierten‹ Denkform« (S. 196) bestimmten funktionalen Elemente der Historisierung, Kulturvergleich, Naturalisierung und Empirisierung (S. 196) explizit verweist (S. 201).

[21] 

Problematisch wird diese erhellende Lektüre erst dort, wo sie im Versuch, die neuere germanistische Anthropologieforschung mit Foucaults Ansatz zu versöhnen, die Meißners Erzählungen durchdringende »›anthropologisierte‹ Denkform« zur Möglichkeitsbedingung von Foucaults historischem Apriori erhebt (S. 209). Bei allen Parallelen, die sich in den neuesten Untersuchungen der historischen und, spezifischer, der literarischen Anthropologie zu Foucaults Thesen abzeichnen, denkt letzterer doch den Begründungszusammenhang von anthropologischen Zwängen und Episteme bzw. Dispositiv genau umgekehrt, nämlich gerade nicht als Verhältnis von (anthropologischer) Ursache und (epistemischer) Wirkung; vielmehr begreift Foucault die anthropologischen Zwänge als reine Wirkung einer gemeinsamen Geschichte von epistemischem Wandel und veränderten Machttechniken.

[22] 

Leben, Tod und »Manie ohne Delirium«

[23] 

Während Roland Borgards in seiner wissensgeschichtlichen Lektüre von Kleists Zweikampf die »dissonante Verkantung« (S. 238) zweier Wissensräume in Bezug auf das Verhältnis von Leben und Tod ins Zentrum der Überlegungen stellt, führen die motivischen Spuren der (wölfisch konnotierten) Reißzähne in Maximilian Bergengruens Analyse von Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl ebenfalls ins Herz der neu entstandenen Wissensräume von Psychologie und Gerichtsmedizin; nämlich zu Reils folgenreicher Entdeckung der »Manie ohne Delirium« einerseits und zum rechtstheoretischen Diskurs über die Unzurechnungsfähigkeit andererseits. Durch die Engführung von Kasperls Rede über die Ehre und Genealogie der Manie führt das Entschuldungsparadigma des 18. Jahrhunderts gleichsam eine Bauchrede in demjenigen des 19. Jahrhunderts.

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Fazit

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Den drei Herausgebern ist ein lesenswerter, materialreicher und historisch präziser Überblick über die Entstehung des neuen Dispositivs der Biopolitik gelungen, der die Vernetzung der drei strategischen Diskurse von Sexualität, Recht und Leben seit 1750 auf hohem theoretischen Niveau reflektiert. Insbesondere entkräftet dieser Band den Vorwurf, theoretisches Arbeiten gehe stets auf Kosten einer historischen Ausrichtung. Das Gegenteil ist der Fall: einzig bezogen auf historisch spezifische Anordnungen macht die Orientierung an der Diskursanalyse Sinn. Der Einbezug des lebenswissenschaftlichen, theologischen, staatstheoretischen, juridischen und polizeiwissenschaftlichen Diskurses sowie v.a. der Praktiken der »medicinischen Polizey« in die literaturwissenschaftlichen Lektüren führt zu überraschenden Neuinterpretationen und macht Foucaults These, dass der zeitgleiche Wandel von Episteme und Machttechniken Human- und Naturwissenschaften gleichermaßen erfasst, auf der Basis von Detailstudien plausibel. Beim Lesen hätte man sich lediglich gewünscht, dass neben den Diskursen und Praktiken auch den Medien und Techniken der Experimentalisierung des Lebens Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre. Denn nicht zuletzt sind sie es, die in Interaktion mit Diskursen und Praktiken das Dispositiv der Biopolitik konstituieren.



Anmerkungen

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen. Übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter. 14. Aufl. Frankfurt / M. 1983.   zurück
Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I/II. Vorlesung am Collège de France. Hg. von Michel Sennelart. Aus dem Französ. von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder. Frankfurt / M. 2004.   zurück
Dies gilt v.a. für Foucaults frühe Arbeiten, z.B. Die Ordnung der Dinge. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. 10. Aufl. Frankfurt / M. 1991.   zurück
Hier v.a. auf der Grundlage von Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt / M. 2002, S. 16; Hubert Thüring ist als deutscher Übersetzer des Werkes dazu bestens ausgewiesen.   zurück
Xavier Bichat: Physiologische Untersuchungen über Leben und Tod. Übers. von D. Veizhans. Tübingen 1802, S. 1.   zurück
Vgl. hierzu v.a. Johann Heinrich Gottlob von Justi: Grundsätze der Policeywissenschaft in einem vernünftigen, auf den Endzweck der Policey gegründeten, Zusammenhange und zum Gebrauch Academischer Vorlesungen abgefasset [1756]. Dritte Ausgabe mit Verbesserungen und Anmerkungen von Johann Beckmann. Göttingen 1782, Neudruck Frankfurt / M. 1969; Joseph von Sonnenfels: Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanzwissenschaft. 3 Bde. 1. bis 3. Aufl. Wien 1770–1776.   zurück
Zu Recht monieren hier die Herausgeber, dass der Diskurs der Sexualität bei Agamben theoretisch bleibt, während die Analyse der Sexualität bei Foucault – abgesehen von der Bestimmung der Sexualität als Kreuzungspunkt von Disziplinierungen des individuellen Körpers und staatlicher Biopolitik im Willen zum Wissen und neben der Untersuchung der antiken Selbstpraktiken (Sexualität und Wahrheit II/ III) – im Rahmen seines erweiterten Konzepts der Gouvernementalität einen lediglich konzeptuellen Status in Anspruch nehmen kann (S. 9).   zurück
Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 31-45; vgl. Anm. 3.   zurück