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»Mir ekelt lange vor allem Wissen«

  • Gabriele Brandstetter / Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. (Stiftung für Romantikforschung 26) Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 418 S. 15 s/w, 8 farb. Abb. Geheftet. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 3-8260-2632-2.
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Die Krise des Wissens und der Wissenschaften ist bekanntlich das Generalthema von Fausts Eingangsmonolog. Dort, wo Faust in seinem Kellerloch nur noch »Wissensqualm« 1 zu erkennen vermochte, dort öffnet sich für den germanistischen Kulturtheoretiker nunmehr das weite Feld der Wissenspoetik. Unschwer wird man Fausts wohl artikulierten Wissensüberdruss selbst als Bestandteil dieses Diskursnetzes beschreiben können, denn auch ihm geht es letztlich um alternative Techniken der Wissensgenerierung, um eine poiesis des Wissens und nicht um die Reproduktion hergebrachter Lehrgebäude.

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Der hier zu besprechende Band zur romantischen Wissenspoetik fokussiert diese andere Form des Wissens, wie sie durch die Romantik und ihr Umfeld geprägt wurde.

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Wissenspoetik versus Einflussforschung

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In seiner programmatischen Einleitung zum Sammelband Poetologien des Wissens ging Joseph Vogl davon aus, dass Wissenschaft nicht umhin komme, ihren Gegenstand nach poetologischen Verfahrensweisen zu generieren. 2 Erkenntnis, so Vogls zentrale Annahme, sei nicht ohne poiesis und Poetik nicht ohne Epistemologie zu haben. Die Poetologien des Wissens greifen dabei zum einen auf Foucaults Konzeption der Genealogie des Wissens, zum anderen auf systemtheoretische Ansätze der Wissensgenerierung zurück. Wissen und Poetik stehen in keinem Abhängigkeitsverhältnis zueinander, sondern in einem wechselseitigen Transfer. Auf diese Weise heben sich die Poetologien des Wissens als Geschichte der Wissenspoetik von sozialgeschichtlichen Ansätzen und der Einflussforschung ab.

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Der von Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann herausgegebene Sammelband macht es sich nun zur Aufgabe, diese Konstellation unter dem Vorzeichen der Krise zu behandeln. Die »kulturgeschichtliche Krise« (S. 9) um 1800 wird in der Einleitung als Gegenstand des Bandes kenntlich gemacht. Diese Krise drücke sich aus als die Einsicht in die Inadäquatheit der überkommenen epistemischen Verfahren. Der Krisendiskurs um 1800 konturiere einen »Paradigmenwechsel im Feld der Episteme wie der Ästhetik« (S. 9). Tatsächlich beschäftigen sich die meisten der Beiträge mit solchen erkenntnistheoretischen Umbrüchen, die sich an bestimmten Texten und Diskursen aufzeigen lassen. Der Begriff der Krise rückt dabei allerdings mehr in den Hintergrund, so dass vielleicht besser von einer ›kulturgeschichtlichen Umbruchphase‹ – zumindest im Hinblick auf diesen Band – die Rede sein könnte.

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Die Anlage und Konzeption des Bandes ist breiter gehalten als die der Poetologien des Wissens. Es geht vor allem um die Transgressionen, die zwischen den Wissenschaften und den Künsten stattfinden. Gegen eine solche methodologische Öffnung des Paradigmas ist freilich nichts einzuwenden. Wenn allerdings vom »Einfluß der Wissenschaft« »auf die Praktiken der Wahrnehmung« und der »Darstellung« (S. 13) die Rede ist, dann stellt sich dem Leser die Frage, wie sich ›Romantische Wissenspoetik‹ gegenüber historischer Einflussforschung noch konturieren lässt. In diesem Band gelingt diese Abgrenzung nicht immer. So stellen die Beiträge von Walter Hinderer, Dieter Borchmeyer und Axel Michaels zwar interessante vergleichende und historische Analysen dar, als solche sind sie aber weitgehend der Einflussforschung zuzurechnen. In der Mehrzahl eröffnet der Sammelband aber neue und ergiebige Perspektiven für das Paradigma der Wissenspoetik.

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Aufbau des Bandes

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Aus der großen Anzahl der Beiträge werden aus pragmatischen Gründen nur einige näher besprochen. Um einen Überblick über die Themen und die Autoren zu erhalten, seien hier kurz die einzelnen Beiträge und ihre thematische Ausrichtung genannt.

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Die 17 Beiträge des Bandes sind auf fünf thematische Sektionen verteilt. In dem ersten Abschnitt Bildende Kunst – Tanz – Musik finden sich Aufsätze von Gerhard Neumann zu E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla, von Gabriele Brandstetter zu Carlo Blasis’ Tanztheorie und von Caroline Welsh zur Resonanztheorie um 1800. Der zweite Themenbereich Medizin – Psychologie – Justiz versammelt Beiträge von Jürgen Barkhoff zum Mesmerismus, von Roland Borgards zur zeitgenössischen Schmerztheorie, von Harald Neumeyer zur Kriminalpsychologie um 1800 und von Hubert Thüring zu Leopardis Lebensbegriff. In der dritten thematischen Einheit finden sich Beiträge von Walter Hinderer zum romantischen Traumdiskurs, von Ethel Matala de Mazza zu Novalis und Mesmer, von Albrecht Koschorke zur romantischen Medizin und von Ralf Simon zu Jean Pauls Siebenkäs. Der vierte Abschnitt zum Thema Optik umfasst zwei Beiträge, einen von Dieter Borchmeyer zur Zentralperspektive und einen von Beate Söntgen zu Hummels Raumkunst. Im fünften Abschnitt Religion – Philosophie – Philologie finden sich Beiträge von Axel Michaels zur frühromantischen Indologie, von Nicolas Pethes zur Konzeption der Wissenspoetik, von Herbert Uerlings zu Novalis und von Stefan Willer zur romantischen Etymologie.

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Die überwiegend auf hohem Niveau agierenden Beiträge fügen sich weitgehend gut in die Ordnung und das Konzept der Herausgeber. Es fällt jedoch auf, dass der programmatische, ja in seinem Gestus in die Thematik einleitende Beitrag im letzten Abschnitt situiert ist.

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Begriff der Wissenspoetik

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Nicolas Pethes ist mit seinem Aufsatz »Poetik / Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers« eine präzise und differenzierte Einführung in das thematische Feld der Wissenspoetik gelungen, die man sich eigentlich an den Anfang des Bandes gewünscht hätte. Denn die Frage nach dem Transfer zwischen Wissen und Poetik ist auch für die anderen, oftmals an konkreten Diskursen und Texten arbeitenden Beiträge von Relevanz.

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Pethes’ Beitrag stellt auf der einen Seite einen sehr transparenten Problemaufriss der Wissenspoetik als kulturwissenschaftliches Paradigma dar und setzt auf der anderen Seite deutliche Akzente für eine stärkere systemtheoretische Auslegung des Begriffs. Nur durch die systemtheoretische Kategorie der Beobachtung lasse sich nämlich der Transfer zwischen Poetik und Wissen, Literatur und Wissenschaft beschreiben und analysieren. Dass Foucaults Modell der diskursiven Wissensordnungen demgegenüber an Bedeutung verlieren müsse, führt Pethes auf Foucaults Bestimmung von Literatur zurück, die den »Leser mit einigen Aporien« (S. 347) zurück lasse. Luhmanns Konzeption der kommunikativen Systeme und ihrer Beobachtbarkeit ermögliche dagegen eine genaue Bestimmung der Relation von Literatur und Wissenschaft.

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Man muss freilich diese Präferenz für eine systemtheoretisch geleitete Wissenspoetik nicht teilen. Wissenspoetik ist sicherlich nicht nur als »eine Beobachtung« zu bestimmen, »die die ›wissenschaftliche‹ oder ›literarische‹ Anschlußkommunikation von Texten beobachtet« (S. 369). Der systemtheoretische Begriff der Beobachtung wird nämlich gerade dann problematisch, wenn es um die Darstellung von Transgressionen geht. Diese Schwierigkeit sieht auch Pethes und schlägt daher einen durchaus plausiblen Mittelweg vor:

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Eine ›Wissenspoetik‹, die die Frage nach dem Transfer mit Foucault und Luhmann stellen möchte, wird weder von hermetischer Systemgeschlossenheit noch von einem transdisziplinären Einheitsdiskurs ausgehen, sondern zu beschreiben versuchen, wie kommunikative Ereignisse zwischen den Diskursen / Systemen kursieren. (S. 369)
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Pethes bringt hier einen Begriff ins Spiel, der meines Erachtens geeigneter wäre das Verfahren der Wissenspoetik zu benennen: Der Begriff der Beschreibung erscheint hier adäquater, um dem Darstellungsproblem beizukommen, das dem Programm der Wissenspoetik inhärent ist. Dieses Problem der Darstellbarkeit wurzelt, wie sich auch in einigen der Beiträge zeigt, in der Frage, wo die Wissenspoetik im Transfer zwischen Poesie und Wissenschaft ihren Ausgang nimmt. Wissenspoetik generiert sich letztlich selbst in ihrem Verfahren der Darstellung. Dieser Modus der Wissenspoetik lässt sich nicht als solcher auflösen, aber es sollte möglich sein, dies in der Analyse von wissenspoetischen Texten und Diskursen zu reflektieren.

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Pethes’ Beitrag tut dies und in seiner deutlichen Positionsbestimmung ist er überdies ein wichtiger und produktiver Anstoß für die weiteren Debatten um die Poetologien des Wissens. Beleuchtet Pethes vor allem den wissenschaftlichen Diskursraum des Paradigmas, so fokussieren die meisten anderen Beiträge literarische, künstlerische und wissenschaftliche Werke und Diskurse des romantischen Zeitalters. Dabei nimmt neben der Beziehung von Wissenschaft und Poesie die Bild-Text-Relation im Kontext der Wissens-Diskurse um 1800 einen bedeutenden Raum ein.

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Bild und Text

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In dem einzigen kunstwissenschaftlichen Beitrag des Bandes gelingt Beate Söntgen nicht nur eine Analyse des Transfers zwischen Wissenschaft und Kunst, sie reflektiert dabei zudem die Übergänge zwischen Bild und Text. Ausgehend von Johann Erdmann Hummels Schriften zur Perspektive zeigt Söntgen, wie Hummel seine theoretischen Überlegungen zur Darstellung des Raums in seinen Werken reflektiert. Dabei unternehme Hummel gewissermaßen eine Dekonstruktion des Paradigmas der Natürlichkeit:

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Soll eine Darstellung natürlich wirken, bedarf sie einer genauen perspektivischen Konstruktion. Tritt diese jedoch hervor, schlägt die Erscheinung um zum Künstlichen. (S. 316)
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Hummel betone nun aber, wie Söntgen deutlich macht, diese Konstruktion der Perspektive in seinen Bildern, so dass auf diese Weise »der Konflikt von neuer Wissenschaftlichkeit und tradierter Kunstauffassung sichtbar« werde (S. 316). Damit behaupte Hummel »eine Wirklichkeit des Bildes […] gegen dessen Abbildungsfunktion« (S. 312). In Söntgens Beitrag kommt zum Ausdruck, wie die wissenschaftliche Fundierung der perspektivischen Malerei zugleich als Dekonstruktion des Nachahmungspostulats lesbar wird. Wissenspoetik artikuliert sich hier als Widerstreit zwischen Wissenschaft und Kunst, der durch den Bild-Text-Transfer zur Darstellung gelangt.

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Dass das Bild-Text-Verhältnis für die romantische Poesie und Wissenschaft von besonderer Relevanz ist, zeigen auch die Beiträge von Gerhard Neumann und Gabriele Brandstetter. In seinem Aufsatz über Hoffmanns Prinzessin Brambilla unternimmt Neumann mit Rekurs auf Callots Radierungen eine Analyse der narrativen Inszenierungen des Textes. Hoffmann generiere mit seinem Capriccio eine neue Wissensform: »die Phantasie-Form […] als wissenspoetisches Organon« (S. 44). In der Inszenierung der Liebesbeziehung zwischen Giacinta und Giglio sieht er eine experimentelle, theatrale Anordnung, die den herkömmlichen Narrations- und Liebesdiskurs-Epistemen zuwiderlaufe. Zentral ist dabei für Neumann die Erkennungsszene der Liebenden, die als Szene der Wahrnehmung lesbar werde. Anhand des Textes und Callots Radierungen kann Neumann überzeugend darlegen, dass das »Dispositiv dieser neuen Wissensform […] das theatrale Modell der Commedia dell’arte« sei (S. 44). Neumanns Lektüre demonstriert, wie Poesie tatsächlich als Wissensformation fungieren kann, als eine andere Potenz der Wissensgenerierung. Dabei erweist sich insbesondere die Parallelisierung von Wissen und Phantasie als innovative Denkfigur. Denn zweifelsohne ist die Phantasie für Hoffmann ein zentrales Moment der Darstellung, das im Sinne einer literarischen Erkennungs- und Verkennungsszenerie durchaus als ein poetisches Wissen fungieren kann. Denn sie eröffnet erst, wie Neumanns Lektüre belegt, den narrativen Raum des Geschehens.

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Während Neumann auf diese Weise das literarische Capriccio als Wissenspoetik liest, beschreibt Brandstetter in ihrem Beitrag über Blasis’ Tanztheorie das »Ballett als Wissenspoetik« (S. 49). Dabei zeigt sie, wie Bildlichkeit selbst zu einem Transfermedium von Kunst, Tanz und Wissenschaft wird. Die Figuren-Schrift werde bei Blasis als Scharnierstelle kenntlich, die die bildliche Darstellung des bewegten Körpers als Schriftbild des Tanzes lesbar mache. Das wissenspoetische Potential des Balletts sieht Brandstetter in der von Blasis vorgenommenen Verknüpfung von theatralem Code und physikalischer Bewegungslehre. Der Körperpädagoge Blasis wird auf diese Weise zum »Mechaniker und Poet der Figur« (S. 62). Am deutlichsten wird dieser Berührungspunkt, wie Brandstetter eindrücklich zu zeigen vermag, an der Figur der Arabeske und Pirourette. Blasis’ Tanztheorie wird so als ein Parallelstück zu Kleists Marionettentheater lesbar. Während aber Kleist »die Reflexionsfigur einer Grazie zweiter Ordnung – zwischen Tier und Gliederpuppe – entwirft, verbindet Blasis die Bewegungswissenschaft der Mechanik und die Darstellungstheorie der Grazie (als Mimesis) zu einer Poetik der Arabeske« (S. 70). Auf diese Weise wird die von Brandstetter aufgezeigte Wissenspoetik – oder auch: Wissenstheatralik – Blasis’ zugleich als Beitrag zur Ästhetik um 1800 lesbar.

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Wissenspoetik und romantische Medizin

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Die romantische Medizin nimmt im vorliegenden Band großen Raum ein. Mehrere Aufsätze beschäftigen sich mit diesem Forschungsfeld. Einer der ergiebigsten ist (neben Albrecht Koschorkes profundem Artikel zu Johann Christian Reil) Roland Borgards’ Beitrag mit dem programmatischen wie provozierenden Titel »Kopf ab«. Borgards zeichnet den zeitgenössischen Diskurs über die Frage nach, ob die Guillotine eine besonders schmerzhafte oder eine schmerzarme Form der Hinrichtung darstelle und setzt diese in Bezug zu Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl.

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Borgards zeigt in seiner präzisen Analyse, dass das Wissen vom Schmerz bei der Enthauptung letztlich auf Nicht-Wissen fußt. Mit Bezug auf Kants Anthropologie, wonach der Tod kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, und Hufelands Schmerztheorie, die sich darauf beruft, dass es keine Erzählung von Enthaupteten gibt, gelangt Borgards zu der Einsicht, dass das »Nicht-Wissen vom Schmerz […] den Raum der Fiktion« eröffne (S. 140). Anhand der medizinischen Texte um 1800 kann Borgards plausibel machen, wie sehr hier Wissen durch die Gestaltungskraft der Narration poetisch hergestellt wird. Gerade durch den Verweis auf das Nicht-Wissen als Bezugspunkt der Wissenspoetik gewinnt Borgards’ Text einen hohen Grad an Plausibilität.

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Im Bewusstsein um die Problematik wissenspoetischer Episteme grenzt Borgards seine Brentano-Lektüre explizit von der Einflussforschung ab:

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Doch mir geht es nicht um Einflussforschung. Denn aus wissenspoetologischer Perspektive verhalten sich die medizinische Diskussion und Brentanos Text nicht zueinander wie die wissenschaftliche Quelle und ihre literarische Umsetzung […]. Vielmehr befinden sich Medizin und Literatur in einem gemeinsamen Raum; sie folgen und etablieren die gleichen diskursiven Regelmäßigkeiten; in ihnen artikuliert sich eine gemeinsame Ordnung. (S. 145 f.)
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Borgards spricht in dankenswerter Klarheit den Anspruch der Poetologien des Wissens aus und vermag diesen auch literaturwissenschaftlich einzulösen. Dies gelingt nicht allen Beiträgen, die sich mit medizinischen Diskursen im Umfeld der Romantik beschäftigen. So lassen Walter Hinderers Überlegungen zum medizinischen Traumdiskurs und den literarischen Darstellungen des Traumwissens eine Reflexion auf das Verhältnis von Poesie und Wissenschaft vermissen.

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Kulturwissenschaft als Philologie

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In der Proklamation der Kulturwissenschaft als eines neuen Paradigmas der Literaturwissenschaft wurde oft die Chance bzw. die Gefahr einer Entgrenzung des philologischen Kerngeschäfts gesehen, wie u.a. aus dem jüngst erschienenen Sammelband zum DFG-Symposion »Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung?« ersichtlich wird. 3 Dass aber kulturwissenschaftliche Perspektivierung philologische Lektüre keineswegs ausschließen muss, zeigen einige der Beiträge des Bandes Romantische Wissenspoetik. Ralf Simon macht in seiner luziden Lektüre von Jean Pauls Siebenkäs die Metaphorik des Herzens zur Herzensangelegenheit der Philologie. Ausgehend von der paulinischen Herzensrhetorik unterzieht Simon den Jean Paul’schen Wortgebrauch einer genauen, im besten Sinn hermeneutischen Auslegung. Dabei geht es Simon weniger um den Transfer des paulinischen und medizinischen Herzensdiskurses in das Jean Paul’sche Textuniversum, sondern um die reflexive Poetik des Siebenkäs, die aus dem Spiel der Herzensmetapher hervorgehe:

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Neben der beschriebenen Amalgamierung von theologischen und medizinischen Herzdiskursen gibt es also im Siebenkäs einen weiteren, dichotomisch zu den massiven Sinninvestionen stehenden Herzdiskurs, der poesiekritisch eine Selbstreflexion auf die Schreibweise einleitet. (S. 285)
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Simon macht in seinem Beitrag deutlich, wie die philologische Lektüre das wissenspoetische Potential – den Transfer von theologischer und medizinischer Rhetorik ins Literarische – eines Textes zu öffnen vermag.

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Einen Blick in das Herz der romantischen Philologie wirft dann der den Band abschließende Beitrag von Stefan Willer. Friedrich Rückerts romantische Etymologie ist der Gegenstand von Willers Überlegungen, die sich gleichsam als Triumph der Philologie lesen und dennoch ihre wissenspoetische Dissemination in Aussicht stellen. Willer zeigt anhand von Rückerts Poetik der Etymologie, wie die Etymologie als Wissenschaft der »Buchstabenmasse« (Novalis) den »Sinn für Zeichenhaftigkeit« öffne (S. 394). Rückerts Verfahren werde dabei als »Konzept einer philologischen poiesis« kenntlich, die zugleich als Verlebendigung der Philologie und als eine die Worte sezierende Mortifikation der Sprache lesbar werde (S. 405). Rückerts Etymologie verbleibe in ihrem Sinn für die Tonalität und Schrift-Bildlichkeit der Sprache in der Aporie der Unhintergehbarkeit von Semantik. In seiner präzisen Lektüre von Rückerts Text gelingt es Willer die wissenspoetische Fundierung der romantischen Philologie aufzuzeigen. Ähnlich wie de Man Grammatik und Rhetorik als zwei einander durchstreichende Lesarten herausstellte, sensibilisiert Willer für die miteinander konkurrierenden Deutungssysteme der Philologie und der Etymologie, deren Widerstreit in gewisser Weise für das Projekt der romantischen Wissenspoetik einsteht.

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Fazit

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Keine Frage: nach der Lektüre des Bandes stellt sich mitnichten ein Wissensekel ein; wird doch in den vielfach anregenden Lektüren gerade eine andere Wissensform aufgerufen, als sie in Fausts Wissens-Kerker zu finden ist. So ist der Band von Brandstetter und Neumann sowohl für die Romantikforschung als auch für das Paradigma der Wissenspoetik als Gewinn und Bereicherung anzusehen, von dem neue Perspektiven und fruchtbare Anstöße für die weitere Forschung ausgehen.



Anmerkungen

Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Friedmar Apel u.a. I. Abt., Bd. 7 / 1: Faust. Hg. v. Albrecht Schöne. Frankfurt / M. 1994, Vs.396.   zurück
Vgl. Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S.7 – 16.   zurück
Vgl. Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart, Weimar 2004.   zurück