IASLonline

Vergebene Chancen

Andrea Vierle über die Geschichte und die Geschichtslosigkeit des Erhabenen

  • Andrea Vierle: Die Wahrheit des Poetisch-Erhabenen. Studien zum dichterischen Denken. Von der Antike bis zur Postmoderne. (Epistemata - Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie 360) Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 448 S. Paperback. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 3-8260-2689-6.
[1] 

»Die Entwicklung der Kategorie des Erhabenen«, so schrieb Carsten Zelle 1987 in seiner vielbeachteten Studie zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert, sei bisher nicht »annähernd und zusammenhängend erforscht«. 1 Rund zwanzig Jahre und einen umfangreichen Sammelband (herausgegeben von Christine Pries), ein Merkur-Themenheft sowie unzählige Tagungen, Seminare, Monographien und Aufsätze später gilt eher das Gegenteil: Die Geschichte des Erhabenen ist in vielerlei Hinsicht überforscht. So kam 2004 bereits die vierte Monographie allein zu Schillers Theorie des Erhabenen 2 auf den Markt – und wer in den einschlägigen Bibliographien und Suchmaschinen nach dem Begriff ›erhaben‹ recherchiert, stößt auf philosophische, kunstgeschichtliche und literaturwissenschaftliche Lektüreangebote für Monate.

[2] 

Trotzdem gibt es erstaunliche Lücken in der Forschungslandschaft. So liegt eine umfassende Studie zur gesamten Geschichte des Erhabenen bisher nicht vor. Den größten Schritt in diese Richtung hat Carsten Zelle mit seiner zweiten Monographie zum Thema unternommen (Die doppelte Ästhetik der Moderne), in der ein Bogen von Boileau bis zu Nietzsche geschlagen, die Zeit davor und danach aber nur beiläufig gestreift wird. 3 Insofern widmet sich Andrea Vierles Wuppertaler Dissertation von 2003, die 2004 unter dem Titel Die Wahrheit des Poetisch-Erhabenen. Studien zum dichterischen Denken. Von der Antike bis zur Postmoderne veröffentlicht worden ist, tatsächlich einem der selten gewordenen Desiderate auf diesem Feld. Zudem ist der Zeitpunkt für eine bilanzierende Gesamtschau gut gewählt, da sich die Theoriediskussion seit Ende der 1990er Jahre etwas beruhigt zu haben scheint. Mit anderen Worten: Es ist Zeit, die Ernte einer fruchtbaren interdisziplinären Debatte einzufahren.

[3] 

Vergebene Chance (1): Poesie

[4] 

Doch hat Andrea Vierle das überhaupt vor? Der Titel ihrer Arbeit wirft gleich mehrere Fragen zur Zielsetzung der Untersuchung auf: Warum ist hier von der ›Wahrheit‹ des Erhabenen die Rede? Und – vor allem – was ist mit dem ›Poetisch-Erhabenen‹, was mit ›dichterischem Denken‹ gemeint? Vielleicht, dass sich die Autorin nicht bloß auf die theoretische, sondern auch auf die praktische Ästhetik bezieht, also auf poetische Texte? In der Tat befassen sich einzelne Kapitel mit Schriftstellern wie Shakespeare, Klopstock oder Hölderlin. Schon diese Auswahl überrascht – nicht erwähnt werden zum Beispiel Barthold Heinrich Brockes oder auch Rilke und Benn, die sich hier zweifellos entschiedener aufdrängen würden als etwa Shakespeare. Doch es sind gar nicht die literarischen Texte, welche von Vierle primär in den Blick genommen werden, sondern Studien über diese Texte. So interessiert sich die Autorin für Shakespeare, weil Ludwig Tieck (von dem zwar ein posthum veröffentlichtes Fragment Über das Erhabene existiert, dessen Werk insgesamt aber wenig Einschlägiges zur Geschichte des Phänomens beiträgt) einen Essay Über Shakespeares Behandlung des Wunderbaren verfasst hat. Dass in diesem Text der Begriff ›erhaben‹ überhaupt nicht fällt und darüber hinaus eine Vermischung der Begriffe des Erhabenen und des Wunderbaren höchst problematisch ist, hindert die Verfasserin nicht daran, eine fünfzehnseitige Zusammenfassung des Essays zu liefern.

[5] 

Setzt diese (Nicht-)Behandlung des poetischen Textes den Leser schon in Erstaunen, ist Vierles Umgang mit Klopstock ein wirkliches Ärgernis. Auch hier findet sich kein einziges direktes Zitat aus Klopstocks Werken. Statt dessen referiert die Autorin Überlegungen, die Karl Viëtor in seiner zuerst 1937 veröffentlichten Studie Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur angestellt hat – die darauf folgenden rund 70 Jahre Forschungsgeschichte, darunter eine Tagung zum Erhabenen bei Klopstock (1995), 4 werden schlicht ignoriert. Die im Titel von Vierles Studie angekündigte Auseinandersetzung mit ›dichterischem Denken‹ schlägt sich somit nicht in einer nennenswerten Beschäftigung mit poetischen Texten nieder. Und auch um eine ›Theorie‹ des ›dichterischen Denkens‹ kann es der Verfasserin nicht gegangen sein, wenn eines der längsten Kapitel ihres Buches Jean-François Lyotard gewidmet ist, der sich weniger für Dichtung als vielmehr für die erhabene Wirkung von Bildender Kunst (insbesondere Barnett Newmans) interessiert. Ausführliche Kapitel finden sich darüber hinaus zu theoretischen Texten von Pseudo-Longin, Platon und Schiller sowie – weniger umfangreich – zur vorkantischen Diskussion im 18. Jahrhundert, zu Kant und Adorno.

[6] 

Vergebene Chance (2): (Theorie-)Geschichte

[7] 

Sollte es die Autorin also auf eine allgemeine Darstellung der Theoriegeschichte abgesehen haben, wie es der Untertitel Von der Antike bis zur Postmoderne nahe legt? In diesem Fall gäbe die Gewichtung einzelner Autoren Rätsel auf. So sind einer Zusammenfassung von Platons Ion und den darin entfalteten Enthusiasmus-Vorstellungen (welche sich partiell mit metaphysischen Deutungen des Erhabenen überschneiden mögen, aber keinesfalls mit diesem gleichgesetzt werden können) über dreißig Seiten gewidmet, während die Beschäftigung mit Kant nicht einmal halb soviel Platz einnimmt. Völlig unterbelichtet bleibt dabei etwa die Frage, ob Kant tatsächlich als der »chief philosopher of the sublime« 5 gelten kann oder seine Analytik des Erhabenen nicht letztlich doch über das Erhabene erhaben ist, insofern sie eine Bewältigung des erhabenen Überwältigungserlebnisses betreibt (so argumentieren etwa Martin Seel, Winfried Menninghaus und Hans Graubner, von denen sich keiner in Vierles unübersichtlicher Literaturliste findet).

[8] 

Kants Position in der Begriffsgeschichte wird somit nicht eindeutig geklärt – wie Vierles Studie überhaupt und trotz ihrer historisch breiten Ausrichtung von einem merkwürdig unhistorischen Zugriff geprägt ist. Selbst dort, wo es dezidiert um die Geschichte des Erhabenen geht, sieht die Autorin vor allem Zusammenhänge, Vorausdeutungen und Rückgriffe. Und das mit voller Absicht: Wichtiger als der jeweilige historische Kontext und die Entwicklungsgeschichte der Kategorie sei es, dass das Erhabene »über alle geschichtlichen Wendungen und Wandlungen hinaus als menschliche Grundstellung erkennbar wird« (S. 13). Auch wenn offen bleibt, was genau man sich unter einer ›menschlichen Grundstellung‹ vorzustellen hat, ist die Frage nach der anthropologischen Substanz des Erhabenen natürlich legitim. Das Erhabene aber gleich in der Einleitung zu einer »entscheidenden und notwendigen Bedingung menschlichen Existierens« (S. 17) zu erklären, schießt nicht nur deutlich über das Ziel einer wissenschaftlichen Analyse hinaus, sondern wirkt angesichts einer derart elaborierten ästhetischen Kategorie auch einigermaßen befremdlich.

[9] 

In keinem Fall sollte zudem aus dem Blick geraten, dass man es hier mit einer in hohem Maß relationalen Kategorie zu tun hat. Im Blick auf Texte von der Antike bis zur Gegenwart kann man kaum über das Erhabene sprechen: Die Lust und Unlust vermischende Erhabenheitserfahrung wird vom spätantiken Autor Pseudo-Longin als rhetorisches Phänomen verhandelt, zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Physikotheologen (über die man bei Vierle nichts erfährt) religiös gedeutet, bei Kant und Schiller mit der Metaphysik des Subjekts in Verbindung gebracht, im Faschismus politisch genutzt und am Ende des 20. Jahrhunderts als ein diesseitiger Zusammenbruch der Zeit- und Raumorientierung erklärt (etwa bei Lyotard und Martin Seel). Diese Zeitgebundenheit von Erhabenheitsvorstellungen wird bei Vierle allenfalls beiläufig zum Thema. Wenn die Autorin in der ersten ihrer beiden Schlussbilanzen eine Linie von Nietzsche über Heidegger zur Postmoderne zieht, wäre es so abwegig nicht gewesen, zumindest kurz darauf einzugehen, dass Hitler von der Kunst als einer »erhabene[n] und zum Fanatismus verpflichtende[n] Mission« 6 spricht (was in Bronzelettern auch am ›Haus der deutschen Kunst‹ in München nachzulesen gewesen ist), oder sich zu fragen, inwiefern etwa die Filmästhetik Leni Riefenstahls mit dem Erhabenen in Verbindung gebracht werden kann.

[10] 

Vergebene Chance (3): Wahrheit

[11] 

Doch auch abgesehen davon liefern die Schlussessays weniger, als nach ihren Überschriften zu erwarten gewesen wäre. In »Die Wahrheit des Erhabenen«, so der Titel des letzten Kapitels, wird nicht eigentlich erklärt, worin diese vermeintliche Wahrheit bestünde, sondern bloß die alte Opposition von einer »objektiven Wahrheit« der theoretischen Reflexion und einer »subjektiven Wahrheit« der Kunst beschworen – und selbstredend »entbirgt sich« nur in Letzterer »das wahre Wesen von Welt, Mensch und existierendem Verhältnis beider zueinander« (S. 423). Solche Passagen irritieren nicht nur aufgrund ihres raunenden Gestus (wie überhaupt der adjektivüberladene und bisweilen recht heiddegernde Stil die Gedankenführung oft nebulös werden lässt), sondern gehen darüber hinaus auch an der neueren Debatte um das Erhabene vorbei – schließlich wird in Lyotards postmoderner Fassung des Erhabenen von jedweden Vorstellungen eines ›wahren Wesens‹ gerade Abstand genommen. Und selbst da, wo etwa Wolfgang Welsch das Erhabene mit Wahrheitsvorstellungen in Zusammenhang bringt, stehen nicht die ›subjektiven Wahrheiten der Kunst‹ zur Debatte, sondern der Versuch, »Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen« 7 walten zu lassen: Erhaben ist für Welsch eine Form der Wahrnehmung, bei der sich das Subjekt der inhomogenen Vielfalt der Wirklichkeit aussetzt, ohne ordnend in sie einzugreifen. Wenn das Erhabene nach Welschs Meinung als die »Erste Philosophie unserer Welt« 8 gelten kann, dann deshalb, weil es der Realität näher kommt, mithin objektiver ist als andere Formen der Welterschließung. Ähnliches mag Peter Handke im Sinn haben, der sich regelmäßig auf das Erhabene bezieht und in einem seiner Journale notiert: »Sich dem Zustand der Wahrheit nähern, d.h. der erhabenen Schwäche«. 9 Es hätte also durchaus neuere diskussionswürdige Ansätze zur ›Wahrheit des Poetisch-Erhabenen‹ gegeben – doch statt sich mit Welsch oder Handke auseinander zu setzen oder eigene Thesen zu entwickeln, werden am Ende der Studie noch einmal ausführlich Gedanken von Heidegger und Kierkegaard rekapituliert (in denen vom Erhabenen freilich nicht explizit die Rede ist).

[12] 

Resümee

[13] 

Auf über 400 Seiten beschäftigt sich Vierles Studie mit dem Erhabenen – und löst doch nicht ein, was ihr Titel verspricht: Über das ›Poetisch-Erhabene‹, über die historische Entwicklung der Kategorie ›von der Antike bis zur Postmoderne‹ und über den Konnex von ›Wahrheit‹ und Erhabenheit informiert die Monographie nur sehr partiell. Die eingangs erwähnte Forschungslücke bleibt damit zu einem großen Teil offen. Dass es der Verfasserin nur ansatzweise gelingt, einen Überblick zu der in den letzten zwanzig Jahren so intensiv geführten Diskussion um das Erhabene zu liefern, hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, dass auf diese neue Debatte nur sehr bruchstückhaft Bezug genommen wird. So werden fast durchweg veraltete Forschungsarbeiten zitiert, dagegen die beiden einschlägigen Monographien von Carsten Zelle nicht ein einziges Mal erwähnt und auch Martin Seels äußerst luzide philosophische Auseinandersetzung mit dem Phänomen ignoriert, von der zweifellos hätte profitiert werden können. 10 Welche Wirkung verspricht sich aber eine wissenschaftliche Studie, die vorführt, dass man wissenschaftliche Studien nicht zur Kenntnis zu nehmen hat? Das Ziel von Vierles Abhandlung ist auch in diesem Sinn nicht eindeutig zu bestimmen.



Anmerkungen

Carsten Zelle: »Angenehmes Grauen«. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert. Hamburg: Meiner 1987, S. XXI.   zurück
Vgl. Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen (Philologische Studien und Quellen 186) Berlin: Erich Schmidt 2004. Näheres zur Abgrenzung von den drei Vorgängerstudien auf S. 21 ff.   zurück
Vgl. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart / Weimar: Metzler 1995.   zurück
Vgl. Klopstock-Haus Quedlinburg (Hg.): Das Erhabene in der Dichtung. Klopstock und die Folgen. Vortragstexte des Kolloquiums am 1. und 2. Juli 1995. Halle: Stekovics 1997.   zurück
Thomas Weiskel: The Romantic Sublime. Studies in the Structure and Psychology of Transcendence. Baltimore / London: Hopkins Univ. Press 1976, S. 7. Ähnlich urteilen C. Kallendorf / Christine Pries / Carsten Zelle: Das Erhabene. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2. Hg. von Gert Ueding. Darmstadt: WBG 1994, Sp. 1357–1389, hier Sp. 1379.   zurück
Adolf Hitler: Die deutsche Kunst als stolzeste Verteidigung des deutschen Volkes. Rede vom 1.9.1933 auf der Kulturtagung des Parteitages. In: Eckhard Klöss (Hg.): Reden des Führers. Politik und Propaganda Adolf Hitlers 1922–1945. München: dtv 1967, S. 108–120, hier S. 118.   zurück
Wolfgang Welsch: Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen. In: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH 1989, S. 185–213, hier S. 213.   zurück
Peter Handke: Am Felsenfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987). Salzburg / Wien: Residenz 1998, S. 254.   zurück
10 
Vgl. insbesondere Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1996.   zurück