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Aufklärung über einen Aufklärer der Aufklärung

Beobachtungen dritten Grades zu
Johann Jakob Engels Werk und Wirken

  • Alexander Kosenina (Hg.): Johann Jakob Engel. Philosoph für die Welt, Ästhetiker und Dichter. (Berliner Klassik 7) Hannover-Laatzen: Wehrhahn 2005. 232 S. 7 s/w Abb. Hardcover. EUR (D) 29,50.
    ISBN: 3-86525-037-8.

Inhalt

Alexander Košenina: Einführung: Johann Jakob Engel und die Berliner Aufklärung

Mark-Georg Dehrmann: Die Vorschule des Dialogischen. Theorie und Praxis des philosophischen Dialogs bei Engel

Gunhild Berg / Rainer Godel: Engels Modell aufklärerischer Selbstbefragung. Selbstreflexivität und Urteilsbildung in Der Philosoph für die Welt

Manfred Beetz: Aufklärung über Vorurteile in Engels Roman Herr Lorenz Stark

Sieglinde Grimm: Johann Jakob Engel: Dichtung und Popularphilosophie

Stefan Trappen / Cluj-Napoca: Handlungsbegriff und Literaturbegriff bei Johann Jakob Engel. Ein Beitrag zur Poetik der Aufklärung

Helmut Lethen: Die Geste als Ausdruck im Lichte einer Handlung. Johann Jakob Engels Beobachtungen zur Mimik

Iwan D’Aprile: Ästhetik und Anthropologie bei Johann Jakob Engel und Wilhelm von Humboldt

Helge Jordheim: Fürstenkult und bürgerliche Subjektivität. Zur gattungsgeschichtlichen Dynamik von Engels Fürstenspiegel

Alexander Košenina: Johann Jakob Engels sokratische Lehrmethode am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin (1776–1787)

Christoph Böhr: An der Schwelle zur deutschen Popularphilosophie. Johann Nikolaus Tetens’ Warnung vor populärer Philosophie. Über eine fast unbekannte Quelle am Beginn einer einflußreichen Strömung

[1] 

Ein vergessener Aufklärer

[2] 

Geradezu ironisch mutet es an, dass ›die Welt‹, an die sich Johann Jakob Engel zu Lebzeiten so emphatisch wandte, ihn schon bald nach seinem Tod vergaß. Immerhin bringt seit etwa 25 Jahren zumindest die Forschung der schillernden Figur der Berliner Aufklärungsszene eine wachsende Beachtung entgegen. Dies verdankt sich nicht zuletzt den anhaltenden Bemühungen um eine umfassende Rehabilitierung der so genannten Popularphilosophie, zu dessen Begründern Engel im Allgemeinen gezählt wird. 1

[3] 

Mittlerweile hat sich eine eigenständige ›Engel-Forschung‹ etabliert und ihn dem Vergessen entrissen. Einen festen Platz in der Literaturgeschichte hat er dennoch nicht erhalten. Nach wie vor ist Engel hauptsächlich eingeweihten Spezialisten des 18. Jahrhunderts ein Begriff. Dies wiederum deutet darauf hin, dass der Rehabilitierungsprozess noch nicht abgeschlossen ist. Somit erscheint es legitim, anlässlich einer neuen Publikation über Engel zu fragen, ob und inwiefern sie dieses unvollendete Projekt fortschreibt.

[4] 

Die einzelnen Beiträge des Sammelband Johann Jakob Engel (1741–1802). Philosoph für die Welt, Ästhetiker und Dichter gehen größtenteils zurück auf ein international besetztes Kolloquium, das die AG ›Berliner Klassik‹ zu Engels 200. Todestag am 28. Juni 2002 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgerichtet hat. Etablierte Aufklärungsforscher wie der Tagungsleiter und Herausgeber Alexander Košenina sind ebenso vertreten wie der wissenschaftliche Nachwuchs.

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Mit der Publikation werden die Tagungsbeiträge nebst einiger ergänzender Aufsätze nun dem Urteil jener Instanz überantwortet, der sich Engel selbst am stärksten verpflichtet sah: der ›Welt‹. Ob sie dort Gehör finden, ist allerdings fraglich, denn die Beiträge richten sich – vielleicht mit Ausnahme von Alexander Košeninas im besten Sinne des Wortes populärem Einführungstext – ihrer Diktion und ihrem Inhalt nach primär an ein wissenschaftliches Publikum, das mit dem aktuellen Forschungsstand zu Engel und zur deutschen Aufklärung gut vertraut ist. Mit der angefügten Bibliographie für die Zeit zwischen 1980 und 2004 wird zudem ein Desiderat der Engel-Forschung gefüllt.

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Auf den ersten Blick scheint der Sammelband thematisch sehr breit gefächert zu sein; kaum eine Facette von Engels Leben und Wirken wurde ausgespart. Nicht nur werden seine poetischen und poetologischen Texte neu gelesen, auch sein Engagement als Theatermann und seine Lehrtätigkeit als Gymnasialprofessor finden Berücksichtigung. Ein buntes Kaleidoskop also. Blickt man allerdings genauer hin, zeichnen sich zwei thematische Fluchtlinien ab. So befasst sich ein Teil der Beiträge damit, die Rezeptionsgeschichte zu rekonstruieren und das (zum Teil erstaunliche) Aktualisierungspotential von Engels Œuvre aufzuzeigen, während ein anderer sich schwerpunktmäßig Engels Ästhetik und Pädagogik zuwendet, ihre zentralen Begriffe und ihre praktischen Manifestationen beleuchtet und ihre Bedeutung für die Popularphilosophie als Gesamtphänomen darzulegen sucht. Aus der Konzentration auf diese beiden Stränge ergibt sich die Auswahl der Beiträge, die im Folgenden rezensiert werden.

[7] 

Johann Jakob Engels
Modernität

[8] 

Gleich an mehreren Beispielen verdeutlicht Helmut Lethen in seinem Beitrag »Die Geste als Ausdruck im Lichte einer Handlung« die Bedeutung, die Engels Ideen zur Mimik für das 20. Jahrhundert besitzen. Die Rezeptionsgeschichte beginnt beim Mediziner, Psychologen, Philosophen und Erfinder des Organon-Modells Karl Bühler. Dieser erwähnt in seiner Ausdruckstheorie aus dem Jahre 1933 explizit Engels Mimiktheorie als Vorbild und Inspirationsquelle seines eigenen psychologischen Ansatzes, den er gegen das physiologisch-experimentelle Vorgehen und gegen die atomistische Sichtweise der Anatomen und Psychiater des 19. Jahrhunderts ins Feld führt. Lethen zufolge kommt Engels Ansatz Bühler insofern zupass, als er eine »Sichtbarkeit der Seelensemiotik« (S. 140) im Sinne des von Bühler vertretenen neusachlichen Behaviorismus proklamiert. Wie Engel sei auch Bühler der Überzeugung, dass aus der Beobachtung der äußerlichen Bewegungsabläufe zuverlässige Rückschlüsse auf die inneren Beweggründe gezogen werden können.

[9] 

Weiter führt die von Lethen verfolgte Spur zu Bertolt Brecht. Anders als Bühler beruft sich Brecht zwar nicht direkt auf Engel, doch teile er mit ihm »die Vorliebe für reflektierte Gebärden«, »die ›Präzision des Ausdrucks‹« sowie »die ›pünctliche Berechnung aller integralen Teile einer Gebehrde‹«. Überdies gefielen Engel wie Brecht »keine ungezügelten, der rationalen Kontrolle entratenden Affektrepräsentationen auf der Bühne« (S. 139). Beider Ideal sei vielmehr eine gewisse Sparsamkeit und Verhaltenheit von Gestik und Mimik gewesen.

[10] 

Selbst an »Beobachtungen der Neueren Phänomenologie« (S. 141) glaubt Lethen Engels Theorie, genauer: seine Ausführungen zur Interdependenz von Körperhaltung und Stimmungslage, anschließen zu können. Leider wird dabei nicht hinreichend deutlich, auf welche Autoren und Theoriesegmente er sich mit dieser These konkret bezieht. Möglicherweise hat Lethen Jean-Paul Sartres Philosophie im Auge, denn er erwähnt ihn einige Absätze später und erinnert an die Ursprünge des Existenzialismus in der Phänomenologie. Bemerkenswert ist allemal, wie Lethen in diesem Zusammenhang Engels Gedanken zum Körperausdruck der Scham als vorweggenommene Überbietung heutiger, an Sartre anknüpfender soziologischer Schamtheorien liest:

[11] 
Engel zeigt uns hermetisch geschlossene Bewegungsräume der Beschämung. Daraus erlöst auch nicht die Reflexion des Machtprozesses, weil Reflexion der Macht schon integraler Bestandteil der Interaktion des Beschämers mit dem Beschämten ist. Beide wissen Bescheid, das ist das Dilemma des Opfers. Engels Beschreibung der Bewegungsabläufe des Schamtheaters enthüllen [!] diese Machtstruktur. (S. 142)
[12] 

Es ist Lethen zufolge insbesondere Engels Beitrag zur Theorie einer Körpersprache der Scham, dank dem seine Ausdrucktheorie »transparent für diese Felder des Wissens im 20. Jahrhundert geblieben ist« (S. 144). Schon deswegen habe man Engel ein ausgeprägtes »Bewusstsein von der Reichweite des Lichts der klassischen Aufklärung« (S. 145) zu attestieren. Engel verkörpere mithin einen ›Grenzgänger der Aufklärung‹, der mit Vorliebe Spaziergänge »am Rand der ›dunkleren Gegend‹« (S. 146) unternommen hat.

[13] 

Lethens Beitrag bietet höchst aufschlussreiche Einsichten auf bislang unbekannte Stationen der Engel-Rezeption. Dass deren Darstellung recht holzschnittartig ausfällt, erscheint angesichts des beschränkten Umfangs von zehn Druckseiten und der Pionierarbeit in diesem Bereich verständlich. Nichtsdestoweniger bedarf insbesondere die Annahme einer Verbindung zwischen Engels Mimiktheorie und der ›neueren Phänomenologie‹ der Präzisierung. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Faden von Lethen selbst fortgesponnen oder von der Forschung aufgenommen wird.

[14] 

Weniger den auf die Romantik vorausweisenden Aspekten von Engels Ausdrucktheorie, als vielmehr den »möglichen Spuren« (S. 149) der spätaufklärerischen Popularphilosophie, die Engels Unterricht im Werk seines Schülers Wilhelm von Humboldt hinterlassen hat, widmet sich Iwan D’Aprile. Er möchte die vielfältigen Beziehungen zwischen – so der Titel seines Aufsatzes – »Ästhetik und Anthropologie bei Johann Jakob Engel und Wilhelm von Humboldt« nachzeichnen. Dazu bedient er sich eines zweistufigen Verfahrens: Zunächst rekapituliert er Engels philosophischen Unterricht, wie er sich in den Mitschriften Wilhelm von Humboldts überliefert findet. Sodann versucht er Einflusszonen von Engels Unterricht in Humboldts Frühschriften aufzuspüren.

[15] 

Engels Vorlesungen zur Einführung in die Philosophie, denen Humboldt beiwohnte, folgen der klassischen Unterteilung in Logik, Metaphysik und praktische Philosophie. Die Lehrbücher, auf die Engel dabei zurückgegriffen hat, sind, zumindest was den Unterricht in Logik und Metaphysik betrifft, bekannt: Für den Logik-Teil ist es ein Handbuch des Wolffenbüttler Aufklärers Hermann Samuel Reimarius, für den Metaphysikteil Johann Georg Heinrich Feders Logik und Metaphysik nebst der philosophischen Geschichte im Grundrisse. An zwei »signifikanten Stellen« (S. 150) seines Logik- und Metaphysikunterrichts allerdings weicht Engel von seinen Vorlagen ab, und diese Abweichungen wecken D’Apriles Interesse. So trennt Engel erstens sowohl im Sinne Baumgartens die Bereiche des Ästhetischen und des Logischen als auch die Bereiche des Ästhetischen und des Moralischen, die zuletzt Sulzer in unzulässiger Weise vermischt hatte. Zweitens teilt Engel die Sinnesvermögen neu ein – und grenzt sich damit ein weiteres Mal von Sulzers Ästhetik ab. Denn wo dieser den Gefühlssinn wegen seiner vermeintlichen ›Grobheit‹ als Medium ästhetischer Erfahrung ausschließt, rehabilitiert Engel ihn als ›Getast‹ und erhebt ihn in den Rang eines ›feineren Gefühls‹. ›Getast‹ ist für Engel ein »aktive[s] Fühlen«, welches er vom »passivem Sinneseindruck« (S. 154) als der anderen, gröberen Variante des Gefühls streng unterschieden wissen will.

[16] 

Für D’Aprile liegt es damit auf der Hand, dass Engel die »Eigengesetzlichkeit des Ästhetischen« stärkt, ja gar »dessen letztliche Unerklärlichkeit präfiguriert« (S. 154). Anhand einer Analyse von Engels Fragment eines Gastmahls versucht der Autor seine These zu untermauern. Die kurze Erzählung schildert, wie ein Arzt »drei Beschreibungsmodelle für eine Theorie der Kunstproduktion [entwickelt]: (1) ein mechanisches Modell, (2) ein chemisches Modell und schließlich (3) ein organisches Modell« (S. 154). Während das mechanische Modell die Kunstproduktion als Trennen und Zusammensetzen von Einzelteilen beschreibt, betrachtet das chemische Modell sie als Akt der Synthetisierung von Außeneindrücken. Das organische Modell, welches am Ende als das wirklichkeitsgetreuste erkannt wird, setzt demgegenüber die Tätigkeit des Künstlers mit einem unerklärlichen Akt der Zeugung gleich. Kunstproduktion und Zeugungsakt werden somit analog gesetzt: »Wie der Zeugungsakt«, so D’Aprile, »muß auch die Kunstproduktion für die Menschen unerklärlich bleiben und die Erklärung beider wird der göttlichen Einsicht anheimgestellt.« (S. 155)

[17] 

Wilhelm von Humboldt hat sich in seinen Werken nie direkt auf seinen Lehrer bezogen. Dennoch findet D’Aprile, dass gewichtige Gründe dafür sprechen, »in der ästhetisch-anthropologischen Grundorientierung von Humboldts Frühschriften ein Erbe der Popularphilosophie zu erkennen« (S. 157). Seine Hauptargumente sind, dass »Humboldt Ästhetik noch in der Tradition der Spätaufklärung als Theorie der Sinnlichkeit [versteht]« und dass er »der Sinnlichkeit dabei innerhalb der menschlichen Vermögen eine so prominente Rolle zu[schreibt] wie kaum ein anderer Theoretiker um 1800« (ebd.). Humboldts Ästhetik sei »anthropologisch orientiert«, seine Anthropologie »ästhetisch indiziert[ ]« (ebd.). Zur Illustration dieser These führt D’Aprile diverse Frühschriften Humboldts an, darunter auch jenen titellosen Aufsatz, mit dem Humboldt auf Wöllners Religionsedikt vom 9. Juli 1788 reagierte. Darin formuliert Humboldt nicht nur eine »Apologie der Sinnlichkeit« (S. 159) im Geiste Engels, er führt auch wie dieser die Diotima-Passagen aus Platons Symposium als Referenzstelle an.

[18] 

So plausibel die von D’Aprile skizzierten Schnittmengen und Berührungspunkte erscheinen, so schemenhaft wirkt der Bezugsrahmen seiner Ausführungen. Der Nexus zwischen Engels Werk und der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts bleibt ebenso unklar wie das Dreieck aus Ästhetik, Anthropologie und Popularphilosophie. Hier wäre zumindest ein Hinweis auf die einschlägige Forschung angebracht gewesen. 2 Dies gilt umso mehr, als D’Aprile neben Engel mit Karl Philipp Moritz ausgerechnet einen Autor zur Popularphilosophie rechnet, der ihr üblicherweise nicht zugerechnet wird – aus gutem Grund, denn bekanntermaßen bereitet Moritz ja einem autonomieästhetischen Paradigma den Weg, welches der heteronomieästhetischen Position der Popularphilosophie diametral entgegengesetzt ist.

[19] 

Auch Sieglinde Grimm sieht in ihrem Beitrag »Engels Modell aufklärerischer Selbstbefragung. Selbstreflexivität und Urteilsbildung in ›Der Philosoph für die Welt‹« Verbindungslinien zwischen der Popularphilosophie und einer Strömung der Moderne, nämlich der Lebensphilosophie Edmund Husserls. Die Gemeinsamkeiten nehmen sich in der Zusammenfassung Grimms wie folgt aus:

[20] 
Husserls lebensweltlichem oder auch lebensphilosophischem Ansatz vergleichbar zielt die Popularphilosophie auf eine Distanzierung von Vernunftoptimismus und enzyklopädischem Anspruch insbesondere des Wolffschen Systemdenkens mit seiner mathematischen Methode, die auf die Gleichstellung von Philosophie und absolutem Wissen hinausläuft. (S. 101)
[21] 

Die Parallelsetzung von Popular- und Lebensphilosophie ist, wie Grimm selbst konzediert, keine völlig neue Einsicht und überdies umstritten (vgl. S. 100). 3 Gleichwohl sei die Lebensphilosophie bislang noch nicht als Ausgangspunkt für die Untersuchung der »Wechselwirkungen von Dichtung, Dichtungstheorie und [...] Popularphilosophie« (S. 99) genutzt worden. Nur auf diesem Weg aber könne herausgefunden werden, »in welcher Weise Dichtung und Dichtungstheorie im Kontext der Popularphilosophie eine neue Legitimation finden.« (S. 99) Engels Schriften seien für ein solches Unternehmen geradezu prädestiniert, da in ihnen »Dichtung, populäre Rede und philosophischer Anspruch in einer innerhalb der Popularphilosophie nahezu einzigartigen Weise zusammen[treffen].« (ebd.)

[22] 

In ihrer Analyse von Engels Dichtungstheorie widerspricht Grimm zunächst der verbreiteten Ansicht, dass es Engel in seiner Dialogkonzeption darum gegangen sei, »mittels der prozessualen Offenlegung der Gedanken im Gespräch den Wahrheitsgehalt der Dichtung sichern zu wollen« (S. 104). Engels eigentliches Anliegen habe vielmehr darin bestanden, eine »Funktionalisierung des dramatischen Dialogs gegen die (Schul-)philosophie« (ebd.) vorzunehmen. Dies sei insbesondere daran zu erkennen, dass Engels Dialogkonzeption ein »Element« enthalte, »das über verstandesgelenkte Vorgaben zur Ordnung der einzelnen Handlungsstränge hinausgeht« (S. 108) – verstandesgelenkte Vorgaben, wie sie die zeitgenössische Schulphilosophie erhebe, wie sie aber etwa auch in Lessings Postulat einer ›inneren Absicht‹ für die epische und dramatische Handlung zum Ausdruck kämen. Gegenüber solchen einseitig vernunftbetonten Ansätzen setze Engel, indem er die »Veränderung der Handlung durch äußere und unvorhergesehene Einflüsse« (S. 109) zeigt, die Wahrheit der Empfindungen und Leidenschaften in ihr Recht.

[23] 

Auf dieser Grundlage kann Grimm nun die Parallelen zwischen Engels Popularphilosophie und Husserls Lebensphilosophie präziser fassen. Demnach korreliert Engels Handlungsbegriff mit Husserls Programm insofern, »als lebensweltliche Erfahrungen vorwissenschaftlich« – und Husserl ist ja an einer vorwissenschaftlichen Perspektive gelegen – »ebenso [wie Engels Handlungskonzept; M. D.] auf ›Umstandsänderungen‹ beruhen, und ihre Bedeutungen ›occasionell‹, das heißt der jeweils gegebenen Situation entsprechend, ausgerichtet werden.« (S. 109)

[24] 

Ging es Grimm bis zu diesem Punkt darum, den Gegensatz zwischen der Schulphilosophie und der Popular- beziehungsweise Lebensphilosophie zu akzentuieren, so versucht sie jetzt, die versöhnenden Momente an Engels literarischer Theorie und Praxis herauszuarbeiten. Auf theoretischer Ebene erblickt sie in der »Mischform von erzählenden und dialogischen Elementen« (S. 113) einen »Brückenschlag zwischen dem individuellen, psychologisch bestimmten Standpunkt der Popularphilosophie und den Forderungen der (schul-)philosophischen Moral« (S. 114). Die Gattung der Erzählung nämlich, so Grimms Hauptargument, trage aufgrund ihrer Allgemeinheit und Abstraktheit alle Merkmale der Schulphilosophie, wogegen der Dialog, hauptsächlich seiner unmittelbaren Evidenz und Anschaulichkeit wegen, den popularphilosophischen Ansatz repräsentiere.

[25] 

Was die literarische Praxis betrifft, erblickt Grimm in Engels Roman Herr Lorenz Stark den Versuch, eine Vermittlung von Popular- und Schulphilosophie zu inszenieren. So werde »in der Konzeption der Figur Starks eine Spannung sichtbar, die mit dem Gegensatz zwischen einer an die Schulphilosophie erinnernden Prinzipienreiterei und dem eklektischen und selbstdenkerischen Standpunkt der Popularphilosophen vergleichbar ist.« (S. 116) Der alte Stark agiere nämlich einerseits prinzipientreu (wie ein Schulphilosoph), ändere aber andererseits seine Vorsätze mehrfach überraschend (wie ein Popularphilosoph). Wenn er sich am Ende schließlich infolge zahlreicher Gespräche mit anderen handelnden Personen dazu veranlasst sieht, seine scheinbar unumstürzlichen moralischen Grundsätze zu korrigieren und sie mit dem »(individuellen) Wunsch« (S. 117) seines Sohnes in Einklang zu bringen, so zeigt dies Grimm zufolge, dass der Gegensatz zwischen Schul- und Popularphilosophie durchaus nicht unüberwindbar ist. Für Engels Verständnis von Popularphilosophie folgt daraus, dass sie »weder auf ein bloßes Ratgeber- und Lebenshilfeschrifttum noch auf eine Simplifizierung allzu abstrakter philosophischer Theorien hinaus[läuft]«, sondern statt dessen einen »inhaltlichen Einwand gegen die Schulphilosophie« darstellt, welcher sich als »Erkenntnisanspruch der Empfindungen« (S. 120) artikuliert – ein Erkenntnisanspruch, der im Zuge romantischer Totalitätsvisionen allerdings schnell wieder obsolet wird.

[26] 

Grimms Thesen scheinen durchweg plausibel, und sie klingen nach schönster Dialektik aus dem Lehrbuch: Gerade haben sich wolffsche Schulphilosophie und engelsche Popularphilosophie zur Synthese vereint, da erscheinen am Horizont bereits Idealismus und Romantik, um sich zu einer neuen Antithese zu formieren und am Ende des 19. Jahrhunderts wiederum selbst »eine umso stärkere Gegenbewegung zu provozieren.« (S. 121) Leider stellt sich bei genauerer Betrachtung heraus, dass das von Grimm entfaltete Schema seine Überzeugungskraft auf Kosten der (bewussten?) Ausklammerung anderer entscheidender Faktoren gewinnt. Dass die kantische Transzendentalphilosophie und der nachkantische Idealismus im abschließenden Ausblick unter dem Stichwort »Idealismus und Romantik« (S. 120) zusammengefasst sind, ist sicherlich verzeihlich. Dass der Polyhistorismus, den die Popularphilosophie bekanntlich mit ebenso großer Verve wie den deutschen Idealismus attackiert, unerwähnt bleibt beziehungsweise seine Merkmale in unzulässiger Weise mit der rationalistischen Schulphilosophie vermischt werden, ist es indes nicht. So behauptet Grimm, die Popularphilosophie habe den »enzyklopädischen Anspruch« (S. 101) der Schulphilosophie kritisiert. Die aufklärerische Enzyklopädie mit ihrer alphabetischen Ordnung kann damit offenkundig nicht gemeint sein, denn diese wird ja nicht von Wolff, sondern von der Popularphilosophie nahe stehenden Autoren wie Diderot, d’Alembert und Sulzer etabliert. Wohl eher dürfte Grimm die allgemeine Forderung nach einer möglichst vollständigen Darstellung allen Wissens im Sinn haben, die die Popularphilosophie ob ihrer Nutzlosigkeit für die gesellschaftliche Praxis als unnötige ›Vielwisserei‹ desavouiert und ihr das Modell eines eklektizistischen Umgangs mit Wissen entgegenstellt. Aber auch dieser Vorwurf ist eigentlich nicht gegen Wolff und seine Eleven, sondern gegen die Sammelwut und ›Pedanterie‹ des barocken Polyhistorismus gerichtet, dessen letzte Ausläufer noch bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zu spüren sind. 4 Die Vorbehalte der Popularphilosophen gegenüber den Schulphilosophen sind gewiss vielfältig gewesen. Aber weder haben sie ihnen die Anhäufung nutzlosen Wissens zum Vorwurf gemacht, noch haben sie, wie Grimm im Rahmen ihrer Interpretation des Lorenz Stark unterstellt, stur an vorgefassten Meinungen festhalten – denn eben dies versteht man ja üblicherweise unter dem von ihr in Anschlag gebrachten Begriff »Prinzipienreiterei« (S. 116). Vorurteile zu hegen ist gerade kein Merkmal eines Schulphilosophen, sondern charakterisiert all jene, die den von Kant reaktivierten horazischen Grundsatz des ›Sapere aude‹ noch nicht internalisiert haben.

[27] 

Dass die Entwicklung, die der alte Stark durchläuft, keine vom Schul- zum (halben) Popularphilosophen, sondern vom unaufgeklärten zum aufgeklärten Individuum ist, bestätigt denn auch die Analyse, die Manfred Beetz in seinem Beitrag »Aufklärung über Vorurteile in Engels Roman ›Herr Lorenz Stark‹« bietet. Für Beetz führt der Roman eine systematisch betriebene »Vorurteilskur« (S. 89) vor, welche »nicht zufällig ein philosophischer Arzt [übernimmt]« (S. 90) und an der letztlich auch der junge Stark partizipiert:

[28] 
Der Familientherapeut zwingt einerseits den Vater zum Perspektivenwechsel, indem er ihm die Wirkung seines Verhaltens auf den Sohn schildert, andererseits erklärt er auch dem Sohn die tieferliegenden Gründe für den ›empfindlichen‹ Tonfall des Vaters, der seinem inzwischen revidierten Bild eines schwachen, verzärtelten und eitlen jungen Mannes entsprach. (S. 94)
[29] 

Es sei der »Zusammenhang von Vorurteil und Selbstbild« (S. 94), den die Familienmitglieder, allen voran der alte Stark, unter Anleitung des Arztes sich selbst erhellen sollen. »Engel«, so Beetz’ einleuchtende These, »sucht dies romantechnisch umzusetzen, indem er den Leser in den perspektivischen Sog der Titelfigur zieht, die im inneren Monolog den Prozeß einer Revision von Vorurteilen erlebt.« (S.94)

[30] 

Poetik, Pädagogik
und Popularphilosophie

[31] 

Den zweiten Schwerpunkt des Sammelbandes bildet der Komplex ›Poetik, Pädagogik und Popularphilosophie‹. In seinem Zentrum stehen – dies klang bereits oben an – Engels Handlungsbegriff sowie seine Konzeption des Dialogs beziehungsweise des Dialogischen. Im Besonderen widmen sich diesen Komponenten die Beiträge von Alexander Košenina und Mark-Georg Dehrmann.

[32] 

Košeninas Beitrag »Johann Jakob Engels sokratische Lehrmethode am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin (1776–1787)« macht zunächst mit den historischen Umständen bekannt, die zur Abfassung von Engels Versuch einer Methode die Vernunftlehre aus Platonischen Dialogen zu entwickeln geführt haben. Demnach sind es die in einer Kabinettsordre Friedrichs des Großen an seinen Minister Karl Abraham von Zedlitz formulierten Anforderungen an den Schulunterricht gewesen, die Engel dazu veranlasst haben, »einem von Systemzwang und Pedanterie freien, induktiv an der Erfahrung orientierten (Selbst)Denken, das sich mündlich in Frage und Antwort entwickelt (Erotematik, Mäeutik) und literarisch elegant in Dialog und Essay präsentiert« (S. 196), auf pädagogischer Ebene Vorschub zu leisten. Hierbei habe sich Engel bewusst in die Tradition des Sokratismus eingeschrieben – einem Sokratismus freilich, der »über eine bloße Lehrmethode hinaus[weist]« (ebd.) und laut Košenina der frühen Lebensphilosophie Karl Philipp Moritz’ zuzurechnen ist (vgl. ebd.).

[33] 

Engels Vorliebe für den Dialog resultiert aber nicht allein aus seiner Bewunderung für Sokrates und Platon, sie ist laut Košenina zugleich »tief in der [...] psychologischen Ästhetik verwurzelt« (S. 198), die Engel vor allem in seinem programmatischen Essay Ueber Handlung, Gespräch und Erzählung (1774) entfaltet. Darin preist er den Dialog an als das »aufgrund seiner zeitlichen und perspektivischen Unmittelbarkeit« (S. 199) am besten geeignete Mittel zur »Darstellung von Handlungen und Charakteren, die allein in der denkenden und empfindenden Seele begründet sind« (ebd.). Engels Handlungsbegriff ist freilich erläuterungsbedürftig, denn entgegen dem Alltagsverständnis definiert er ›Handlung‹ nicht als äußerliche Aktion, sondern »ähnlich wie Friedrich von Blankenburg [...] als einen psychologisch fundierten Entwicklungsprozeß« (S. 199). Um diesen für den Rezipienten evident zu machen, fordert Engel vom Dichter, epische und dramatische Techniken miteinander zu verquicken und seine Darstellung ›pragmatisch‹, das heißt als geschlossene Reihe von Veränderungen, zu organisieren (vgl. ebd.).

[34] 

Anschlussfähig, wenngleich nicht vollkommen neu, erscheinen insbesondere zwei Einsichten Košeninas. Erstens, dass Engel den Wert des Menschen ebenso wie Sokrates »im unaufhörlichen Streben nach Wahrheit und nicht in deren Besitz« (S. 200) erblickt und nur solche Wahrheiten als wissenswert erachtet, die »die Grenzen der Wirklichkeit, Möglichkeit und Nützlichkeit« (S. 203) nicht überschreiten. Für Košenina ist dieses spezifische »Verständnis von Aufklärung und Pädagogik« (S. 200) ein Wesensmerkmal der gesamten Berliner Aufklärung und zugleich eines ihrer wichtigsten Differenzmerkmale gegenüber der Transzendentalphilosophie (vgl. S. 203–204).

[35] 

Wichtig ist zweitens Košeninas Hinweis, dass der Dialog in Engels Theorie und Praxis eine entscheidende Rolle nicht nur für die psychologisch plausible Charakterdarstellung im Roman spielt, sondern dass er als formales Prinzip auch die »didaktische Darstellungsform einer popularphilosophischen Erfahrungsethik« (S. 199) entscheidend mitbestimmt. Diese Funktion des Dialogs ist seitens der Forschung bislang nicht hinreichend beachtet worden, obwohl, wie Košenina anhand zeitgenössischer Reaktionen aufzeigt, Engels dialogischer Didaxe durchaus eine große Wirkkraft beschieden war.

[36] 

In eben diese Forschungslücke stößt der Beitrag von Mark-Georg Dehrmann »Die Vorschule des Dialogischen«. Ausgehend von Engels Gattungssystematik spürt er der Relation zwischen den ästhetischen und den didaktischen Formen des Dialogs nach und beschreibt sie im Horizont »der für die Aufklärung so brisanten Spannung zwischen Normativität und Faktizität« (S. 28). Hierbei macht Dehrmann zunächst auf die Problematik aufmerksam, dass sich jeder Versuch, Engels Gattungspoetik zu interpretieren, mit dem vexierenden Umstand einer »doppelte[n] Funktion« (S. 29) ihrer zentralen Begriffe konfrontiert sieht. Das ›Erzählerische‹ und das ›Dialogische‹ nämlich »begründen einerseits die poetischen Gattungen, andererseits aber gehen sie darüber hinaus. Sie werden zu strukturellen Funktionselementen, die quer zur Ordnung der Gedichtarten stehen.« (ebd.) Die Gattung der Erzählung kann also dialogische Elemente enthalten et vice versa. Infolgedessen umgreift die Erzählung ein Spektrum, das »als ein Extrem äußere Beschreibung, als anderes das Lyrische enthält« (S. 29), während der Dialog »philosophische Allgemeinheit ebenso umgreift wie dramatisch-leidenschaftliche Handlung« (ebd.).

[37] 

Engel selbst hat eine solche Vermischung nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern sie – dies wurde oben bereits erwähnt – sogar zum Ideal erhoben. Gleichwohl misst er, wie Dehrmann betont, im Mix der Gattungen dem dialogischen Element eine besondere Bedeutung zu, denn obwohl die erzählerischen Gattungen durchaus imstande sind, ›Handlung‹ im anthropologisch-engelschen Sinne darzustellen, vermögen allein die dialogischen jene »präsentische Unmittelbarkeit« (S. 31) zu erzielen, die für Engel »die höchste Wirkungssteigerung von Dichtung« (ebd.) bedeutet. Im Einzelnen sind dies das philosophische Gespräch auf der einen und das Drama auf der anderen Seite. Auffällig ist, dass Engel beiden nicht nur Handlung, sondern auch Wahrheit zubilligt und so explizit dem französischen Poetiker Jean François Marmontel widerspricht (vgl. S. 32). Anders als für diesen sind laut Dehrmann für Engel die Unterschiede zwischen den dialogischen Gattungen rein gradueller Natur:

[38] 
Das Drama betrachtet den Menschen eher in gesellschaftlichen, der philosophische Dialog eher in gedanklichen Verhältnissen. Das Drama zeigt Veränderungen der mitmenschlichen Beziehungen, der Dialog solche der Gedanken und Neigungen. Das Drama präsentiert die Logik der Leidenschaften und des Herzens, es bietet dabei eher Motivationsreihen, die klar gefühlt sind, aber nicht unbedingt zu begrifflichem Bewusstsein kommen. Der philosophische Dialog vergegenwärtigt mehr die Tätigkeit des Verstandes. (S. 32 f.)
[39] 

Das Gespräch befriedigt also eher ein intellektuelles Interesse, das Drama hingegen ein affektives. Da Engel den ›ganzen Menschen‹ ansprechen möchte, muss im wirklichen Kunstwerk beides zusammenkommen. Nur in der gattungsübergreifenden ›dramatisch-philosophischen‹ Dichtungsart gewahre der Rezipient »einerseits die Handlung der Vernunft und andererseits auch, wie diese sich gegen ein von Leidenschaften getragenes Raisonnement durchsetzt.« (S. 34)

[40] 

Es scheint somit, als ob der von Angelika Wetterer für die Frühaufklärung konstatierte Widerspruch zwischen philosophischem Wahrheitsanspruch und rhetorischer Wirkungsbezogenheit dank der von Engel propagierten erfolgreich überwunden ist. 5 Tatsächlich aber besteht er unterschwellig fort, denn philosophisches Gespräch und philosophischer Dialog sind, wie Dehrmann ausführt, in ihrer Wirkungsweise letzten Endes doch zu verschieden, um sich völlig bruchlos miteinander vereinen zu lassen:

[41] 
Beide sind zwar so angelegt, dass der Leser lernt. Im Falle des Dramas jedoch vergegenwärtigt der Dialog eher solche Handlungen, bei denen der Zuschauer sich mit dem Verstehen der Antriebe auch über diese erheben kann. Die Bildung von Erkenntnissen im philosophischen Gespräch dagegen besitzt intellektuellen Modellcharakter. (S. 35)
[42] 

Produktionsästhetisch gesehen ist:

[43] 
die technische Schwierigkeit des Dramas [...] die anthropologisch wahre Motivierung von Leidenschaften und Vorstellungsreihen nach der seelischen Logik und ihre semiotische Vermittlung. Die des Dialogs dagegen besteht in der realistischen Ausführung, der anthropologisch-psychologisch glaubwürdigen Aufbereitung eines didaktischen und normativen Lehrstoffes. (S. 36)
[44] 

Nach Dehrmann konfligiert der Realismus der dramatisch-dialogischen mit der Normativität der philosophisch-dialogischen Elemente (vgl. S. 36). Dieses Problem habe Engel erkannt und es durch die Einführung einer fiktiven »plastischen Leitfigur« (S. 38), die den Leser »vor Irrwegen bewahren und ihm den inneren Bestimmungspunkt seiner Reise anzeigen [soll]« (S. 39), zu lösen versucht. Dabei sei ihm schnell klar geworden, dass die ansonsten so verehrte historische Sokratesfigur nur bedingt geeignet ist, diese Rolle auszufüllen: »Der antike Sokrates, so lässt Engel durchblicken, hatte die logischen Mittel noch nicht zur Hand« (S. 42) – Mittel, ohne die es Engel unmöglich schien, »Philosophie als realistische Handlung zu präsentieren« (S. 44). Infolgedessen habe, so Dehrmanns griffige These, der Gymnasiallehrer Engel selbst versucht, Sokrates’ Stelle einzunehmen und eine »progressive Identifikation« (S. 41) der widerstrebenden Prinzipien von Realität und Normativität herbeizuführen.

[45] 

Die Alternative eines ergebnisoffenen und affektgetragenen Dialogs, wie ihn Diderot und Hume als Medium der Wahrheitssuche propagiert haben, hat Engel dagegen verworfen, weil sie ihm ungeeignet schien, um sein Zielpublikum, ›die Welt‹, wirkungsvoll zu adressieren (vgl. S. 45 f.). Zwar schätzt Engel »einerseits die realistische Offenheit von Diderots Dialog für philosophische Experten, mißtraut aber im selben Atemzug seiner Angemessenheit für die Vernunft des durchschnittlichen Lesers« (S. 38). An diesem Punkt deckt sich die Einschätzung Dehrmanns voll und ganz mit der Košeninas, der ebenfalls das »fortbestehende Gefälle zwischen Lehrer und Schüler« (S. 197) notiert, das in Engels Dialogkonzeption vorherrscht. Nach seiner Diagnose ist »Die Gegenseitigkeit [...] nicht universal wie später in der idealen Kommunikationsgemeinschaft eines Karl Otto Apel und Jürgen Habermas, sondern bleibt inszeniert für eine besondere Situation angstfreien, selbstdenkenden Lernens.« (ebd.) 6

[46] 

Inwieweit sich der weltgewandte Philosoph auf das geistige und sprachliche Niveau seines Publikums einlassen darf beziehungsweise muss, ist bekanntlich spätestens ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Befürwortern wie Gegnern einer populären Philosophie mehr oder weniger ausführlich diskutiert worden. 7 Den entscheidenden Anstoß für die Debatte hat die Forschung immer wieder in Diderots Postulat »Hâtons-nous de rendre la philosophie populaire« 8 und dessen Adaption durch den Leipziger Rhetorikprofessor Johann August Ernesti erblicken wollen. 9 Gunhild Berg und Rainer Godel hingegen vertreten in ihrem Beitrag »Engels Modell aufklärerischer Selbstbefragung« die Ansicht, dass von Diderot »kaum eine definitorische Initiative für die Popularphilosophie ausging« (S. 48). Gleichwohl sehen sie in Diderots Schrift »zwei zentrale Fragen angelegt, die auch von Johann Jakob Engel gestellt und hypothetisch, ganz im Diderotschen Sinne, beantwortet werden« (S. 49). Erstens: »Welche Rolle spielt [...] die Relativierung von Erkenntnissicherheit im Zuge der Abwendung von nur rationalen Erkenntniswegen?« (ebd.) Zweitens die Frage, »wie unter diesen Bedingungen [einer anthropologisch bedingten Aufwertung der Unsicherheit; M. D.] Aufklärung als (stetiger) Fortschritt möglich sein könne.« Oder prägnanter formuliert: »Wie muss Aufklärung vorgehen, um wirksam sein zu können?« (ebd.)

[47] 

Bei der Beantwortung dieser Fragen nehmen Berg und Godel jene Einwände Engels gegen Diderots Erzählungen zum Ausgangspunkt, auf die auch Dehrmann abhebt. Demnach habe Engel die ›Erkenntnisunsicherheit‹ der Contes moraux – Dehrmann spricht von ihrer ›Offenheit‹ – ein so großes Unbehagen bereitet, dass er ihr in seinem eigenen Werk entgegenzuwirken versuchte. Im abgezirkelten Bereich der Schule konnte ihm dies relativ problemlos gelingen, weil dort der Lehrer die Kontingenzen der Empirie abschatten und seine Eleven persönlich an allen Erkenntnisabgründen vorbei ans Ziel führen kann. Außerhalb der Lehranstalten aber, wo eine solche Leitfigur fehlt und die Subjekte ganz auf sich gestellt sind, müssen, damit Aufklärung möglich bleibt, andere Formen des Umgangs mit Erkenntnisunsicherheit eingeübt werden. Wie Berg und Godel aufzuzeigen versuchen, lag das Remedium für Engel hier in einer Steigerung des aufklärerischen Selbstbewusstseins. So habe er eigene formale Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe sich die Aufklärung sowohl auf ›individueller‹ als auch auf ›allgemeiner‹ Ebene auf sich selbst zurückwenden und kontinuierlich über ihren Erkenntnisfortschritt reflektieren konnte.

[48] 

Ein individuelles Verfahren aufklärerischer Selbstreflexion sehen die Autoren in Engels Bildsäule prototypisch dargestellt. Die Erzählung handelt von einem Jüngling, der angesichts der prinzipiellen Vorläufigkeit allen Erkennens die Unmöglichkeit beklagt, das Wesen seiner Seele zu entdecken. Engels Übertragung dieser Problemstellung in die Binnenerzählung des Traumes von einer Bildsäule, den der Jüngling träumt, bewirkt eine komplexe Verschachtelung verschiedener Beobachtungsebenen: »Der Träumer reflektiert mithin im Traum die Selbstreflexion der Bildsäule.« (S. 57) Aufgewacht und aus dem Reich der Phantasie wieder in den Raum der Vernunft versetzt, wird der Jüngling sich schließlich bewusst, dass »die Dynamik des ihm innewohnenden Erkenntnisinteresses ihn pauschale, vorschnelle, revisionsbedürftige Urteile [hatte] fällen lassen und die nötige Reflexion der eigenen Denkprämissen und Urteilsverfahren, seine eigene Selbstaufklärung, verhindert.« (ebd.) Der Umstand, dass der Jüngling seine Einsicht nicht nur dialogisch, sondern überdies infolge eines Traums gewonnen hat, ist für Berg und Godel ein Indiz dafür, dass in Engels Reflexionsmodell »die Phantasie [...] Funktionen der Seele [übernimmt], indem sie als Korrekturinstanz der Vernunft die Frageweise des Jünglings nach ihrem Wesen sukzessive berichtigt.« (S. 61) Daran zeige sich, das Engels Reflexionsverfahren der individuellen Aufklärung »den ›ganzen Menschen‹ [berücksichtigen], sie werden beständig geprüft, stetig weiterentwickelt und durch Perspektivenübernahme relativiert. Der Erkenntnisprozeß unterliegt der Historisierung, die dessen Zwischenresultate in den Modus der Wahrscheinlichkeit setzt.« (ebd.)

[49] 

Was Engels Modell allgemeiner Selbstreflexion anbelangt, so glauben Berg und Godel es aus Engels Essay An Herrn S** herausdestillieren zu können. Als »dialogisches Verfahren der Kritik einer Kritik eines Essays« (S. 63) impliziere An Herrn S** eine der Bildsäule vergleichbare Metakritik, die sich allerdings gerade nicht an das Individuum richte. Hier sei vielmehr die Aufklärung »das Subjekt des Erkenntnisprozesses« (S. 63), wobei die Pointe Berg und Godel zufolge nicht allein darin liegt, »daß die Aufklärung sich selbst thematisiert, sondern auch darin, daß die Methoden der Aufklärung, insbesondere die Verfahren der Vorurteilskritik, ausdrücklich auf sie selbst angewendet werden.« (S. 64) Diese »Metaperspektive« (S. 65) manifestiere sich sowohl erzähltechnisch als »wiederholende Rückwendung des Reflexionsvorgangs« wie auch rhetorisch als »Rollentausch in der Übernahme potentieller Gegenargumente« (ebd.).

[50] 

Die Rekonstruktion von Engels Modell(en) aufklärerischer Selbstreflexion wirft ein neues Licht auf das ebenso unscharfe wie umstrittene Phänomen der Popularphilosophie. Diese »definiert sich mithin nicht nur durch das ›Populare‹ an ihr, sondern vorrangig über die Notwendigkeit, ›Philosophie‹ aufgrund der neuen Erkenntnisverfahren neu zu verorten. [...] Der antielitären Zielrichtung einer Philosophie für die Welt eignet mithin auch ein antisystematischer Anspruch, der sich gegen die Wahrheitsdoktrin der Schulphilosophie wendet.« (S. 67) Wahrheit werde hierdurch »nicht generell unmöglich« (ebd.), aber unter den Vorbehalt der Vorläufigkeit gestellt und überdies explizit an die Moral angebunden, verstanden nicht als theologisch fundierte Norm, sondern als lebenspraktischer Leitfaden, der den Menschen als ganzen Menschen berücksichtigt (vgl. S. 70 f.) So gesehen ist Aufklärung ein »sich ständig korrigierender Prozess« (S. 72) mit dem Ziel einer »Verbesserung des ganzen Menschen, nicht nur seiner oberen Erkenntnisvermögen« (S. 74).

[51] 

An diesem Punkt scheint ein Konzept von Rationalität auf, das die neuere Forschung als ›rhetorisch‹ oder ›konjektural‹ bezeichnet und als postmoderne Wiedergeburt der Rhetorik gefeiert hat. 10 Dass dieser Zusammenhang im Beitrag von Berg und Godel nicht zur Sprache kommt, ist angesichts des begrenzten Raumes verständlich. Dass dieser und alle weiteren Bezüge der Popularphilosophie zur rhetorisch-humanistischen Tradition in gesamten Band nicht thematisiert werden, ist indes ein Defizit, wenngleich kein erstaunliches. Vor allem Gert Ueding ist nicht müde geworden zu betonen, dass das Phänomen der Popularphilosophie nur auf der Folie der antiken Kontroverse zwischen Rhetorik und Philosophie wirklich verständlich wird, 11 doch ist sein Rufen bislang ungehört verhallt. So nimmt auch die jüngste und bislang umfangreichste Monographie zur Popularphilosophie, Christoph Böhrs Dissertation Philosophie für die Welt, den von Ueding ausgelegten Faden nicht auf. Zu Recht hat daher Gustav Falke in seiner Rezension Böhr vorgeworfen, »keinerlei Bewusstsein zu haben, daß die Themen, die er als bedeutende Neuerungen des achtzehnten Jahrhunderts behandelt, eher letzte Ausläufer einer breiten und langen Tradition sind«. 12

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Fazit

[53] 

Im Ganzen folgen die Beiträge des Sammelbands dem Anliegen der kritischen Würdigung eines zu unrecht vergessenen Denkers. Dabei wird mehr als deutlich, dass Engels Œuvre nicht an die Nahverhältnisse seiner Entstehungsbedingungen gebunden ist, sondern dass sein literarisches Erbe uns auch heute noch etwas angeht. Insofern stellt der Sammelband einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Wiederentdeckung Engels und der Popularphilosophie dar. Für die Forschung zweifellos ein Gewinn.

[54] 

Auf der anderen Seite bleiben viele Fragen ungeklärt, die für eine literaturgeschichtliche Verortung Engels wesentlich sind. Solange die oben angesprochenen Bezüge zur humanistisch-rhetorischen Tradition nicht rekonstruiert sind, ist man von einer echten Rehabilitierung dieses Autors noch weit entfernt. Ein Blick auf die kulturgeschichtlichen Ursprünge der Popularphilosophie könnte nicht zuletzt auch die Hintergründe ihrer verpassten Zukunft erhellen, denn es steht zu vermuten, dass noch die Dekanonisierung von Engels Œuvre im Idealismus sich aus dem fortdauernden Disput zwischen Rhetorik und Philosophie beziehungsweise aus der philosophischen Transformation der Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert erklärt. 13 Die rhetorische Tradition aber ist der blinde Fleck dieses Sammelbandes, der in seinen besten Momenten Aufklärung dritter Ordnung betreibt, nämlich dort, wo er die Aufklärungskritik des Aufklärers Engel auf seine Historizität hin durchleuchtet.



Anmerkungen

Als wichtige Bausteine dieses Rehabilitierungsprojektes sind die Arbeiten von Helmut Holzhey, Werner Schneiders, Gert Ueding und Walter Christian Zimmerli zu erwähnen sowie ferner: Doris Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1989; Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2003. Für weitere Literaturhinweise sei auf das zehnte Kapitel der Arbeit Böhrs verwiesen.   zurück
Unter den Arbeiten, die die diskursive Schnittstelle von Ästhetik, Anthropologie und Popularphilosophie in den Blick nehmen, wären etwa zu erwähnen: Dors Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns (Anm. 1); Wolfgang Riedel: Das philosophische Profil von Schillers Lehrer Abel. In: Jacob Friedrich Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782). Hg. von Wolfgang Riedel. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 375–450.   zurück
Eine Zuordnung der Popularphilosophie zur Tradition der Lebensphilosophie hat neben dem von Grimm erwähnten Alexander Košenina auch Wilhelm Schmid vorgenommen: Wilhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1998.   zurück
Vgl. Jürgen Fohrmann: Die Erfindung des Intellektuellen. In: Wirtschaft & Wissenschaft 4 / 2001, S. 54–63.   zurück
Angelika Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern. Tübingen: Niemeyer 1981.   zurück
Eine solche deszendente Kommunikationssituation ist charakteristisch auch für den in Frankreich prominenten Gelehrtentypus des ›Philosophe‹. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht / Rolf Reichardt: »Philosophe, Philosophie«. In: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. Hg. von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt. Heft 3. München: Oldenbourg 1985, S. 7–88. Ebenso wie der französische Philosophe begreift sich auch der deutsche Popularphilosoph als ein Ratgeber und Erzieher für alle gebildeten Schichten.   zurück
Der Rekonstruktion dieser Debatte hat sich jüngst Christoph Böhr angenommen. C. B.: Philosophie für die Welt (Anm. 1).   zurück
Denis Diderot: Pensées sur l’interpretation de la nature (1753). In: D. D.: Oeuvres complètes de Diderot. Hg. von Herbert Dieckmann. Paris: Hermann 1975 ff. Bd. 9, Idées III L’interpretation des la nature (1753–1756). Hg. von Jean Varloot. Paris 1981, S. 69.   zurück
Johann August Ernesti: De philosophie populari prolusio actui oratorio in Schola Thomana. Leipzig 1754, S. III. [Wiederabdruck in: John N. Pappas (Hg.): Essays on Diderot and the Enlightenment in Honor of Otis Fellows. Genf: Droz 1974, S. 213–218, hier: S. 213.] Meines Wissens ist der Hinweis auf Diderots Diktum und dessen Verarbeitung durch Ernesti Helmut Holzhey zu verdanken. Ders.: »Popularphilosophie«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. Bd.7. Darmstadt: WBG 1989, Sp. 1093–1100, hier: Sp. 1095.   zurück
10 
Gonsalv K. Mainberger: Rhetorische Vernunft. Oder: Das Design in der Philosophie. Wien: Passagen 1994; Peter Ptassek: Rhetorische Rationalität. Stationen einer Verdrängungsgeschichte von der Antike bis zur Neuzeit. München: Fink 1993.   zurück
11 
»Auch die Debatte, die sich in der deutschen Aufklärung zwischen der Philosophie Chr. Wolffs, später derjenigen Kants auf der einen und der P[opularphilosophie] [...] auf der anderen Seite entspinnt, ist Teil einer sehr viel älteren Auseinandersetzung, die sich seit dem 5. Jh. zwischen Philosophie und Rhetorik ereignet und auf beiden Seiten illustre Namen aufzuweisen hat: Protagoras und Isokrates auf der einen, Platon und seine Schule auf der anderen Seite (Aristoteles gleichsam in der Mitte)« (Gert Ueding: »Popularphilosophie«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 6. Darmstadt: WBG 2003, Sp. 1541–1564, hier: Sp. 1542).   zurück
12 
Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 177 vom 02.08.2004, S. 31.   zurück
13 
Zu den Transformationen der Rhetorik im 17. und 18. Jahrhundert hat jüngst Dietmar Till eine bemerkenswerte Studie veröffentlicht, in der er mit vielen Vorurteilen und Missverständnissen der Rhetorikforschung aufzuräumen sucht. D. T.: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2004.   zurück