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Christlicher Humanismus im Zeitalter
der philologischen Kritik

Zu Ralph Häfners magistralem Werk Götter im Exil

  • Ralph Häfner: Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590-1736). (Frühe Neuzeit 80) Tübingen: Max Niemeyer 2003. XXXI, 716 S. Leinen. EUR (D) 128,00.
    ISBN: 3-484-36580-3.
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Dies ist eine monumentale Studie und ein Meilenstein der Forschung. Zum ersten Mal wird ein Gesamtbild des christlichen Humanismus der Philologen im Zeitalter der Kritik entworfen. Das Buch zeigt unter Wiedergewinnung einer immensen Fülle von vergessenen Quellen, wie komplex sich das Spannungsfeld zwischen heidnischer Mythologie und christlicher Kultur im Bereich der philologischen Kontroversen gestaltet hat. Denn während die heidnischen Göttergeschichten als »fabulae« denunziert wurden, waren sie doch gleichwohl konstitutiv für die produktive, aemulative Rezeption antiker Muster in der Renaissance- und Barockkultur. Wie sollte man mit dieser paganisierenden Eigenlogik umgehen? Sollte man vertrauen auf die integrierende Kraft der christlichen Wahrheit, die in paganen Mustern Vorzeichen oder gar Beweise der eigenen Wahrheit finden konnte? Oder aber selektiv das Heidnische vom Christlichen scheiden? Und welche Rolle spielte die Philologie dabei? Hat die Zunahme an kritischer Kompetenz den Dissoziationsprozeß zwischen Heidentum und Christentum befördert? Oder hat sie auch neue Möglichkeiten der Synthese im Geiste der Apologetik eröffnet?

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Die Rekonstruktion dieser Vorgänge ist viel mehr, als der sehr speziell klingende Titel des Buches verkündet. Es handelt sich um eine – wie man es im angelsächsischen Bereich nennt – »History of Scholarship« großen Stils, geschrieben aus der Perspektive der zentralen Spannungen, die der christliche Humanismus in seiner Spätphase zu bewältigen hatte. Diese Spätphase, der Zeitraum, den das Buch umfaßt, spannt sich vom späten 16. Jahrhundert bis in die 1730er Jahre, einen Punkt, den Häfner wohl nicht ganz zu unrecht als Ende einer langen Epoche begreift.

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Hymnologie
und Polymathie

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Die Untersuchung besteht aus drei Hauptteilen. Der erste handelt vom »Fortleben der orphisch-platonischen Hymnologie im christlichen Humanismus«. Was zunächst ein sehr spezielles und randständiges Thema zu sein scheint, erweist sich schnell als Schlüsselkomplex innerhalb der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit: ein Komplex, in dem die Frontlinien zwischen heidnischer Tradition und Christentum wie auch zwischen Poesie und Theologie ihren Verlauf hatten. Waren Hymnen inspirierte Dichtung? Welche Inspiration aber konnte und wollte man Hymnen an Jupiter oder die Sonne zugestehen? Natürlich haben sich jene Humanisten, die sich die Orphik und den Neuplatonismus wieder aneigneten, gern des Genres bedient. Im 15. und auch noch im frühen und mittleren 16. Jahrhundert schien das im allgemeinen noch unproblematisch. Doch je weiter das philologische Bewußtsein (und die Konfessionalisierung) fortschritten, desto enger wurde der Spielraum für dieses Genre.

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Welcher Spielraum blieb ihm? Häfner stellt diese Problematik in den Kontext des Wiederauflebens eines »eklektischen Platonismus« im Sinne der Zweiten Sophistik. Dessen seit der Wende zum 16. Jahrhundert zu beobachtende Konjunktur verbindet Platonismus mit Beredsamkeit, verbindet den Anspruch umfassender Polymathie mit dem lustvollen Ausbreiten »erlesener« Funde. Apuleius und Aulus Gellius sind in diesem Sinne zwei Autoren gewesen, an denen sich frühneuzeitliche Polyhistoren orientierten. Hinzu kommt noch Martianus Capella als Verlängerung der »Renaissance der Zweiten Sophistik bis in die frühchristliche Enzyklopädie hinein« (S. 18).

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Dieser Ansatz Häfners ist gänzlich originär und scheint mir äußerst fruchtbar für die zuweilen festgefahrenen gegenwärtigen Debatten über Enzyklopädik und »Wissenskulturen« in der frühen Neuzeit zu sein. Seine Bewährungsprobe hat er in diesem Buch gleich zu Beginn bei der Analyse des Werkes von Gerhard Johannes Vossius, dem Leidener und Amsterdamer klassischen Philologen und Historiker. Häfner vergleicht die politischen Umstände, die im zweiten nachchristlichen Jahrhundert die archaisierende Tendenz der Zweiten Sophistik mit ihrem Attizismus als »Amnesie« der von Rom beherrschten Gegenwart begünstigten, mit der Wiederkehr der republikanischen Liberalität in den vereinigten Niederlanden nach ihrer Selbstbefreiung von der spanisch-habsburgischen Herrschaft (S. 18). Ein gewisser Anti-Ramismus in der Polymathie bestand hier deshalb, weil man im Ramismus letztlich nicht sagen konnte und wollte, ob ein Satz ein wahres fundamentum in re habe. Das konnte aber zur kritiklosen Übernahme und »Verwissenschaftlichung« bedenklicher Bereiche wie Magie und Astrologie führen und wies in eine Indifferenz jenseits »wahrer« christlicher Gelehrsamkeit.

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Die Polymathie nahm daher sowohl platonische als auch apologetische Momente auf, um die Indifferenz zu vermeiden, und es ist diese Mischung, die sie in die Tradition einer christlichen Verlängerung der Zweiten Sophistik stellt. Eklektik ist diese Polymathie insofern, als sie ihr Material erst ausbreitet und dann vom Urteil fordert, das Beste auszuwählen. Insofern war Vossius auch in seinen platonischen Anleihen nicht gezwungen, einen »vollen« Neuplatonismus à la Ficino zu übernehmen. Vielmehr verabschiedet er sich von Ursprungslegenden wie der von Orpheus als dem ersten Sänger, wie auch von jeglicher theurgischen Funktion der Hymnik.

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Um so mehr war es für die Dichtung (also auch die Hymnologie) entscheidend, welchen genauen Ort sie im System der Polymathie einnehmen würde. Vossius übernimmt die Lehre von der Identität des Dichters (und Musikers) mit dem Weisen und Gelehrten, er bejaht die »göttliche Poetik«. Aber er leitet den »furor poeticus« von seinen natürlichen Bedingungen her.

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Was vordergründig als Versuch einer Verbindung von platonisierender furor-Lehre und aristotelisch-präzeptiver Poesiologie in der Nachfolge Vidas und des älteren Scaliger erscheinen konnte, stellte sich doch sehr bald als eine dezidierte Abkehr von der platonischen Auffassung über die Möglichkeit eines durch die Gabe des göttlichen Wahnsinns erwirkten und im Verhältnis zu den Göttern unvermittelten Wissens heraus. (S. 42)
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Man sieht an dieser noch stark verkürzten Darstellung, wie ungeheuer kunstvoll die Ausgleichsposition ist, die Vossius zwischen Apologetik und Kritik hergestellt hat. Er schafft Aporien, die er »und seine Zeitgenossen sich aufzulösen hüteten« (S. 48), denn ihre Auflösung würde irreversibel den Weg in die säkulare Welt einleiten. 1 Ich kenne keine vergleichbar differenzierte und tiefgehende Charakterisierung von Vossius’ Denken.

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Römische
Gelehrtenkultur

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Der »Entfaltungsraum« des eklektischen Platonismus war nicht nur Leiden und Amsterdam, sondern auch Rom, wo sein Kontext freilich unterschiedlich gewesen ist. Hier war das Zentrum der theologisch-philologischen Kultur der Gegenreformation. Crispos Neulektüre von Platon und Plotin gegenüber der Lektüre von Ficino 2 und die jesuitische »Selektion« der Lektüre durch Possevino in den 1590er Jahren, zusammen mit der Indizierung zahlreicher magischer, hermetischer oder kabbalistischer Werke, mögen so etwas wie einen endgültigen Wendepunkt markiert haben, einen Abschied von der unbekümmerten Synthese von Platonismus und Christentum als »philosophia perennis«.

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Livio Galante hat, wie Häfner deutlich machen kann, diese Tendenzen aufgenommen: »Galantes Forschungen zeigen, daß man im Kirchenstaat über ein inzwischen sehr differenziertes Instrumentarium verfügte, mit dem man die Spuren der ›alten Weisheit‹ aus dem dogmatischen Leib der christlichen Lehre gewissermaßen herauszupräparieren in der Lage war.« (S. 80) Dennoch hat die »archäologisierende Tendenz« der antiquarischen Forschung auch in dieser Zeit noch dafür gesorgt, daß in gewissem Maße ein Spielraum für erlaubte Platonismen und Allegoresen vorhanden war. 3 Der auf die Vossius-Interpretation folgende Abschnitt vertieft das Thema der Allegorese und Hymnik in eben diesem römischen Ambiente, indem er einen neuen Protagonisten in den Mittelpunkt stellt: den deutschen Konvertiten Lukas Holste (Holstenius) (S. 81–174).

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Ich persönlich würde an dieser Stelle zunächst gern ein Patrizi-Kapitel eingefügt sehen, das mir zu fehlen scheint. Francesco Patrizis Poetik ist zwar erst 1969–71 von Danilo Barbagli ediert worden, daher war sie den Zeitgenossen unbekannt und hat sich in Häfners Analyse der Debatten nicht aufgedrängt. 4 Doch paßt die Theorie der prophetischen Poesie, die Patrizi 1588 auf ausführliche Weise entwickelt hat, gerade in ihrer Stellung in der Übergangsphase von kritikloser Aemulation orphischer und neuplatonischer Hymnik zur kritischen Philologie und Poetik nahtlos in das Konzept von Häfners Buch, ja sie würde es bereichern.

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Statt auf Patrizi konzentriert sich Häfner auf Holstenius, einen noch weniger erforschten Platoniker, der das Ambiente in Rom nur wenige Jahrzehnte später prägen sollte. Der in seiner sozialen Verankerung im Barberini-Kreis kürzlich von Markus Völkel untersuchte Holstenius wird hier, unter Heranziehung zahlreicher handschriftlicher Quellen aus dem Vatikan, in seinem intellektuellen Milieu geschildert: mit seinen Editionen, seinen Kontakten und seinen Akademiereden. Häfners Entdeckung von Holstenius’ Mitwirken in der »Accademia degli Humoristi« (S. 124 ff.) ist dabei besonders hervorzuheben.

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Häfner versucht an dieser wie an vielen anderen Stellen, durch Metaphern eine Differenziertheit zu erreichen, die sonst schnell bei plakativen Titulierungen wie der vom »Platonismus« unterginge. Gerade solche Titel würden die Essenz von Positionen verfehlen, bei denen es um kunstvolle Balancen und ausgeklügelte intellektuelle Konfigurationen geht. So spricht Häfner bei Holstenius von einer »platonisierenden Grundierung« (S. 140), im Falle von Claude Ménestrier vom Aufheben der »apologetischen Spitze der patristischen Literatoren zugunsten einer Lesart«, in der sich »die platonisierende ›Wissenschaft der Interpretation‹ wieder bewähren konnte« (S. 145), vom Oszillieren des Humanismus im jesuitischen Ambiente (S. 148) oder vom neuplatonischen Überformen der natürlichen Theologie bei Théophile Raynaud (ebd.). Gerade die Konfiguration des Barberini-Kreises gibt ein gutes Beispiel dafür ab, daß es Seiltänzer und intellektuelle Balancekünstler waren, die hier wirkten: im vollen Bewußtsein der umfassenden Geltungsmacht des Katholizismus, und zugleich in ständiger Rücksicht auf die Präponderanz der christlichen Theologie gegenüber den heidnischen Quellen.

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Noch der frühneuzeitliche Libertinismus, so könnte man Häfner ergänzen, speist sich aus diesem Spannungsfeld von Fabel und Allegorese einerseits und historisch-philologischer Kritik andererseits. Nur parodiert er gewissermaßen die Balanceakte der Orthodoxie. So hat François La Mothe Le Vayer etwa der Nymphengrotten-Allegorese des Barberini-Kreises, die Häfner auf S. 102 ff. (vgl. auch S. 327 ff.) beschreibt, eine sexuelle Allegorese der Nymphengrotte entgegengesetzt. 5 Ähnlich wie die platonischen Liebe des Petrarkismus in den derb-obszönen antipetrarkistischen Gedichten dieser Zeit sexuell konterkariert wurde, so auch die hochgelehrte Allegorik in der Anti-Allegorik La Mothe Le Vayers. Noch Adriaan Beverland hat 1679 den religionskritischen subversiven Impuls seiner Sündenfall-Deutung aus einer sexuellen Anti-Allegorik gewonnen.

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Dabei schien der Barberini-Kreis doch vor allem dadurch die Zeitgenossen zu beeindrucken, daß bei ihm die »integrierende Kraft des römischen Katholizismus« es sich zutraute, sogar scharfe Christentumskritiker wie Porphyrios oder Salustios umstandslos zu zitieren (S. 148). Doch vor der Skepsis des Pyrrhonikers oder dem Spott des Lukian-Anhängers ist auch noch diese Integration – auf höchster allegorischer Ebene – zu pervertieren. Häfner wird S. 393 ff. im Zusammenhang mit Jacob Tollius und Antonius van Dale kurz auf den Libertinismus eingehen, mit dem er in den Jahren um 1700 einen entscheidenden Umschlag in der Balance von gelehrter Apologetik und historischer Kritik diagnostiziert. Bei diesen Autoren sieht Häfner ein Moment von Persiflage und Parodie im Anschluß an Lukian im Spiel, das sich kaum je wirklich dingfest machen ließ, aber um so mehr jüngere Autoren wie Fréret und Fontenelle zu libertinistischen »Lesarten« (S. 400) einlud.

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Doch wäre zu fragen, ob all dies nicht schon eher, nämlich in den 1630er Jahren, zu finden ist, gerade bei Libertins wie La Mothe Le Vayer, die sich nicht minder an Lukian geschult hatten. Zwar hatten diese Libertins noch nicht die Möglichkeit, auf das in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts immens gewachsene Arsenal der philologischen Kritik zurückzugreifen, doch zumindest historische Skepsis wurde bei ihnen praktiziert.

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Die Wahrheit der
christlichen Religion

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Ein letzter Abschnitt des ersten Teils erforscht die Beziehung zwischen »christlicher Apologetik und Mythogenese« (S. 175–248). Hier werden Martin Opitz, vor allem aber die großen holländischen Philologen Grotius und (nochmals) Vossius einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Martin Opitz gehört insofern in dieses Umfeld, als er in Leiden studiert und 1631 Grotius’ Poem De veritate religionis christianae übersetzt und eingeleitet hat. Auch sein wissenschaftliches Gedicht Vesuvius von 1633 läßt sich, so zeigt Häfner, in einen Problemzusammenhang einordnen, der von Du Bartas’ Wissenschaftspoesie bis zu Daniel Heinsius reicht. Allerdings erweist sich Opitzens Apologetik dann doch, gelinde gesprochen, mit dem Ausdruck von Klaus Hempfer als »divergente Lektüre« gegenüber seinen Meistern Grotius, Heinsius und gar Vossius. Opitz nämlich zeigt sich in vielfacher Hinsicht noch älteren Mustern der Apologetik verpflichtet, unter anderem der krypto-calvinistischen Auffassung der »divinatio« bei Caspar Peucer.

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Grotius selbst wird von Häfner in einer Zwischenposition zwischen dem noch etwas altmodischen Opitz und dem in Bezug auf philologische Kritik forciert modernisierenden Vossius gesehen, dessen Lesart von Grotius’ De veritate durch Opitz geradezu »desavouiert« wird (S. 184). Interessant scheint mir in diesem Zusammenhang der von Häfner auch sonst betonte Konnex zwischen einer bestimmten katholisierenden Apologetik und dem neuen Naturrecht bei Hugo Grotius. Das tertium comparationis ist hier Grotius’ stoisch geprägte Theorie vom »consensus gentium«, der sowohl Weissagungen Christi im ganzen Erdkreis als auch die Universalität der Rechtsgrundlagen betreffen kann.

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Das bedeutet, daß für Grotius die Nähe, nicht die Differenz zwischen christlicher und heidnischer Tradition zu herauszustellen ist. Daß De veritate in diesem Sinne bei bestimmten Interpretationen »im Ergebnis« mit katholischen Theoretikern wie Domenico Mellini »übereinkommt« (S. 195), sicherte dem Werk nach Häfner seine »hohe konfessionsübergreifende Popularität« (S. 199). Grotius hat sich 1627 noch auf die Sibyllina und ähnliche »Beweise« gestützt, was Häfner als bewußte Strategie deutet, nicht alle philologisch prekären Klippen zu vermeiden (S. 198), um sich an den älteren christlichen Humanismus anschließen zu können.

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Häfners Rekonstruktion hat hier den Punkt erreicht, an dem sie nochmals zu Vossius zurückkehren und das Bild vervollständigen kann, das sie zu Beginn des Buches gezeichnet hatte. Nun geht es um das »Idololatrieprojekt«, wie Häfner Vossius’ Arbeiten an De theologia gentili et physiologia christiana (1641 / 1668) nennt. 6 Er sieht dieses Projekt vor dem Horizont der natürlichen Theologie im Sinne von Paulus’ Römerbrief. Allerdings handelt es sich um eine neuartige Konzeption von natürlicher Theologie, die sich als »Historia« der Verehrung der natürlichen Objekte von den Gestirnen über Tiere und Pflanzen bis zu den Gesteinen verstand, und bei dieser »Historia«, der Durchmusterung des überlieferten Wissensbestandes, die kritische Philologie eines Scaliger und Casaubon zugrundelegte.

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Vossius’ Überzegung war es, so Häfner treffend, »daß die Geschichte des menschlichen Heils durch die Geschichte der Idololatrie hindurch kritisch eruiert und in ihrer sinnhaften Konsistenz rekonstruiert werden könne« (S. 232). Natürlich könnte man Vossius’ Idololatrie-Projekt auch von seinen calvinistischen (remonstrantischen) Prämissen oder von der Vorgabe in John Seldens De diis syris her beschreiben, doch Häfners Ansatz hat den Vorteil, in Vossius’ Werk das gleichsam negativistische Verfahren sichtbar zu machen, das immer den Schatten des verfehlten Wahren im faktisch Falschen zu sehen bemüht ist. Darin liegt die Apologetik. Der Sündenfall hat nach Vossius zur Folge, daß die Mythogenese bei allen Völkern immer von ihrer Abweichung der wahren Norm der Offenbahrung zu verstehen ist.

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Daraus ist aber zugleich das methodische Prinzip für eine religionsgeschichtliche Komparatistik und die Präsenz eines verborgenen »consensus gentium« zu gewinnen. Von dieser Position aus entfaltet Vossius seine historisch-philologische Gelehrsamkeit und weist durch Sprachvergleich zahllose kulturelle Umstände der Entstehung von Mythen (»Idololatrien«) auf, ohne sich noch auf solche Spekulationen einzulassen, die vom kritischen Standpunkt als veraltet gelten mußten: über Magie und Theurgie, über allegorisch interpretierte Hintersinne, Ursprache und ungegründete Etymologien (S. 234 ff.).

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Gerade hier zeigen sich die Nähe und die Distanz zur gelehrten Apologetik der Renaissance. Auch wenn sich Vossius’ nüchterne »physiologische« und euhemeristische Lesart der Mythen in ihrer »argutesken Verknüpfung der heidnischen ›Geschichten‹« jene polyhistorische Eklektik bewahrte, die jene Theoretiker ausgezeichnet hatte, die an den Idealen der Zweiten Sophistik orientiert waren, so unterscheidet ihn die kritische Tendenz doch von einem Steuco oder auch Bodin. Der Weg aber, den Vossius eingeschlagen hat, so kann man ergänzen, wird dann weiter zu einem Herbert of Cherbury, Antonius van Dale und auch Giambattista Vico führen.

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Prophetien

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Der zweite Hauptteil (S. 249–422) ist überschrieben mit »Heidnische Prophetien, christliche Weissagungen und heilige Betrügereien«. In ihm geht es nun nicht mehr um die Spannung zwischen der inspirierten Gattung der Hymnen und der christlichen Theologie, sondern um jene Prophetien, die in heidnischer Kultur stattgefunden und dennoch – wie man meinte – Christus vorausgesagt haben; man denke an Vergils vierte Ekloge oder die Sibyllina.

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Häfner läßt deutlich werden, wie sich zwischen konservativen, etwa jesuitischen, Verteidigern der Echtheit der sibyllinischen Weissagungen und den extremen Kritikern wie van Dale oder Toland, die den frühen Christen und Kirchenvätern nicht nur Leichtgläubigkeit, sondern auch bewußten Betrug vorwarfen, eine mittlere Fraktion herausbildete, die philologische Echtheitskritik anmeldete, ohne die Praxis der »frommen« Pseudoepigraphie als Betrügerei werten zu wollen. Diese vor allem protestantische (aber auch liberale Katholiken wie Huet einschließende) Fraktion umfaßt so bedeutende Protagonisten wie Blondel, Le Clerc und Fabricius. Es ist die Fraktion, die ich mit dem Begriff von John Pocock als »konservative Aufklärung« bezeichne.

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Einer der Umstände, die das Thema der heidnischen Weissagungen christlicher Wahrheit so intrikat machten, war nicht nur die Verknüpfung von »falschen« Kontexten mit »richtigen« Inhalten, sondern auch die Spannung zwischen Vernunft (die für die kritische Bewertung des Phänomens Prophetie unerläßlich ist) und »übervernünftigem« Anspruch der Weissagungen. In diesem Sinne hat die Ansicht von der Prävalenz der Prophetie für die Herausbildung des frühneuzeitlichen skeptischen Denkens (seit Gianfrancesco Pico della Mirandola) einen bedeutenden Anteil gehabt, und diese fideistische Allianz kommt auch in den Sibyllina-Debatten immer wieder zum Tragen, wenn den »rationalistischen« Versuchen einer Analyse das Argument der »höheren« Erkenntnis selbst und gerade bei verworrenem Stil entgegengesetzt wurde.

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Häfner führt insgesamt drei Durchgänge durch die Sibyllina- und verwandte Orakel-Diskussionen zwischen etwa 1550 und 1730 durch: der erste betont die rein philologische Debatte, einschließlich der Kontroversen um die richtige Vergil-Deutung (S. 251–304). Kulminationspunkt scheint hier die Mitte des 17. Jahrhunderts zu sein, als vor allem David Blondel (S. 272 ff.) seine Kritik formulierte. Der zweite konzentriert sich sowohl auf die politischen als auch geographisch-archäologischen Beiträge (S. 305–364). In seinem politischen Aspekt (als ›Opium des Volkes‹ und als Ratschlag zum Handeln) konnte man natürlich das heidnische Orakelwesen viel leichter thematisieren als das christliche. Daniel Clasen in Helmstedt tat das im Zusammenhang der zeitgenössischen Balance-Versuche zwischen machiavellistischer Staatsraison und geistlicher Legitimation (und Bändigung) von Herrschaft.

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Schwieriger war der Fall der »christlichen« Sibyllina. Dort konnte auch die Autopsie der Archäologen und Geographen von Panvinius bis Bochart »Evidenzen« für die Wahrheit der Überlieferung ebenso hervorrufen wie kritische Fragen, die sich aus den Differenzen zum textuellen Befund ergaben. Nötig war eine grundsätzliche Positionsbestimmung des Christentums zum Wert der heidnischen »Fabeln«. Das machte sich der Leipziger Philosophiehistoriker Jacob Thomasius zum Anliegen. Häfners Darstellung der Kritik von Jacob Thomasius an diesen Fabeln im allgemeinen und an der »libertas philosophandi« Edmund Dickensons im besonderen ist ein weiterer Glanzpunkt des Buches (S. 346–363).

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Der dritte Durchgang schließlich ist »Heilige Sprüche und philologische Träumereien« betitelt (S. 365–422). Er stellt zunächst Isaac Vossius’ extravagante Deutung der Sibyllina als Resultate jüdischer Apokalyptik in den Mittelpunkt, bevor er sich Antonius van Dales De oraculis veterum ethnicorum zuwendet, das durch Fontenelles Popularisierung eine so große Wirkung auf die europäische Aufklärung bekommen sollte. Wir sehen die komparatistische Philologie auf ihrem Höhepunkt – aber auch auf dem Höhepunkt ihrer Brisanz und ihrer Nebenfolgen für den christlichen Glauben. Denn je mehr die Entstehungsbedingungen religiöser Überlieferung in betrügerischen Machenschaften verortet wurde, desto eher lag auch eine Übertragung dieser Analyse auf das Christentum nahe.

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Daß bei den drei Durchgängen die Aspekte kaum voneinander zu trennen sind und immer wieder kleinere Redundanzen oder Vorwegnahmen entstehen (so hätte Isaac Vossius genausogut im ersten Durchgang seinen Platz finden können), versteht sich von selbst, ist aber zu verschmerzen. Letztlich kreist das ganze Buch immer wieder um ähnliche Themen und kommt immer wieder auf seine Hauptprotagonisten zurück. Die Anstrengung, dieses Material überhaupt linear anzuordnen, wird nicht gering gewesen sein. (Häfner erläutert die Grundanlage des Buches in der Einleitung S. XXV-XXVII.)

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Auch Themen und Grundmotive dieses Buches kehren an unterschiedlichsten Stellen wieder. So stellt sich für Häfner immer wieder heraus, »daß die Begründung der jeweiligen Kritik ganz entschieden von der Auseinandersetzung mit der patristischen Literatur und der Erarbeitung einer biblischen Hermeneutik geprägt ist«. Anhänger von Origenes pflegten ganz anders mit Hymnen oder Prophetien umzugehen als Anhänger von Augustinus, Anhänger von Justin oder Laktanz ganz anders mit heidnischer Weisheit als Anhänger von Tertullian. Die Aufmerksamkeit für diese Unterschiede in den Rückbezügen ist ein Leitmotiv, das Häfners ganzes Buch mit recht durchzieht, ebenso wie seine am Fall Bodin geschulte Aufmerksamkeit für die Problematik der im Platonismus inhärenten Dämonologie. Diese vor allem im Neuplatonismus mit seinen theurgischen Vorstellungen eklatant werdende Lehre war eine dauerhafte Irritation für alle Synthesen aus Platonismus und Christentum. Wie mit dieser Irritation umgegangen wurde, sagt viel aus über die jeweilige Eigenheit einer frühneuzeitlichen Position.

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Es hätte dem Buch an solchen Problempunkten vielleicht ganz gut getan, die Spanne der gelehrten Debatte, die es betrachtet, auch auf den platonisierenden hermetisch-alchemistischen Rand des Spektrums auszudehnen. Denn bei Autoren wie Michael Maier spielen ja sowohl Hymnen als auch Orakeltexte eine große Rolle; nur sind hier die kritisch-philologischen Maßstäbe auf ein Minimum zurückgeschraubt zugunsten der Gesamtschau auf eine »esoterische« Weisheit (der von Häfner auf S. 392–399 analysierte Tollius ist ja nur die Spitze eines Eisbergs). Immerhin sind diese Autoren oftmals die nicht genannten zeitgenössischen Adressaten der Sorgen gelehrter Konservativer über Idololatrie (der Göttin Natur), Enthusiasmus oder Dämonologie.

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Hamburger Projekte

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Der dritte Teil des Buches ist dem Thema »Poesie und Prophetie: Von ersten und letzten Dingen« gewidmet (S. 423–576). Nochmals also das bekannte Spannungsfeld, diesmal mit dem neuen Akzent von Astronomie, Kosmologie und Chronologie. Dieser Akzent bedeutet, daß nun in erhöhtem Maße auch das Verhältnis von kritischer Philologie zu den Naturwissenschaften ins Blickfeld kommt. Dominierende Figur des Teils ist der Hamburger Polyhistor Johann Albert Fabricius, der im frühen 18. Jahrhundert eine Reihe von Editionsprojekten vorangetrieben hat, die Häfner vor allem mit Hilfe des in Kopenhagen überlieferten handschriftlichen Nachlasses in ihren gelehrten Horizonten rekonstruiert. Man kann durchaus sagen, daß Häfners Buch in seiner Rekonstruktion der unglaublich komplexen intellektuellen Welt von Fabricius kulminiert, denn es bedarf schon des Überblickes über die Verzahnungen der Debatten seit Holstenius und Vossius, seit Steuco und Kepler, um die balancierenden Intentionen dieses Mannes zu verstehen und würdigen zu können.

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Wenn Häfner darauf hinweist, daß Fabricius seine Edition der Vita Procli des Marinos Richard Bentley gewidmet hat und daraus die Beobachtung ableitet, daß dieser Umstand »die mannigfachen Verwicklungen des physikotheologischen Konzepts mit Newtons Bibelkritik und dem Platonismus von Cambridge offenlegen kann« (S. 322), dann ist das ein typisches Beispiel für die Differenziertheit seiner Analyse – eine Differenziertheit, die jeglichem in Überblicksdarstellungen grassierenden verkürzten Verständnis der physikotheologischen Bewegung das Wasser abgräbt, ebenso wie Häfners Hinweise der Verbindung der Physikotheologie mit Vossius’ spezifischer Auffassung von natürlicher Theologie dies tut. Ja, Häfner stellt auch noch klar, daß der Platonismus, mit dem sich Fabricius auseinandersetzt, einer ist, »der seinerseits über den Umweg Philons und der alexandrinischen Patristik vorwiegend apologetisch akzentuiert war« (ebd.). Diese Art von Platonismus destruiert Fabricius – ebenso wie Le Clerc –, so daß er auch die »protreptische Funktion«, die die heidnische Götterlehre für Vossius noch hatte, ablehnen muß. Es bleibt bei dieser »kritischen Reduktion der christlichen Apologetik« nur noch der schöpfungstheologische Weg der Physikotheologie (S. 334).

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Auf dieser Basis hat Fabricius eine Reihe von Projekten verfolgt, in denen er Apolegetik mit Kritik verschränkt hat. Ein Beispiel ist sein nicht verwirklichtes »Manilius-Manethon-Projekt« (S. 497 ff.), bei dem es um die Grundlegung der Chronologie ging, und damit auch um Themen wie die Messung des Nilstandes oder den Tisch der Göttin Isis. Immer weiter führte ihn sein Interesse in den Orient. Das zeigt Häfner an seinen Notizen zur zoroastrischen – chaldäischen – Hymnologie (S. 514 ff.) Man kann dort eine spezifische Zusammenschau von orientalisierenden Orakeln, Kosmologie und der Wahrheit der Bibel erkennen. Fabricius deutete »die Seelenreise der chaldäischen ›Centonen‹ als jene ›Überfahrt des Lebens‹ (transmissio vitae), wie sie Proklos in dem Euklid-Kommentar beschrieben hatte, und legte einen historischen Sinn frei, der in der Apokalypse-Vision zugleich den kosmologisch exakten Ursprung von allem gemäß dem mosaischen Schöpfungsbericht enthielt.« (S. 523) Um nicht viel weniger geht es bei Fabricius’ Beschäftigung mit dem faszinierenden Thema des dem Patriarchen Henoch zugeschriebenen apokryphen Wächter-Buches. Hier steht letztlich die Geschichtsastrologie der »Veränderung der Religionen« auf dem Spiel (S. 546 ff.).

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Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang die beachtliche Interpretation, die Häfner dem Dichter und Fabricius-Freund Barthold Hinrich Brockes zukommen läßt (S. 455 ff., 487 ff., 568 ff.). Indem er den Horizont von Brockes’ Gedichten in einigen im Zusammenhang mit Fabricius rekonstruierten Projekten – etwa der chaldäischen Weisheit – eröffnet, gelingt es ihm, die Kontroverse über den Hermetismus Brockes’ (Hans-Georg Kemper) oder dessen Orthodoxie auf eine neue, differenziertere Basis zu stellen. Brockes ist nämlich nicht, so Häfener, Hermetist gewesen, sondern bezieht sich auf die Feuerlehre des Zoroastrismus.

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Die Gründe für das endgültige Auseinanderbrechen der »kulturellen Kohärenz« (S. XXIX) des christlichen Humanismus liegen aber schon im Milieu beschlossen, in dem Fabricius und Brockes arbeiten. »Der Ausschluß der in Teilen des Pietismus zuletzt noch mächtig geförderten millenaristischen Prophetie und Heilserwartung schuf erst die Bedingungen, unter denen eine neuerliche Aufnahme des spiritualistischen Christentums Arndts möglich wurde« (S. 570). Das war nun ein Christentum, das nicht mehr spekulativ oder nicht mehr kritisch war. Poesie und Prophetie, von Fabricius in seiner Henoch-Rekonstruktion ein letztes Mal in eins gesetzt, begannen sich endgültig zu dissoziieren. Es blieb eine Zeit der »anthropologischen Wende«, die, paradoxerweise, anti-humanistische, wenn nicht gar anti-christliche Züge trug.

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Mehrere Anhänge (u.a. mit Ersteditionen von kleineren Holstenius-Texten) runden das Buch ab. Der Index ist vorbildlich, sowohl Namen als auch Sachen umfassend, und bei vielen Namen nochmals Einzelaspekte des Werkes dieser Personen differenzierend.

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Zu diskutieren wäre an dieser Stelle der Zeitrahmen, für den Häfners Buch angelegt ist: 1590–1736. Natürlich ist es elegant, wenn Häfner vom Heros seines ersten Teils, Holstenius, zum Heros seines letzten Teils, Fabricius, eine Brücke spannen kann, die nicht nur durch die gemeinsame Herkunft beider Gelehrter aus Hamburg, sondern auch durch Fabricius’ Fortführung von manchen von Holstenius’ Projekten gestützt ist. Dennoch läßt sich fragen, ob nicht das Spannungsfeld zwischen christlich-humanistischer Apologetik und philologischer Kritik, das das Buch untersucht, schon früher entstanden ist: im späten 15. Jahrhundert, mit Figuren wie den Protagonisten des Kreises um Lorenzo de Medici auf der einen Seite und Philologen wie Lorenzo Valla und Erasmus auf der anderen. Schaut man auf die Dichter im Umfeld von Ficino, dann entdeckt man beispielsweise eine Gestalt wie Michele Marullo, der in seinen Hymni naturales Anrufungen an Naturgottheiten in der Nachfolge des Orphismus und Plethons formuliert, ohne darin einen Widerspruch zum Christentum sehen zu wollen. 7

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Hymnen dieser Art lassen sich dann auch im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts immer wieder nachweisen, nicht zuletzt im Oeuvre eines neuen Naturphilosophen wie Antonio Persio. 8 Umgekehrt ist in diesen Zirkeln auch die philologische Kritik immer bereits präsent – im Mediceer-Zirkel personifiziert durch Poliziano. Faktisch ist Häfner im übrigen dem Umstand, daß das Spannungsfeld längst vor 1590 bestand, durchaus gefolgt, etwa wenn er die Sibyllina-Behandlung mit Castellion (1546) einsetzen läßt, oder wenn er auf Marcus Hopper (1562), auf Jacob Spiegel (1520) oder auf Filippo Beroaldo d. Ä. (1500) zurückgreift, um nur einige zu nennen. Vielleicht könnte man besser sagen (was Häfner in gewisser Weise auch S. XXIX tut), daß seit den Arbeiten von Scaliger und Casaubon in den 1590er Jahren nur eine zweite, verschärfte Phase des Feldes begonnen hat, 9 auf die sich das vorliegende Buch, das schon umfänglich genug ist, konzentrieren möchte.

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Der moderne Verlust an
spekulativem Gehalt

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Was ist der Gesamteindruck, den dieses Buch hinterläßt? Zumindest doch dieser: Was in einer globalen Rede von der »Säkularisierung« in der frühen Neuzeit untergehen würde, wird hier in seinen hundertfachen Zwischenformen und für die Zeitgenossen in der endgültigen Tendenz keineswegs immer auszumachenden Debatten dargestellt. Dank der enormen begrifflichen Präzision und Differenziertheit, die das Buch auszeichnet (vom Vokabular der rhetorischen, der poetologischen, der philosophischen Tradition her ebenso wie von der Feinheit der Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen patristischen Traditionen oder literarischen Strömungen), ergibt sich das Bild eines äußerst vielschichtigen Prozesses.

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Es ist nicht nur eine Rückzugsgeschichte, die sich dem Leser darbietet. Viel stärker schiebt sich in den Vordergrund, welche Blüte von Spekulationen, welche imaginative und theoretische Produktivität diese Debatten hervorgebracht haben, mit einem Wort: welchen gelehrten Reichtum der Renaissance- und Barockepoche, der noch bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts hineinreichte. Im Nachhinein mögen die hochschießenden Theorien dieser Zeit als Träumereien erscheinen (und dies ist auch der Grund, weshalb die Wissenschaftsgeschichte der Philologie, der Religionsforschung usw. meist erst im 19. Jahrhundert ansetzt). Doch Häfner sagt es S. 378 im Zusammenhang der von ihm konstatierten Wende um 1700 ganz deutlich: dieses »Ende der ›Träumereien‹ ging mit einem Verlust an spekulativem Gehalt einher«. So wie Arno Seifert einmal die hohe Zeit der Spekulationen über die Danielsprophetie im 16. und 17. Jahrhundert mit der hohen Zeit der kosmologischen Spekulationen in der Übergangsepoche zwischen Kopernikus und Newton verglichen hat, 10 so läßt sich auch hier konstatieren, daß eine Ideengeschichte, die nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Variantenbreite und den Reichtum von Theorien einbezieht, andere Periodisierungen kennt als die übliche positivistische Fortschrittsgeschichte.

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Geschichte
der Editionen

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Sehen wir am Ende noch etwas darauf, wie dieses Meisterwerk Häfners geschrieben ist. Es wäre oberflächlich gedacht, wenn man – wie der Rezensent – der Überzeugung ist, frühneuzeitliche Werke erschlössen sich nicht zuletzt über die Praktiken der Gelehrsamkeit, deren Produkt sie sind, dann aber vor den Werken der eigenen Freunde und Kollegen (und bei sich selbst) mit diesem Ansatz haltmachte. Nein, eine konsequente Anwendung dieser Überzeugung bedeutet, ganz im Sinne Pierre Bourdieus, die Subjektivierungen zu verobjektivieren, oder, anders gesprochen, die spezifischen Eigenheiten der Praktiken als Methode explizit zu machen. Daher mag es auch sinnvoll sein, sich Häfners monumentalem Werk nicht nur über dessen Thesen, sondern auch über seinen eigentümlichen Stil zu nähern.

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Ich möchte drei Charakteristika herausheben. Das erste Charakteristikum ist das ungewöhnliche Vorgehen am Leitfaden einer Geschichte von Editionen. Das ist nicht mit einer einfachen Geschichte der Philologie zu verwechseln. Vielmehr geht es um die Rekonstruktion einer, wie Häfner es für Fabricius formuliert (S. 426), »philologisch vermittelten Erfahrung«. Es ist nicht zufällig, wer zu welchem Zeitpunkt eine Edition von Porphyrius oder Libanius unternimmt. Doch bedarf es oft umfangreicher Recherchen und Folgerungen, um zu ermitteln, welche Erfahrungen der Editor mit seinen Editionen gemacht und an seine Leser weitervermittelt hat.

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Nötig für einen solchen Untersuchungsstil ist die außerordentliche Beherrschung dessen, was man die Tiefenschärfe der Geistesgeschichte nennen könnte, nämlich die Kaskaden von intertextuellen Rückbezügen von der frühen Neuzeit auf die Antike zu erkennen. Diese Kaskaden können ja über viele Stufen über die Renaissance und zuweilen auch über mittelalterliche Traditionen zurück zur Spätantike, von dort zu hellenistischen oder klassischen Autoren oder auch bis weit in eine teilweise fiktive Urzeit reichen.

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Nicht nur diese Klaviatur beherrscht Häfner. Auch auf der der Interdisziplinarität vermag er souverän zu spielen, indem er (der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit einzig angemessen) ständig zwischen Philologie, Theologie, Philosophie und Historie wechselt, mit gelegentlichen Ausflügen in die Archäologie, Kunst- und Musikgeschichte. Das interdisziplinäre Potential des Werkes ist mit den Ausflügen freilich keineswegs ausgeschöpft – was in einem einzelnen Buch ja auch nicht möglich ist. Denkt man etwa an die komplexe Sibyllen-Thematik – ein Beispiel für viele –, so ließen sich leicht Bezüge etwa zur Malerei Nicolas Poussins knüpfen, für den Themen wie Inspiration oder heidnische Weissagung zentral gewesen sind. 11

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Fabricius als Leitfaden

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Das zweite Charakteristikum möchte ich die Methode des »zuverlässigen Führers« nennen. Wie schon gesagt, kulminiert Häfners Buch in der Interpretation der Projekte von Fabricius. Doch methodisch gesehen hat das Buch eine andere Richtung: es ist von Fabricius her geschrieben. Diesen Umstand erkennt man darin, daß viele der Bezüge, von Holstenius und Gaffarel bis zu Opsopoeius und Raynaud, die Häfner in seinem Buch rekonstruiert, Positionen sind, die auch für Fabricius wichtig waren und mit denen er umgegangen ist. Das von Häfner geschilderte Universum 1590–1730 ist, plakativ gesprochen, das von Fabricius.

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Häfner hat eine sehr kluge Entscheidung getroffen, sich jenen unendlich gelehrten Mann am Ende einer Epoche als Führer und Wegweiser zu wählen, um dieses Universum Stück für Stück zu entdecken und wieder zum Sprechen zu bringen. Was bei Fabricius nur als Bücheranschaffung, annotiertes Exemplar, Edition, bibliographischer Hinweis oder unausgeführtes Projekt wahrzunehmen war, ist bei Häfner in seiner differenzierten Aussage wiederhergestellt. Die hohe Qualität von Fabricius’ Wahrnehmung hat sich Häfner zunutze gemacht, um auf seinen Schultern eine Rekonstruktion von gleichfalls höchster Qualität zu erreichen.

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Stromata

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Das dritte Charakteristikum der Stilpraktik ist die eigenwillige Form der Textkomposition, in der Häfner sein Buch darbietet. Man könnte sein Verfahren mit dem Wort von Clemens Alexandrinus die Herstellung von »Stromata« nennen, von Teppichen. Häfner stellt kunstvolle Gewebe von referierten Quellen her, die er in die Spannungsfelder von Bezugnahmen und Problemhorizonten einfügt, die er ihnen entnimmt oder zuschreibt. Dadurch entsteht für den Leser eine mäandernde Fahrt durch vergangene Geisteswelten. Die Digression ist hier zum Prinzip erhoben, denn nur die Digression kann offenbar den Verweisen folgen, die in den Texten angelegt sind. Häfners Wiederentdeckung der »vielfältigen Gelehrsamkeit« der Zweiten Sophistik als Modell für die frühneuzeitliche Polymathie läßt sich durchaus in unmittelbarem Zusammenhang hiermit verstehen. Er betreibt selbst diese Form von Polymathie, die auch einen Sinn für Amüsantes und Kurioses einschließt, ohne sich ihm völlig hinzugeben.

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Der Vorteil dieser Digressionsmethode liegt auf der Hand: Häfner hat eine solche Vielzahl von unbekannten und seit Jahrhunderten vergessenen gelehrten Werken wiederbelebt, wie es mir aus keinem anderen neueren Werk der Forschung bekannt ist – von Gaffarel zu Petit, von Ménestrier bis Dickinson, von Pignoria bis Cluver, von Galante bis Jacob Thomasius, von Pansa bis Clasen, von Beroaldo bis Nehring, um nur wenige zu nennen. Er vermag es, mit größter Geduld Spuren solange zu verfolgen, bis ein Problemgewebe in seiner ganzen Vielschichtigkeit für den Betrachter präpariert und offengelegt ist.

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Freilich hat dieses Verfahren auch seine Nachteile. Es mag bei dem einen oder anderen Leser die Geduld überstrapazieren oder auch einen gewissen Eindruck von Manieriertheit oder gar Umständlichkeit hinterlassen. Das wäre als solches zu verschmerzen. Sein Nachteil ist aber sicherlich, daß keine scharf konturierten Thesen und nur selten klar festhaltbare Ergebnisse im Strom der Untersuchung sichtbar werden. Der Leser fühlt sich nicht selten orientierungslos und dem Strom der wiedergegebenen Positionen ausgeliefert.

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Textlinguistisch gesehen resultiert diese Orientierungslosigkeit daraus, daß Häfner in starkem Maße auf »moderierende« Passagen verzichtet, in denen er als Autor eingreifen und etwa anfangs darlegen würde, wie die Argumentation verlaufen werde, zwischendurch Weichenstellungen erläutern oder am Ende eine Zusammenfassung der Ergebnisse geben würde. Häfner scheint solche Moderationen bereits als zu starke Eingriffe in das Material zu verstehen, das er ganz für sich selbst sprechen lassen möchte. Thesen oder Zusammenfassungen scheint er als unzulässige Reduktionen der von ihm kunstvoll abgebildeten Komplexität zu halten.

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Diese Sorge ist sicherlich berechtigt. Auf der anderen Seite ist damit aber auch in Kauf genommen, daß einem Leser, der über die Gedankenführung nicht immer wirklich unterrichtet ist, auch die Kontrollmöglichkeiten aus der Hand genommen sind. Ist diese oder jene Digression nötig? Hätte sie nicht auch in eine andere Richtung führen können? Welche Alternativen standen zur Verfügung? 12 Auch wird dem Leser nicht oder kaum gestattet, Bezüge zur Forschungsdiskussion herzustellen. Wenn es etwa um die Sibyllina geht, wird Anthony Graftons These, gerade ein reformierter Protestant wie Isaac Casaubon habe solche Pseudoepigraphen angegriffen, weil seine religiöse Überzeugung seine philologischen Anstrengungen beflügelt habe (zuweilen auch über das Ziel hinaus) – eine These, die Häfner natürlich kennt – , nicht eigens thematisiert oder diskutiert. Auch werden »externalistische« Probleme wie die Rolle von Buchdruck, Veränderungen in der Sozialstruktur oder politische Umstände in ihrer Wirkung auf die Gelehrsamkeit nicht explizit diskutiert; sie werden allerdings zuweilen in der Schilderung en passant mitberücksichtigt. Ein Nachteil des Verfahrens scheint mir auch zu sein, daß es dazu verführt, nicht immer zu insistieren, bis ein Ergebnis erreicht ist, bis gleichsam das historische Grundgestein unter den diversen Positionierungen und Interpretationsschichten freigelegt ist. 13

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Dies alles gesagt, möchte ich freilich nochmals betonen, daß Häfners Stromata-Methode im Vergleich zu den sonst oft üblichen schnellen Kurzschlüssen von wenig Material auf große Thesen sehr gut abschneidet. Die kompromißlose Wiederherstellung von Komplexität, und sei sie für den Leser – auf immerhin 700 Seiten – noch so fordernd, bewahrt vor Verkürzungen. Die Schätze, die Einsichten, die das Buch in so reichem Maße enthält, sind auf den einzelnen Seiten zu suchen, nicht in irgendwelchen Großthesen oder Zusammenfassungen.

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Götter im Exil

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Ein letztes Wort, den Titel des Buches betreffend. Der kundige Leser wird bemerkt haben, daß es sich dabei um einen Titel Heinrich Heines handelt. In Ritzebüttel, Brockes’ Landsitz an der Elbemündung, hat sich Heinrich Heine – wie er sagt – Walfängergeschichten angehört über eine mysteriöse »Kaninchen-Insel«, auf der Seeleute einen alten Greis antrafen, der Griechisch redete und irgendwie an einen olympischen Gott, nämlich an Jupiter erinnert. Die Götter im Exil (Les Dieux en Exil) einer der letzten Texte Heines, von 1853, drei Jahre vor seinem Tod. Dort geht es um die »Umwandelung, welche die griechisch-römischen Götter erlitten, als das Christentum zur Weltherrschaft gelangte und nicht bloß der Volksglaube, sondern sogar der Kirchenglaube ihnen eine wirkliche, aber vermaledeite Existenz zuschrieb.« 14

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Auf Häfners Buch übertragen: die Zeit des kritischen christlichen Humanismus ist eine Zeit des antiken Götterglaubens im Exil, als seine Geschichten als »fabulae« zwar überall präsent sind, doch zugleich theologisch abgewertet und philologisch traktiert wurden. »Ich zweifle nicht, daß es Leute gibt, die sich schadenfroh an solchem Schauspiel laben«, sagt Heine. »Uns aber, die wir von keinem Erbgroll befangen sind, uns erschüttert der Anblick gefallener Größe [...].« Es ist die gefallene Größe auch der Epoche der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit als solcher, die uns Häfner vor Augen führt, die Zeit der großen Debatten über Sibyllen, Orakel, Sternenalphabete und vorsintflutliche Patriarchen mit ihrer »kritisch-argutesken Intensität« (S. 445), die uns ferne Bewunderung, nicht aber spöttisches Lachen abringt.

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Alles in allem ist das Erscheinen dieses Buches ein Ereignis. Ähnlich wie schon bei Winfried Schröders Geschichte der Ursprünge des Atheismus oder Sven Knebels Rekonstruktion der Jesuitendiskurse über Wahrscheinlichkeit ist man erstaunt, was die vielkritisierte deutsche Institution der Habilitationsschrift an gelehrtem Niveau doch hervorbringen kann. Daß deutsche Geisteswissenschaft auch im Jahr 2003 noch ein Niveau erreichen kann, das seit der Verwüstung der intellektuellen Landschaft durch das Dritte Reich nicht mehr denkbar schien, macht Hoffnung auf die Zukunft der Gelehrsamkeit in diesem Land.



Anmerkungen

Ich habe in meinem Buch Moderne aus dem Untergrund in Kapitel V eine vergleichbare Ausgleichsposition vorgeführt (bei Morhof, der sich stark an Vossius orientiert hat) und gezeigt, wie diese Mittelstellung in der Frühaufklärung in eine säkularisierende Schieflage gebracht worden ist.   zurück
Vgl. Maria Muccillo: Plotino nel tardo rinascimento. Annibale Rosselli nel quadro della filosofia neoplatonizzante del XVI secolo. In: Archivio storico per la Calabria e la Lucania 61 (1994), S. 37–137, bes. S. 120–135.   zurück
Häfners Forschungen zum frühneuzeitlichen Platonismus können inzwischen ergänzt werden durch das neue Buch von Udo Reinhold Jeck: Platonica Orientalia. Aufdeckung einer philosophischen Tradition. Frankfurt 2005.   zurück
Francesco Patrizi: Della Poetica. Edizione critica a cura di Danilo Aguzzi Barbagli. 3 Bde. Firenze 1969–1971; vgl. bes. die »Deca Sacra« und die »Deca Semisacra« in Bd. III, S. 265–378 bzw. S. 379–444.   zurück
Vgl. François La Mothe Le Vayer / Adrien de Monluc / Claude Le Petit: L’Antre des nymphes. Textes présentés par Jean-Pierre Cavaillé. Toulouse 2004. Der Text entstand wahrscheinlich um 1630 als Reaktion auf Holstenius’ Edition von Porphyrius’ De antro Nympharum.   zurück
Häfner erwähnt leider nicht das verdienstvolle Buch von Aaron L. Katchen: Christian Hebraists and Dutch Rabbis. Cambridge, Mass. 1984.   zurück
Vgl. Walther Ludwig: Antike Götter und christlicher Glaube – die Hymni naturales von Marullo. Hamburg 1992; Christine Harrauer: Kosmos und Mythos: die Weltgotthymnen und die mythologischen Hymnen des Michael Marullus. Wien 1994; Marullo: Hymnen. lat. / dt. von Otto Schönberger. Würzburg 1997. Die Spannung zum Christentum ist allein schon daran zu erkennen, daß Gianfrancesco Pico della Mirandola seine betont christlichen ›hymni heroici‹ gegen Marullo konzipiert hat.   zurück
Antonio Persio: Trattato dell’ ingegno dell’ huomo. Venedig 1576; Ndr. von Luciano Artese. Pisa, Rom 1999, S. 84–86.   zurück
Daß die kritische Wende von Scaliger und Casaubon nicht absolut ist und beide in ihren philologischen Entlarvungen Vorgänger hatten, zeigt etwa der Fall des Corpus Hermeticum, das im 16. Jahrhundert auch schon von Matthieu Beroalde, Gilbert Genebrard und Goropius Becanus als nicht authentisch angezweifelt worden ist. Vgl. Martin Mulsow (Hg.): Das Ende des Hermetismus. Tübingen 2002.   zurück
10 
Arno Seifert: Von der heiligen zur philosophischen Geschichte. In: Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), S. 81–117.   zurück
11 
Vgl. etwa M. Stanic: Poussin – beauté de l’énigme. Paris 1994. Häfner erwähnt Poussin zwar gelegentlich, geht aber nicht im einzelnen auf seine Malerei ein.   zurück
12 
Um nur ein Beispiel zu nennen: Es ist mir nicht verständlich, warum Häfner in seiner Geschichte der Auseinandersetzungen mit den Sibyllina die wichtige Position Casaubons (1614) nicht chronologisch angemessen zwischen Castellion einerseits und den Autoren der Mitte des 17. Jahrhunderts wie Buchner, Schmid und Blondel andererseits bespricht, sondern sie nur en passant im Zusammenhang mit Carpzov (S. 284) erwähnt. In früheren Kapiteln hatte Häfner dagegen immer wieder auf die entscheidende Zäsur hingewiesen, die das Werk Scaligers und Casaubons für die Geschichte der Kritik bedeute.   zurück
13 
Denn dominant ist bei Häfner das Spiel der diversen Positionen, mehr als die letztgültig erforschte intentio auctoris oder der dingfest gemachte konkrete Einfluß. Was die Autorintention angeht, so scheint mir beispielsweise das libertinistische oder parodistische Moment im Verhältnis zur Philologie, das Häfner bei Van Dale oder Tollius erkennt, nicht endgültig geklärt zu sein; Häfner läßt hier vieles bewußt in der Schwebe. Auch ein so interessantes Phänomen wie die Rezeption von Nifo, Pomponazzi, Cardano und Bodin bei der naturalistischen Herleitung von Prophetie im Falle von Pierre Petit, das Häfner entdeckt hat (S. 288–291), scheint mir noch der endgültigen Kontextualisierung zu harren. Immerhin ist Petit hier im Dunstkreis mehrerer bedeutender libertinistischer Autoren und clandestiner Werke zu verorten. Seine Deutung der Prophetie als Phänomen der Melancholie übernimmt er, wenn ich recht sehe, von François La Mothe Le Vayer (lettre CVI: Des Oracles. In: ders.: Oeuvres, Paris 1662, tom. II, vol. II, S. 875–892, im Anschluß an Pietro d’Abano und dessen Applikation islamischer Prophetologie auf die ps.-aristotelischen Problemata); in ähnlicher Weise hat sich auch der atheistische Theophrastus redivivus (aus den 1650er Jahren, hg. von Guido Canziani und Gianni Paganini, Firenze 1982, hier S. 364–396) bei seiner Behandlung von Orakeln und Sibyllina auf Pomponazzi, Cardano und Bodin gestützt. Zudem kommt aus dem gleichen Kreis um Gilles Menage, dem Petit angehörte (De Sibylla, Dedicatio), der mögliche Autor des ebenfalls extrem religionskritischen Symbolum Sapientiae (hg. von Guido Canziani, Winfried Schröder und Francesco Socas, Milano 2000), Georg Michael Heber. Zwar scheint Häfner recht zu haben, wenn er Petits Text so deutet, daß dieser eine religionskritische Wendung letztlich vermeidet, doch macht diese Deutung die genaue Erklärung des Phänomens Petit in seinem Umkreis um so mehr zum Desiderat. – Was das Problem des Einflusses angeht, so kann die Stromata-Methode dazu verleiten anzunehmen, daß nach dem Erscheinen eines bestimmten Werkes eo ipso ein Horizont eröffnet worden sei, in dem spätere Bücher zu sehen sind. Genauere Nachforschungen lassen dagegen zuweilen die Opazität der Verhältnisse der Autoren untereinander erkennen: nicht immer war ein Werk gelesen worden oder hatte seine Wirkung entfaltet.   zurück
14 
Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb, Bd. 6 / 1. 2. Aufl. München 1985, S. 399. Vgl. in diesem Sinne noch die Erzählung von Gabriel García Márquez: Un señor muy viejo con unas alas enormes.   zurück