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Jeremias Gotthelf und der Schweizer Katholizismus seiner Zeit

  • Philipp W. Hildmann: Schreiben im zweiten konfessionellen Zeitalter. Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius) und der Schweizer Katholizismus des 19. Jahrhunderts. (Mit erster vollständiger Transkription der Handschrift »Kurzer Abriß der Unterscheidungslehren der katholischen Kirche«). Tübingen: Francke 2005. 327 S. Kartoniert. EUR (D) 54,00.
    ISBN: 3-7720-8112-6.
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Schreiben im zweiten konfessionellen Zeitalter?

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Hildmann analysiert die Auseinandersetzung des reformierten Bernischen Pfarrers und Autors mit dem Katholizismus, v. a. mit der konfessionellen Mobilisierung der Schweizer Katholiken in den 1830er und 40er Jahren. Damals stimulierte bekanntlich das Bewußtsein bedrohter Religionsfreiheit die Katholiken zu nationaler Absonderung und Militanz (»Sonderbundskrieg« 1847). Der Verfasser geht historischen Fragen nach mit dem erklärten Ziel, zum besseren Verständnis von Gotthelfs literarischem Werk beizutragen.

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Der Titel überrascht. Müssen wir umdenken? War der Konfessionalismus der eigentliche und eigenständige, epochenbildende Zug der Zeit gewesen, der auch dem weiten Feld des »Schreibens« seine Bedingungen auferlegte? Der Verfasser verweist auf die kontroverse Diskussion um den Begriff »Zweites konfessionelles Zeitalter«, expliziert aber nicht seine Entscheidung pro.

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Der Plan der Arbeit folgt allerdings dem Konsens der älteren Gotthelf-Forschung, die generell gewisse Schaffensphasen des Autors und eine Übereinstimmung derselben mit Phasen der politischen Zeitgeschichte konstruiert hatte (vgl. S. 20 f., 149–156). So folgt er offenbar der Einsicht, daß die konfessionellen Spannungen das Bild der Epoche — es geht v. a. um die Jahre 1828 bis 1854 — nicht bestimmen, sondern nur Teil einer komplexen Konfliktlage waren. Daneben stößt man auch auf einseitige Akzentsetzungen, so wenn Gotthelfs Werke, die nicht zum Thema gehören, weil sie nicht auf den konfessionellen Streit eingehen, als »Fluchtliteratur« abgewertet werden (s. u.).

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Hildmann tut im ganzen etwas anderes, als der Titel verheißt, und man muß das begrüßen. Er geht fortlaufend und ausführlich auf die Rahmenbedingungen des Konfessionalismus ein statt ihn zu hypostasieren; namentlich betont er die provokante Rolle der radikalliberalen Bewegung und Partei. Denn auch Hildmann erkennt in der Politik der Radikalen, die durch rücksichtsloses Agieren gekennzeichnet war, eine Hauptursache katholischer Verhärtung und Militanz. Unstrittig sind die 1840er Jahre in der Schweiz eine Phase des militanten Konfessionalismus, aber auch generell eine Phase militanter Politik.

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Ereignisgeschichtliche Darstellung
des konfessionellen Konflikts

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Mit einem weit über die germanistische Routine hinausgehenden Aufwand legt Hildmann die besagten historischen Bedingungen dar – gründlich und belesen, gelegentlich abwägend, aber ohne Anspruch auf eigene historische Recherche und Neubewertung. Die Schweizer Geschichtsschreibung hat ihr Feld gründlich bearbeitet, so daß es dem Verfasser nur um eine Zusammenstellung der für sein Thema relevanten Gegebenheiten gehen konnte. Man wird umsichtig informiert, z. B. über die unheilvolle Stabilitätspolitik der Restauration, die im Schweizer Bundesvertrag von 1815 jede Revision praktisch ausschloß, so daß die dynamischen Kantone später ›vertragsbrüchig‹ wurden oder werden mußten, während die anderen aus fragwürdigem Rechtsgefühl jeden Kompromiß ablehnten. Zu der dynamischen Gruppierung gehörten zunächst auch die Nordschweizer Katholiken, auch der spätere katholische »Vorort« Luzern, während die reformierten Kantone Baselstadt und Neuenburg es mit der revisionsfeindlichen katholischen Innerschweiz hielten (S. 26–28). Es mußte also einiges geschehen, ehe aus der Bündniskrise ein konfessioneller Konflikt wurde. Die radikale Bewegung trug dann durch Gewaltakte erheblich dazu bei, daß die Katholiken ihre Religion als bedroht empfanden, einen Krieg für unausweichlich hielten (S. 121) und ihn in verblendeter Hoffnung auf den Beistand katholischer Großmächte vorbereiteten – wobei ihre Führer sogar ein Friedensgebot des Papstes unterschlugen (S. 115). Den nichtschweizer Gotthelf-Forschern und besonders den jungen unter ihnen wird es zugute kommen, über diese Abläufe detailliert und übersichtlich informiert zu werden, den Schweizern sind diese Dinge freilich bekannt. Gegen das etwas kurzschlüssige Verfahren, dem aktuellen Konflikt jeweils die Reaktion des Autors zuordnen zu wollen, werden wir noch gewisse Bedenken anmelden müssen.

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Hildmann registriert sorgfältig, ab wann die Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Radikalen als ein Streit zwischen Katholiken und Reformierten empfunden und deklariert wurde. Katholiken bedienten sich der neuen Formel, aber auch Gotthelf drückte sich gelegentlich so aus! Dabei war oft von katholischen Schweizern angeregt worden, was nun als Feindseligkeit der Reformierten galt 1 . Ist es dies, was Hildmann an einer Stelle die »Emanzipation des Konfessionellen« (S. 17) nennt, der er mit seiner Arbeit Rechnung tragen will? Solche Ausdrücke lösen das Rätsel nicht.

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Es bleibt die Frage, ob die »Emanzipation des Konfessionellen« nicht die konfessionalistische Umdeutung und Polarisierung eines komplexen sozialen Problems ist. Offenbar war der ältere Schweizerische Staatenbund, den Gotthelf als ein friedliches, auf gegenseitigem Respekt beruhendes Gebilde verstanden wissen wollte, nicht in der Verfassung, Parteileidenschaften zu zügeln und Streitparteien zum heilsamen Kompromiß zu zwingen. Sonderbünde, Putsche, Freischarenzüge oder auch die »Emanzipation des Konfessionellen« waren scheinbar die einfachere Lösung.

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Von diesen Überlegungen her wäre zu wünschen, der Verfasser hätte die historischen Bedingungen weniger ereignisgeschichtlich und mehr unter der Perspektive struktureller Krisen geordnet. Gegner waren in diesem sogenannten »zweiten konfessionellen Zeitalter« (Olaf Blaschke) zunächst nicht die Konfessionen, es ging nicht um die Einheit des Glaubens und der Kirche; es ging vielmehr um die Stellung der Kirche in Staat und Gesellschaft unter den krisenhaften Bedingungen eines liberalen Systemwandels.

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Zweites konfessionelles Zeitalter
oder Liberalisierungskrise?

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Konfessioneller Widerstand war (auch außerhalb der Schweiz) eine Antwort der Kirchen auf den kulturpolitischen Führungsanspruch des Staates, den dieser in neuen, konfessionell gemischten Staatsgebieten durchsetzen mußte, etwa in der Ausbildung der Theologen. In den Schweizer Kantonen herrschte überdies ein großer, aber ungleicher Modernisierungsbedarf im Rechts- und Verfassungswesen; der Übergang zur liberalen Gesetzgebung mit ihrer Trennung von Recht und Moral wurde jedoch oft als Verfall der Werte empfunden, gerade aus religiöser Sicht. Dieser Riß ging mitten durch die Konfessionen. Auch Gotthelf war ein scharfer Kritiker des liberalen Rechtsstaats, sofern dieser ohne religiöses Fundament liberal und gerecht sein wollte. Konfessioneller Widerstand – katholischerseits auf Betreiben des Papstes 2 – richtete sich sodann gegen die unaufhaltsame Säkularisierung, Liberalisierung und Pluralisierung der Kultur.

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Konfessionalismus war also eine organisierte Tendenz im tiefgreifenden und komplexen Kulturkampf des 19. Jahrhunderts. Mit ›Kulturkampf‹ meine ich nicht nur den Konflikt der Kirchen mit dem Staat oder der jeweils anderen Konfession, sondern den mit der bürgerlichen Gesellschaft: also die generelle Liberalisierungskrise. Auch Gotthelf war als reformierter Schweizer Patriot vor allem von der Politik der radikalen Partei und erst in zweiter Linie von katholisch-kirchlicher Militanz irritiert, und er wurde zur Schießscheibe der Radikalen. Hildmann weiß dies alles (z. B. S. 104 f.), thematisiert aber einen Teil des Konflikts, als sei er ein Ganzes.

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Die ereignisgeschichtlich geordnete Darstellung blendet naturgemäß die historischen Mentalitäten aus, die die zeitgenössischen Konflikte beeinflußten. Dem ist hier nur so weit nachzugehen, wie es die langfristigen Einstellungen Gotthelfs betrifft. Die planmäßige Abfrage seiner Reaktionen auf politische Anlässe lenkt etwas von seinen Einstellungen ab.

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Dies gilt nicht, um es gleich zu sagen, für die im Anhang edierte Transkription der Ende 1821 oder 1822 entstandenen Schrift Kurzer Abriß der Unterscheidungslehren der Katholischen Kirche: Sie enthält die nicht originelle, aber schneidende Kritik des jungen Bitzius an der Entstehung und den Quellen des katholischen Lehrbegriffs, eine Kritik, an der sich Bitzius/Gotthelf selbst langfristig orientierte.

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Gotthelfs Einstellungen über den Tag hinaus

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Wie konnte es aber sein, daß Gotthelf seine Kritik am Katholizismus nur zeitweilig aktivierte, ja sie oft durch Verständnis und Sympathie ersetzte? Hildmann verweist zu Recht auf den gemeinsamen Feind, die Radikalen. Es gibt noch einen zweiten Grund: Gotthelf war zu sehr Schweizer Patriot, um durch konfessionelle Polemik an die prekäre Einheit seiner Nation zu rühren. Die Schweizer Nation mußte bekanntlich neben einer staatenbündischen Verfassung und zwei Konfessionen auch vier Landessprachen, sozial und ökonomisch sehr unterschiedliche Kantone, sowie den literarisch-publizistischen Einfluß zweier großer benachbarter Kulturnationen aushalten. Gotthelf war deshalb kein militanter Patriot wie jene Radikalen, die die Schweiz politisch-ideologisch einigen wollten und sich von daher berechtigt glaubten, Gewalt gegen katholische Institutionen und Kantone zu üben. Vielmehr respektierte er im Sinn der alten, als Staatenbund verfaßte Eidgenossenschaft bestehendes Recht und kantonale Souveränität. Und er respektierte das katholische Volk, das er nicht für die Entscheidungen seiner Hirten verantwortlich machte. Solcher Patriotismus ist eine persönliche Grundeinstellung, die dem Konfessionalismus persönliche Grenzen zieht trotz der »Unterscheidungslehre«.

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Eine zweite, nicht zu unterschätzende Grundeinstellung liegt in Gotthelfs Bekenntnis zur ›christlichen Freiheit‹, womit vor allem innere geistige Freiheit gemeint ist, mit Weiterungen ins Politische. Wird deren Bedeutung für die konfessionelle Haltung Gotthelfs gebührend wahrgenommen? Leider nicht, wofür die Arbeit einen merkwürdigen Beleg liefert:

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In Gotthelfs Festpredigten zum Bernischen Reformationsjubiläum (1828) stellt Hildmann einen gemäßigt kontroversen Ton fest und urteilt, daß der Redner damit die Vorgaben der protestantischen Regierung, die indes Rücksicht auf ihre katholischen Bürger in Jura nehmen mußte, zu erfüllen sucht (S. 48). Das ist richtig, erschöpft aber Gotthelfs Festpredigten keineswegs. Zunächst begnügt sich Gotthelf nicht mit der konfessionellen Kontroverse, sondern er grenzt seinen reformierten Standpunkt nach zwei Seiten hin ab: Er macht die ›geistige Tyrannei des Papsttums‹ verantwortlich für die, wie er meint, historische Trägheit, den Aberglauben und die Sinnlichkeit der Katholiken; ebenso tadelt er den modernen Materialismus 3 , denn beide machen unfrei. Seine Kritik, die scheinbar ›den anderen‹ galt, zielte aber jedesmal auf das eigene Lager! Offen sagt der Festprediger, daß der »katholische« Aberglaube (gemeint ist die Vermischung des christlichen Glaubens mit Magie und Fetischismus) ein massives Problem der Reformierten sei – ebenso wie die von anderer Seite erhobene Forderung nach einer »Reformation« ohne Christentum. Dieser Mut zur Selbstkritik ist für Gotthelf die wahre christliche, weil innere Freiheit.

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In Gotthelfs Reformationspredigten und verwandten Äußerungen ist das Wetterleuchten der liberalen Revolution von 1830/31 wahrzunehmen. Die geistige Bevormundung der Gläubigen durch das Papsttum, von ihm mit Schärfe beschrieben, ist für ihn nur das Urbild jeder religiösen und politischen Entmündigung. Das bezeugt sein nach 1830 verfaßter Vortrag über Christliche Freiheit und Gleichheit in Vergangenheit und Gegenwart, worin er die ehemalige evangelischen Orthodoxie als ein schlimmes Pendant zu Papsttum und politischem Absolutismus skizziert. 4 Gern benutzt er antikatholische Stereotypen, um sie den Reformierten als Spiegel vorzuhalten. So kritisierte er einmal die Verteilung kostspieliger Jubiläumsmünzen durch die patrizische Regierung, um – erster Paukenschlag – den reformierten Machthabern eine ›katholische‹, auf geistlosen Prunk setzende Volksschmeichelei vorzuwerfen und um – zweiter Paukenschlag – seine freimütige Kritik daran als einen ur-evangelischen Wert zu etablieren, den eine reformierte Regierung nicht unterdrücken dürfe! 5 In diesem (Entwurf gebliebenen) Text ist die konfessionelle Polemik nur ein rhetorischer Kniff, um der Freiheit und Unbestechlichkeit im eigenen Lager Raum zu schaffen. Der Verfasser erkennt punktuell diese rhetorische Strategie (z. B. S. 47), ohne jedoch grundlegend den christlichen Liberalismus Gotthelfs als das Maß seiner Selbst- und Fremdkritik einzuführen.

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Eine dritte Grundhaltung wäre zu nennen: Gotthelf hat sich offenbar als Student in Göttingen für die in manchen deutschen Staaten verwirklichte Kirchenunion der Lutheraner und der Reformierten begeistert. Die Ablehnung eines innerprotestantischen Konfessionalismus hat er lange aufrecht erhalten, 6 wenn sein Glaube an die Chance der Union auch sank. Dies ist die Anschlußstelle für Hildmanns Hinweis, daß Gotthelf in den schweren 40er Jahren sogar die Hoffnung auf eine Vereinigung mit der Katholischen Kirche äußerte, wenn er sich auch darüber im klaren war, daß er sie nie erleben würde (siehe S. 110).

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Wie klar sind Gotthelfs »faktuale« Äußerungen?

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Schließlich ist eine stilistische Grundhaltung Gotthelfs von Bedeutung. Sie ist zu bedenken, wenn man systematisch Gotthelfs »faktuale« Äußerungen von den »fiktionalen« Texten unterscheidet, um von der Kenntnis des (vermeintlichen) Klartextes her den poetischen Text sicherer lesen zu können. Um das Problem zu konkretisieren: Gotthelf polemisiert einmal gegen des Papstes »schwarze und braune Banden«. Als Metonymie gelesen, bezieht sich der Ausdruck auf die in schwarzer bzw. brauner Tracht auftretenden Orden der Jesuiten und Kapuziner: Der Wirklichkeitsbezug ist anscheinend klar. Auf einer anderen Ebene sind die Farben Schwarz und Braun jedoch allegorische Attribute der Hölle! Meint der Ausdruck nun die Ordensleute – oder die Realität teuflischer Macht? Dem Kapuziner wird einer, der den Teufel sieht, lieber sein als einer, der ihn nicht sieht. Doch der Auswerter »faktualer« Texte hat ein Problem. Denn für den Theologen Bitzius zählt nicht, was die Dinge nach profaner Übereinkunft wirklich sind, sondern was sie christlich bedeuten. Er überhöht seine Wirklichkeitsbezüge auch in »faktualen« Texten gern durch Bilder aus allegorischen Traditionen, namentlich aus der christlichen.

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Wenn Hildmann die an allegorischen Bildern reiche Wassernot im Emmental ebenfalls zu den faktualen Textzeugen rechnet (S. 63–67), ist die Komplikation offenkundig, und tatsächlich kann die Auswertung der Wassernot nicht überzeugen. Der Erzähler sagt, die Tod und Verwüstung tragenden Wolkenmassen hätten an jenem fatalen Sonntag nicht über dem Emmental ausregnen wollen, weil fromme Gebete und Gesänge der reformierten Kirchgänger sie störten. Über den Berg Honegg hätten die Wolken daher ausweichen wollen ins Thunertal, um einen Weg zu finden »aus dem frömmern Land ins sinnlichere Land«. 7 Für Hildmann ist das katholische Luzern gemeint (obwohl der Weg vom Emmental ins Luzernische nicht gerade über Thun führt): »Das Fazit, zugespitzt formuliert, lautet: nicht die Reformierten, sondern die Katholiken hätten aufgrund mangelnder wahrer Frömmigkeit das furchtbare […] Gottesgericht verdient, wenn nicht gar durch ihre Sinnlichkeit selbst heraufbeschworen.« (S. 66) Diese Deutung ist, auch wenn man die »Zuspitzung« konzediert, so unfertig wie der Text, denn der geht weiter! Nicht interpretiert wurde der Satz: »Aber der alte Bernerberg [die Honegg] wankte nicht […] und sperrte kühn den Weg nach alter Schweizer Weise, die den Feind hineinließen ins Land, aber nicht wieder hinaus.« 8 Der antikatholische Ausfall wird hier gleichsam aufgehoben durch die Solidarität und Opferbereitschaft, die die Berner für alle Eidgenossen erbringen. Übrigens bemerkt Hildmann, daß diese (von ihm selbst konstruierte) antikatholische Passage auf keinen historischen Anlaß zurückzuführen ist (S. 151). Man kann hinzufügen, daß solche Stelleninterpretationen doch sehr an der Oberfläche eines Textes bleiben können, wie das Beispiel zeigt.

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Die Behauptung ist daher überzogen, daß die Analyse der »faktualen« Textzeugen eine historisch fundierte Standortbestimmung Albert Bitzius’ ermögliche, »von der allein [!] erst eine umfassende Interpretation der fiktionalen Werke des Jeremias Gotthelf vorgenommen werden kann.« (S. 73) Selbstverständlich sollen die »faktualen« Texte berücksichtigt werden, aber um sie lesen zu können, muß man immer schon die rhetorischen und die fiktionalen Techniken Gotthelfs verstehen.

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Eine differenzierte Lesart fordern auch die Jahres-Kuriositäten aus Gotthelfs Neuem Bernerkalender. Im Jahr 1843 drückte sich Gotthelf so aus, als hätte er die katholische These vom Krieg der Reformierten gegen die Katholiken akzeptiert (S. 89–91). Der Kontext solcher Aussagen entscheidet mit über ihren Sinn. Hier beziehen sie sich speziell auf den Klosterstreit im Kanton Aargau. Die angesprochenen »Reformierten« sind eine besondere Spezies, nämlich die reformierte Mehrheit unter den Aargauer Radikalen (die übrigens einen katholischen Regierungspräsidenten stellten). Daß deren Politik planmäßig gegen die katholische Religion gerichtet sei, sagt Gotthelf nicht, sondern: sie sei unbedacht, faktisch antikatholisch und schädige den reformierten Namen. 9 Im Hinblick auf die Klostergüter und -schätze unterstellte er ihnen auch Raubgelüste. Gotthelf schrieb die Kuriositäten im grellen und dann wieder launigen, das Grelle zurücknehmenden Ton des Kalendermanns; er schrieb nicht fürs Geschichtsbuch oder die Propagandisten des Sonderbunds, sondern für die reformierten Berner Bauern. Ihnen legte er die Überzeugung nahe: Wenn reformierte Radikale die Mehrheit erringen und das reformierte Volk repräsentieren, beschmutzen sie ihrer Art nach den Namen unserer Religionsgemeinschaft.

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Interessengleichheit zwischen den Konfessionen?

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Die krass ultramontane Politik des Sonderbunds – das Wahlrecht sollte auf Katholiken beschränkt, die öffentliche Erziehung von Jesuiten geleitet werden – mußte sympathisierende Protestanten jedoch in Verlegenheit setzen. Gotthelf half sich aus dieser Verlegenheit, indem er insbesondere die Jesuiten als die Ultramontanen betrachtete, die man nur los werde, wenn die Schweizer Reformierten und Katholiken gemeinsam das religiöse Bewußtsein ehren und pflegen (S. 97–99). Die Spitze dieses frommen Wunsches zielt letztlich wieder auf die Radikalen, die religiös Indifferenten. Hildmann sagt richtig, daß Gotthelf mit dem steigenden Einfluß der Radikalen ein »konfessionell nicht gebundenes, gemeinsames Streben nach christlichen Grundwerten« (S. 99) befürwortete. Anscheinend hat er jedoch keinen Kontakt zu politisch einflußreichen Katholiken aufgenommen, und wir erfahren nicht, ob dies in seiner kirchlichen Position denkbar war (S. 130–133).

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Treffend beschreibt Hildmann die ideologische Isolation Gotthelfs nach der Niederlage des katholischen Sonderbundes und der Gründung des Schweizer Bundesstaats. Dieser war ein konfessionell gemischter Staat, der die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantierte und garantieren mußte. Er war kein »christlicher Staat«, wie er Gotthelf im Blick auf seinen Heimatkanton vorgeschwebt hatte, der übrigens auch schon eine katholische Minderheit hatte. Die Idee eines christlichen Erziehungsstaates mit religiös begrenzter Freiheit, die auch der katholische Sonderbund hatte verwirklichen wollen, war gescheitert und am Ende.

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Vertiefung des literarischen Werkverständnisses?

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Die Auswertung der »fiktionalen Textzeugen« hat das Ziel, Gotthelfs Stellungnahme zur Katholiken-Frage an einigen seiner literarischen Werke zu überprüfen und die Werkinterpretation vom geschichtlichen Kontext her zu vertiefen (s. o.). Das Verfahren ist bei Gotthelf, dessen Werke nicht dem Dogma des geschlossenen Kunstwerks unterliegen, sondern durchaus publizistische Züge haben, legitim. Ob das Verhältnis zum Katholizismus für Gotthelf so wichtig ist, daß es die eigentliche Botschaft seiner Werke oder einiger seiner Werke erschließt, muß sich in diesem Teil zeigen. Ich gehe hier auf einige der Werkanalysen ein.

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Im Gespräch der Reformatoren im Himmel (1828) urteilt der fiktive Martin Luther, die Völker steckten 300 Jahre nach der Reformation »nicht nur mit einem Fuß, sondern fast mit dem ganzen Herzen noch im Papsttum«, und er fügt auffordernd hinzu: »Wißt ihr auch, was Reformation ist? Die endet sich nie.« Hildmann liest daraus einen Aufruf zur fortgesetzten Bekämpfung des Katholizismus (158–162). Er sagt nicht, wie diese hätte vor sich gehen sollen. In Wahrheit ist dieses satirische Totengespräch ein ungewöhnliches Stück protestantischer Selbstkritik, ein Aufruf zur inneren Erneuerung und permanenten Reformation des Protestantismus selbst. Die fiktiven Reformatoren fangen bei sich selber an, indem sie die dogmatische Spaltung der protestantischen Kirche durch Luther und den Mangel an geistiger Freiheit unter Calvin bedauern. Die nachreformatorische Kirche und die Theologie werden abgekanzelt. Gotthelf schreibt, als läute er eine neue, geistig freiere und daher deutlich ›unkatholische‹ Epoche des Protestantismus ein.

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Hierzu eine historische Anmerkung: Die Forderung einer permanenten Reformation war übrigens schon zur Zeit des deutschen Reformationsjubiläums 1817 ein Reizthema und ein Frevel für viele Lutheraner. 10 Und Gotthelf hat ja, was von der Forschung überhaupt noch nicht beachtet wurde, in seiner Göttinger Studienzeit mit Sicherheit die publizistischen Früchte des deutschen Reformationsjubiläums (1817), eine Flut von Schriften und Gegenschriften einschließlich versteckter Botschaften einer liberalen Theologie, erlebt. So war er in einer noch nicht erforschten Weise auf das bernische Reformationsjubiläum eingestellt. (Vielleicht ist die von Hildmann edierte Unterscheidungslehre (s. o.) nicht nur eine verbissene Kampfschrift, sondern ebenfalls ein Zeugnis liberaler Theologie. Am Ende weist der junge Autor in m. E. pfiffiger Weise darauf hin, daß die Katholiken unter der Tyrannei der Papstkirche Raum für freie Forschung (quasi Narrenfreiheit) gefunden haben (S. 288). Das könnte den eigenen Kirchenoberen »gesteckt« sein.

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Im Bauernspiegel (1836) entlarvte Gotthelf schonungslos das Treiben der Kapuziner im katholischen Solothurn und über die Berner Grenze hinweg (S. 163–168). In Dursli der Branntweinsäufer (1838) dagegen wird der Protagonist durch das Läuten der Glocken von Solothurn vor einem Rückfall in die Sucht bewahrt (S. 175 f.). Ist der eine Text antikatholisch, der andere nicht? Gehören die beiden Werke unterschiedlichen Phasen an? Gibt es nicht hundert andere Gründe für die Differenz? Der Dursli, verfaßt für Alkoholiker aus der Unterschicht, war eine »Volksschrift«, und diese Textsorte war in der Regel tabu für konfessionelle Polemik zugunsten der rein christlichen Ermahnung und Erbauung. Der Bauernspiegel dagegen sprach Leser an, die zu sozialpolitischer Reflexion fähig oder gar politisch verantwortlich waren. Was nun die Kapuzinerschelte anbelangt, so ist sie aus protestantischer Sicht nicht schlechthin antikatholisch, denn sie trifft »nur« das Mönchswesen. Die Differenzierung wird durch die Schwarzen Spinne bestätigt: Die Binnengeschichte, die im Mittelalter beginnt, zeigt einen vorreformatorisch-katholischen Gemeindepfarrer, der sich wie ein Vater für die Dorfgemeinde opfert und einen verklärten Märtyrertod stirbt; daneben gibt es den vagabundierenden Mönch, der fressend und saufend verreckt. Im Aargauer Klosterstreit sympathisierte Gotthelf sogar mit den vertrieben Ordensleuten vor allem wegen der von ihnen geleistete Armenfürsorge. Liegt das nur an seinem gewachsenen Ärger über die Radikalen oder an der langfristigen Einstellung, daß eine Institution, die sich liebender Fürsorge widmet, gerechtfertigt sei? Das Kloster als ein Familienhaus für die Armen – das hebt den Mangel mönchischer Ehe- und Kinderlosigkeit auf.

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Der Konfessionalismus war übrigens nicht das einzige Problem von historischem Rang, und ein Werk, das nicht auf ihn eingeht, muß nicht weniger wert sein. Nicht einverstanden ist der Rezensent mit der auf Uli den Knecht und andere zeitnahe Werke bezogenen Abqualifizierung als Fluchtliteratur (S. 209). Hier pflanzt sich ein Mißverständnis der älteren Sekundärliteratur fort, die den Uli als »homerisch«, »idyllisch« oder mit anderen, das Poetische betonenden Attributen versah. Uli der Knecht ist trotz seiner epischen Gestalt ein sozialkritisches Werk mit großem zeitgemäßem Anspruch. Darüber wurde anderenorts das Nötige gesagt. 11

[36] 

Der Abschnitt über Anne Bäbi Jowäger berührt zentrale Gedanken des reifen Gotthelf. Anne Bäbi, eine reformierte Bäuerin, die indes im Zustand des natürlichen (sündigen) Menschen lebt, hegt unsäglich törichte Vorurteile gegen die »Kartholischen«. Der weise Pfarrer von Gutmütigen, den die Gotthelf-Forschung allgemein als Sprachrohr des Autors erkennt, weiß dagegen die zu den Sinnen sprechenden Elemente des katholischen Kultus (die der junge Gotthelf als »sinnlich« verachtet hatte) als Ausdruck echter Frömmigkeit zu würdigen. Die Schlußfolgerung lautet, daß der Christ das innerlich wahrhaftige Christentum in jeder Gestalt erkennt und anerkennt, während der Aberglaube in allem nur sein eigenes törichtes Wesen gespiegelt sieht (so, sinngemäß, S. 194 f.). Eine weitere Schlußfolgerung hat Gotthelf, wie Hildmann erkennt, für sein persönliches undogmatisches Christentum und für seine literarische Strategie gezogen: Er nimmt bei gläubigen Menschen ein großes Bedürfnis nach persönlichen Mittlern wahr – was die Katholiken richtig erkannt hätten – und führt deshalb protestantisch adaptierte Mittlergestalten und Ritualpraktiken in die Welt seiner Erzählungen ein, z. B. verstorbene Kinder, deren Gedenken in den Eltern eine höhere Sehnsucht weckt (Ein Sylvestertraum). Dieser Gedanke wird leider nicht weiter verfolgt, er bleibt aber eine sicherlich fruchtbare Anregung. Er paßt ja auch ins christliche Biedermeier, das man neben den beginnenden konfessionellen Querelen nicht vergessen sollte. Ich erinnere nur an die Legendenstimmung und katholische Aura der Ritualpraktiken in der Schwarzen Spinne oder an die beiden, wie man sagen kann, protestantischen Nonnen im Erdbeeri Mareili.

[37] 

Nun war der Roman Anne Bäbi Jowäger dem Thema der Kurpfuscherei gewidmet. Was hat dies mit dem Konfessionellen zu tun? Diese weitergehende Frage stellt Hildmann mit gutem Grund. Denn Gotthelf ist christlicher Universalist; kein Lebensgebiet überläßt er eigenen Gesetzen (also nicht die Politik der Politik), um eine selbstgenügsame Religiosität zu pflegen. Kurpfuscher, meint Gotthelfs Pfarrer von Gutmütigen, würden die Menschen dann verlocken, wenn der wissenschaftlich gebildete Arzt zwar die richtigen Medikamente gibt, aber nicht die Persönlichkeit besitzt, um den Glauben an Heilung zu vermitteln. So macht Gotthelf seine Überzeugung von der Notwendigkeit der Mittler über den engeren religiösen Bereich hinaus geltend.

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Man kann diese Tendenz über Hildmanns Feststellungen hinaus noch weiter verfolgen. Denn Gotthelf bekämpft im Anne Bäbi neben der Autonomie der Wissenschaft auch Kants Kategorischen Imperativ, also die Autonomie der Moral im Verzicht auf Belohnung. Der Anspruch wissenschaftlicher und moralischer Autonomie ist für Gotthelf das Zeugnis menschlichen Hochmuts; denn Gott selber habe es nicht verschmäht, die Moral des Menschen durch die Paradieses-Verheißung und durch den Vorgeschmack des Paradieses in den Erlebnissen irdischen Glücks zu stärken. 12 Gotthelf plädiert für den Eudämonismus, und seine idyllischen Erzählungen sind angewandter Eudämonismus.

[39] 

Bezieht man diese Gedanken zurück auf die konfessionellen Fragen, so ist der sinnenberührende Kultus der Katholische Kirche nicht verkehrt, aber in Gefahr, dem groben Aberglauben und der seelischen Kurpfuscherei nahezukommen; die Reformierten mit ihrem recht nackten Lehrgottesdienst hingegen neigen dazu, die Vernunft des Menschen zu überschätzen und mit dem Aberglauben auch den Glauben zu schwächen. In dem Zwischenbereich einer religiös kultivierten Sinnlichkeit, eines katholisch gemilderten Protestantismus ist vieles von Gotthelfs Erzählkunst angesiedelt.

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Resümee

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Der Autor hat sein Thema ereignisgeschichtlich und in diesem Rahmen gründlich und erschöpfend behandelt. Gotthelfs Stellungnahmen zum Katholizismus sind gerade für die sehr zwiespältige Zeit der 40er Jahre deutlich herausgearbeitet worden. Künftige Arbeiten über Gotthelf werden durch die Zusammenstellung der in historischer Fachliteratur und Herausgeberkommentaren verstreuten Fakten und Zusammenhänge erleichtert werden. Die strukturelle Krise des Übergangs zu einer liberalen Gesellschaft, bei der auch historische Mentalitäten und Einstellungen eine Rolle spielen, wurde jedoch allenfalls gelegentlich berücksichtigt. Mit dem Konfessionalismus wurde ein nur Aspekt dieser Krise thematisiert.

[42] 

Die Rückführung einzelner »faktualer« oder fiktionaler Äußerungen auf phasenweise gegliederte Verläufe des konfessionellen Streits kann manchmal überzeugen, erscheint teilweise aber als einseitige Auslegung oder Überbeanspruchung des Untersuchungsmaterials. Die konfessionellen Spannungen sind nicht der Zentralschlüssel – diese Erwartung wird manchmal erweckt – zum tieferen Verständnis von Gotthelfs literarischem Werk. Allerdings ist Gotthelfs Beschäftigung mit dem Aberglauben und besonders mit dem »katholischen Aberglauben« für seine Anthropologie und für sein literarisches Werk produktiv. Der Hinweis auf Erweiterung der poetischen Mittel durch Elemente, die der katholischen Vorstellungsweise nahe kommen, wäre zu verfolgen und kann zum tieferen Verständnis Gotthelfscher Werke beitragen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. dazu die Informationen zur Schweizer Geschichte unter der URL http://www.geschichte-schweiz.ch/bundesstaat.html (7.1.2007).   zurück
Siehe die Enzyklika Mirari vos (1832) Benedikts VI.   zurück
Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius): Sämtliche Werke in 24 Bänden und 18 Ergänzungsbänden. In Verbindung mit der Familie Bitzius und mit der Unterstützung des Kantons Bern herausgegeben von R. Hunziker, H. Bloesch, K. Guggisberg und W. Juker. Erlenbach-Zürich: Eugen Rentsch 1911–1977. Hier Erg.-Bd. 3, S. 114–118, S. 124–125.   zurück
Ebd., Erg.-Bd. 12, S. 201.   zurück
Ebd., Erg.-Bd. 11, S. 199–201.   zurück
So in seiner Pfingstpredigt des Jahres 1829 in der Berner Heilig-Geist-Kirche. Ebd., Erg.-Bd. 12, S. 302.   zurück
Ebd., Bd. XV, S. 20 f.   zurück
Ebd., S. 21 f.   zurück
»Sie bedachten nicht, daß das, was Reformierte an Katholiken tun, als Religionszwist angesehen wird. Sie sagten […], die Sache sei gar nicht religiös, denn an der Spitze der Reformierten seien ja Katholiken.« Ebd., Bd. XXIII, S. 349.   zurück
10 
Der lutheranische Pastor Claus Harms in Kiel gab 1818 Luthers 95 Thesen neu heraus und begleitete sie pathetisch mit 95 eigenen Thesen, um jeglicher Aufweichung der Unterscheidungslehren und einer Vereinigung der protestantischen Kirchen vorzubauen. Er war ein Wortführer derer, die die geistigen Grundlagen der Reformation als ein für allemal gegeben ansahen.   zurück
11 
Vgl. Werner Hahl: Jeremias Gotthelf – der Dichter des Hauses. Die christliche Familie als literarisches Modell der Gesellschaft. Stuttgart: Metzler 1993. Teil 1, Kap. »Die geschichtliche Frage, auf die der Roman Uli der Knecht antwortet«. (S. 16–45)   zurück
12 
Gotthelf: Sämtliche Werke. Bd. VI., S. 396–402; vgl. Hahl (Anm. 11) S. 148–154.   zurück