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Genealogien
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»Wir stehen früher auf« – mit dieser Standortkampagne wirbt das Land Sachsen-Anhalt derzeit. Angeführt wird nicht nur die statistische Tatsache, dass der durchschnittliche Bürger in Sachsen-Anhalt werktags einige Minuten früher aufstehe als der durchschnittliche Bundesdeutsche.
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Als »Frühaufsteher« angeführt werden auch – im Rahmen einer werbestrategischen Nutzung der regionalen lieux de mémoire – prominente historische Persönlichkeiten, darunter Martin Luther. Stilisiert wird dieser in einer kulturkämpferischen, ikonographischen Tradition als »Erneuerer mit Durchsetzungskraft«, als großer Polemiker und Rebell. Valentin Groebner (2003) hat überzeugend gezeigt, wie gerade Quellenmaterial aus dem 16. Jahrhundert seit Rankes Geschichten der romanischen und germanischen Völker (1824) dazu dient, Gegenwart genealogisch erzählbar zu machen, Umbruchsprozesse zu legitimieren und soziale Identitäten zu festigen.
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Die »Frühaufsteher«-Kampagne, die in kontextgemäß undifferenzierter Weise Bezug nimmt auf die konfessionellen Polemiken des 16. Jahrhunderts, reaktiviert ältere Stereotype, die von historiographischer Seite jüngst einer detaillierten Neubewertung unterzogen worden sind. Kai Bremer stellt in seiner Göttinger Dissertation innovative Untersuchungen zur rhetorischen und medialen Verfasstheit des ›konfessionellen Zeitalters‹ an. Bremers Studie beruht auf einer intensiven Auswertung von Beständen der Staatsbibliothek Berlin. Ergänzend werden Quellen aus der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, der Landes- und Universitätsbibliothek Münster, der Universitätsbibliothek Tübingen und der Pfarrbibliothek Milte bei Warendorf hinzugezogen.
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›Streitschrift‹ als ›Zweckform‹
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Ausgehend von Georg Simmels grundlegenden Reflexionen zum ›Streit‹ als sozialem Phänomen (1908) sowie von den Überlegungen zur »Formgeschichte des Streitens«, wie sie aus dem 7. Internationalen Germanistenkongress in Göttingen (1985) hervorgegangen sind, entwickelt Bremer eine kommunikationstheoretisch orientierte Typologie der »Streitschrift« als »Zweckform«.
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Den Titelbegriff der »Religionsstreitigkeiten« will Bremer nicht als Gegenentwurf zu Parallelangeboten wie »Konfessionskonflikte« verstanden wissen. Wohl aber akzentuiert der von Bremer gewählte Begriff die Absicht, aus germanistischer Perspektive das Quellenmaterial nicht nur ›ereignishistorisch‹, sondern insbesondere unter rhetorischen und medialen Aspekten zu analysieren (S. 64).
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Gegliedert ist die Arbeit in drei Teile sowie einen historischen Ausblick. Der erste Teil, mit »Streitschrift und Religionspolemik« überschrieben, fokussiert die Frühphase der konfessionellen Disputation (S. 3–186). Der zweite Teil, betitelt mit »Intention und Wirkung der Religionspolemik«, ist fünf »Dimensionen« der Streitschriften gewidmet: der »theologischen«, »politischen«, »autoritativen«, »triumphalen« und »sprachlichen« Dimension (S. 187–224). Da nicht im eng definierten Sinne von ›Funktionen‹ die Rede ist, lassen sich auf diese Weise kategoriell höchst unterschiedliche ›Ansichten‹ des Gegenstandes aufbieten. Der dritte Teil schließlich, der die Überschrift »Medien der Glaubenspropaganda« trägt, wendet sich verstärkt medialen und gattungstypologischen Fragen zu (S. 225–286). Ein historischer Ausblick schließlich (S. 286–300) vertieft die Ergebnisse – und perspektiviert die Fortdauer und die Dynamik bestimmter Redemuster des konfessionellen Streitens in der longue durée, d.h. hier in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.
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Fallgeschichten
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Mit Bravour bewältigt Bremer den Überblick über ein weites Forschungsfeld (S. 9–20). Zu überzeugen vermag der umfangreiche Forschungsbericht gerade auch in den reflektierten Bemerkungen zu Epochenbegriffen und -zäsuren (S. 16–18). Ausgehend von Hans Rupprichs literaturgeschichtlicher Darstellung Das Zeitalter der Reformation (1973) unternimmt Bremer eine Neubewertung der Quellenlage.
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Während bei Rupprich radikale Positionen und Einzelpersonen überbewertet werden und breite Strömungen zu kurz kommen, konzentriert sich Bremer in einzelnen, klug gewichteten ›Fallgeschichten‹ auf repräsentative Beispiele (S. 27).
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Eine solche ›Fallgeschichte‹ ergibt sich etwa aus dem ›Streitschriftwechsel‹ zwischen Luther und dem ›altgläubigen‹ Theologen Johannes Cochlaeus (S. 28–45). Analysiert werden damit zugleich Dokumente, die als Prätexte für die folgende Streitschriftenproduktion wesentliche Argumentationsfiguren und Wendungen bereitstellen. Als besonders hilfreich bewährt sich der Verweis (S. 42) auf Cochlaeus’ Rhetorica diuina, siue Ars Vincendi Haereticos Lutheranos ex Sacris Scripturis (Dresden 1531). Sorgfältig ausgewählt sind die Quellenkorpora: Bremer fokussiert einzelne Zentren der Produktion und Verbreitung konfessioneller Polemiken. Die Untersuchungen zu Wittenberg, Tübingen, Ingolstadt und Wien werden sinnvoll ergänzt durch Erhebungen im Münsterland (S. 173–177). An den jeweiligen ›Fallgeschichten‹ bewährt sich das Verfahren einer »vergleichende[n] Einzeltextanalyse« (S. 64). Bremer knüpft an neuere dialoganalytische Forschungsarbeiten etwa von Thomas Gloning sowie an eigene Untersuchungen an und entwickelt diese systematisch weiter.
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Identitätsstiftung
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Von zentraler Bedeutung ist die These, dass es in der konfessionellen Polemik nicht so sehr um die theologisch-dogmatisch Debatte als vielmehr um den »Wortkampf« (S. 84) gehe. Stringent zeigt Bremer auf, dass die Leserschaft der konfessionell-polemischen Texte sich keineswegs in erster Linie aus den gegnerischen, sondern aus den jeweils eigenen Reihen rekrutiert. Im Anschluss an Simmel spricht er deshalb von der »kollektivierenden«, d.h. identitätsstiftenden »Wirkung des Streites« (S. 221).
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Von diesem Standpunkt aus lässt sich auch das Problem der Konversion neu angehen (S. 101, S. 226–231).
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Ausführlich analysiert Bremer die Erfolgsstrategien »flexibler Streittechniken« (S. 98–101). Gebührend berücksichtigt wird auch der sprachliche Aspekt: Das traditionelle Argument von der »Volkssprache als Garantie für lutherische Dominanz im Religionsstreit« wird differenziert verhandelt (S. 116–118, 132–134). Exemplarische rezeptionshistorische Erhebungen, ergänzen das Gesamtbild (S. 187–190). Medienpolitische finden ebenso wie finanzielle und bildungshistorische Komponenten Beachtung (S. 190–193). Besonders interessant ist die Untersuchung der Verwendung emblematischer Strategien für die interkonfessionelle Polemik (S. 140–152).
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Streitrhetorik
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Kenntnisreich konturiert Bremer jeweils die Diskursbedingungen, verweist auf gattungsspezifische rhetorische Forderungen wie das ›perspicuitas‹-Postulat (S. 122), präpariert agonale Tropen, die traditionelle Metapher von der ›Feder‹ als ›Waffe‹
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, das Schlagwort vom ›miles christianus‹ (S. 130) heraus. Geht es Bremer in erster Linie dann aber doch um die präzise Rekonstruktion der Argumentationsstrategien und Lesemuster (S. 93), so wäre – ausgehend von den hier dargebotenen Ergebnissen – vor allem in Bezug auf die Topik und Tropologie der konfessionellen ›Streitschriften‹ noch weiterreichende Analysearbeit zu leisten.
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Wünschenswert wäre gerade bei einer solchen wissenschaftsgeschichtlich brisanten und seit dem 19. Jahrhundert an prominenten Stellen verhandelten Thematik wie der Konfessionalisierungsgeschichte auch der explizitere Versuch einer ›histoire au second degré‹ – der Anspruch einer immer zugleich als Wissenschaftsgeschichte verstandenen Frühneuzeitgermanistik, wie sie bei Bremer in Ansätzen schon skizziert wird: Einzugehen wäre dann auf die ›master narratives‹ älterer Epochendarstellungen und auf deren Fortwirkung in der gegenwärtigen Historiographie sowie in der kulturpolitischen ›Bewirtschaftung‹ der lieux de mémoire, welche, wie eingangs angedeutet, an politisch prominenter Stelle betrieben wird.
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Zu berücksichtigen wäre in diesem Zusammenhang dann exemplarisch die Perspektivierung des interkonfessionellen Konflikts seit den Anfängen der Frühneuzeitforschung. Metaphern- und inszenierungsgeschichtlich ließe sich auf diese Weise die Tradition und Diffusion der konfessionspolemischen Argumentations- und Darstellungsstrategien in der ›longue durée‹ nachzeichnen. So ließe sich auf der einen Seite zeigen, wie die ›identitätsstiftende‹ Funktion der Streitschriften über ihren frühneuzeitlichen Verwendungshorizont hinaus religions-, kultur- und wissenschaftspolitisch genutzt wird. Auf der anderen Seite ließe sich durch diese wissenschaftsgeschichtliche Distanznahme auch der Blick auf die ›Alterität‹, d.h. die historische Singularität des frühneuzeitlichen Materials schärfen.
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Geschichte ›zweiten Grades‹
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Ein solche historiographiegeschichtliche Perspektivverschiebung ließe sich nicht allein, wie von Valentin Groebner (2003) vorgeschlagen, auf die Luther-Darstellung vom frühen Ranke bis hin zur Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation (1839–1847) anwenden.
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Anzusehen wäre eine ganze Staffel konfessions- und kulturpolitisch höchst unterschiedlich orientierter Dokumente – wie Maurenbrechers Studien und Skizzen zur Geschichte der Reformationszeit
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, Moriz Ritters Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges
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oder Gustav Droysens (jun.) Geschichte der Gegenreformation.
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Ins Blickfeld rücken würden vor allem auch germanistische Arbeiten wie Wolfgang Stammlers ideologisch problematische Überblicksdarstellung Von der Mystik zum Barock
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, die bei Bremer bereits Erwähnung findet (S. 9), oder Günther Müllers vom Standpunkt einer »katholischen Literaturwissenschaft« aus abgefasste Monographie Deutsche Dichtung von der Renaissance bis zum Ausgang des Barock.
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Zu zeigen wäre, dass es sich bei den dokumentierten »Religionsstreitigkeiten« nicht allein um Phänomene des ›konfessionellen Zeitalters‹ handelt, sondern dass ihre historiographische Perspektivierung gerade im 19. und frühen 20. Jahrhundert selbst hochpolemisch verläuft. Dies freilich ist angesichts der in der hier besprochenen Arbeit ohnehin bewältigten Materialfülle nicht so sehr als Kritik, sondern vielmehr als Hinweis auf ein weiterführendes Forschungsdesiderat zu verstehen.
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Was in diesem Bereich möglich wäre, deutet Kai Bremer bereits im Forschungsbericht mit seinem Kommentar zu Arbeiten aus der DDR-Germanistik an (S. 10).
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Mit Bremers Dissertation liegt unterdessen eine bemerkenswerte, detailreich gearbeitete Studie vor, die sich zugleich als neu gewichtetes prosopographisches Panorama des ›konfessionellen Zeitalters‹ lesen lässt. Nicht zu vernachlässigen ist nicht zuletzt der Unterhaltungswert der Arbeit – gerade wenn Bremer sich ausgiebig der »Reduzierung des Streits auf Invektiven und Anschuldigungen«, d.h. den Details einer ›Rhetorik der Beschimpfung‹ widmet (S. 76–81). Ausführlichere Schlussfolgerungen, wie man sie sich am Ende des Bandes erwartet hätte, werden durch detaillierte Zusammenfassungen am Ende der jeweiligen Kapitel ersetzt. Ein beeindruckendes Literaturverzeichnis und ein Personenregister ergänzen die Arbeit und tragen sehr zur Handhabbarkeit bei. Dass »die religionspolemischen Bücher [...] uns heute langatmig, penetrant, rechthaberisch und affektiert« (S. 297) erscheinen, will nach der gewinnbringenden Lektüre einer solchen Aufarbeitung gar nicht mehr zwingend einleuchten.
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