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Chinesische Kriminalliteratur
unter den Augen des Rechts

  • Carsten Storm: Von Tätern und Opfern. Rechtsmentalität in chinesischen Kriminalerzählungen zwischen 1600 und 1900. (opera sinologica 16) Wiesbaden: Harrassowitz 2004. 417 S. Gebunden. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-447-05033-0.
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Mit den ›Augen des Rechts‹ beziehungsweise der Rechtsgeschichte betrachtet der Rezensent die Kölner Dissertation von Carsten Storm, die im Schnittfeld von Literaturwissenschaft und Sinologie angesiedelt ist und sich mit der Rechtsmentalität in der chinesischen Kriminalliteratur (gongan xiaoshuo) zwischen 1600 und 1900 beschäftigt. Eine Thematik und ein Zeitraum also, für den die Forschung bereits zahlreiche Arbeiten hervorgebracht hat, die Kriminalität beziehungsweise Devianz, Recht, Justiz und Strafe in einem rechts- und sozialwissenschaftlichen Koordinatenfeld historisch vermessen. Dabei geraten ›Criminalbilder‹ und gesellschaftliche Attitüden (Mentalitäten), die populäre Medien und Diskurse produzieren, stärker in das Forschungsinteresse, wobei gerade die Literatur- und Medienwissenschaft in historischer Perspektive die literarische / diskursive Verarbeitung und Wechselwirkungen von Kriminalität / Strafjustiz und Medien zunehmend thematisiert. Abgesehen von dem anderen Raum China begibt sich Storm folglich auf ein prosperierendes Forschungsfeld, das zu Interdisziplinarität und Vergleich herausfordert. Aus dieser Perspektive soll dann auch die vorliegende Arbeit besprochen werden.

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Quellen – Ansatz – Methode

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Grundlage von Storms Analyse bilden drei im späten 18. und 19. Jahrhundert im Druck erschienene (aber zum Teil auf ältere Quellen zurückgehende) Gongan-Romane respektive Erzählungen / Fallsammlungen aus der ausgehenden Ming- und der folgenden Qing-Dynastie, in denen bis zu 39 einzelne Kriminalfälle von der Tat bis zur Strafvollstreckung dargestellt sind. Dieses Material kontrastiert Storm mit drei sogenannten Rechtsmanualen aus der Song-Zeit, die als praxisorientierte Rechtsspiegel zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert angelegt wurden und 455 verschiedene Fälle kompilieren; sie ähneln insofern einschlägigen europäischen Fallsammlungen und Praxishandbüchern der Frühen Neuzeit.

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Storm ist sich bewußt, daß diese Quellengattung primär eine obrigkeitliche Perspektive wiedergibt, da sie von Beamten für Beamte verfaßt wurde und ein ›offizielles‹ Bild von Kriminalität und Recht vermitteln soll. Die Gongan-Romane wertet er dagegen als Ausdruck einer ›laienhaften Sichtweise‹ von Verbrechen und Recht. Sicherlich spiegeln populäre literarische Texte die Rechtsmentalitäten eines breiteren Publikums wider, zumal wenn sie Verbreitung gefunden haben. Sie sind allerdings ebenfalls durch obrigkeitliche Ordnungsvorstellungen geprägt, die nicht unbedingt in einem Gegensatz zu den Einstellungen der ›Rechtslaien‹ stehen müssen. Eine einleitende Auseinandersetzung mit den in der Rechts- und Kriminalitätsgeschichte weithin akzeptierten Modellen der Zuschreibung von Devianz / Kriminalität (›labeling approach‹), der Justiznutzung oder den Wechselwirkungen von Medien und Kriminalität hätte hier eventuell weitergeholfen, diese etwas dichotome Gegenüberstellung von ›professioneller Justiz‹ und ›laienhafter Literatur‹ zu relativieren und die vergleichende Perspektive noch zu schärfen.

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Täter – Opfer – Delikte

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Der methodische Ansatz, eher literarisch-fiktive mit juristisch-administrativen Texten in ihren Unterschieden, Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen zu vergleichen, führt jedoch insgesamt zu tragfähigen Ergebnissen, um Täter- und Opferbilder und die Rechtsmentalitäten in historischer Perspektive zu rekonstruieren. In beiden Textsorten beziehungsweise Diskursen spiegeln sich nicht nur die Wahrnehmung von Kriminalität und Justiz, sondern auch der gesellschaftliche und obrigkeitliche Umgang sowie spezifische Bedürfnisse und Ordnungsvorstellungen wider.

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Dies zeigt Storm eindrucksvoll in seinem ersten, umfangreichsten Schwerpunkt, in dem er aus den Gongan-Sammlungen und den Rechtsmanualen für einzelne soziale Gruppen – gentry (Oberschicht), Bauern, Handwerker, Händler, Mönche / Nonnen, Wahrsager – ein Täter- und Opferprofil erarbeitet, wobei er sich auch quantitativer Methoden bedient und das Vorkommen der Gruppen in den jeweiligen Täter- und Opferrollen auszählt. Ohne alle sorgfältig und mit exemplarischen Beispielen herauspräparierten Details hier ausbreiten zu können, sei zumindest auf einige interessante Ergebnisse verwiesen:

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Grundsätzlich spiegeln die Texte Ausdifferenzierung und Aufweichungstendenzen der chinesischen Gesellschaft wider; Mönche erscheinen häufig als Täter, die sozial aufsteigenden Händler dagegen nahezu ausschließlich als Opfer; Bauern sind gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil unterrepräsentiert und als Täter wie als Opfer (sozusagen schichtintern) überwiegend mit Eigentumsdelikten konfrontiert; Beamte sind dagegen besonders in den Manualen bei den Tätern mit 45 % deutlich überrepräsentiert, und ihnen werden meist schichtenübergreifende Amtsdelikte (Korruption, Fehlurteile etc.) zugeschrieben. Waren doch die Beamten bei Kompilatoren und Leserschaft stark vertreten, so daß hier eine erzieherisch-disziplinierende Funktion der Kriminalliteratur sichtbar wird, die durchaus mit Texten des frühneuzeitlichen Europa vergleichbar ist.

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Religiöser Kontext:
Jenseitswelten und Traumlösungen

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Parallelen ließen sich auch hinsichtlich der in den Texten vermittelten ›Jenseitswelten‹ ziehen, die Storm in einem sehr gelungen Kapitel rekonstruiert: Devianz im Bereich von Magie und Hexerei sowie Himmelsstrafen, Wiedergänger, moralische Normen im Rechtsgewand, spiegelnde, rächende Strafen, göttliche Gerechtigkeit und andere Elemente der chinesischen Kriminalliteratur sind durchaus mit der religiösen Prägung der frühneuzeitlichen europäischen Strafjustiz und den damit verknüpften populären Diskursen vergleichbar. Man denke in diesem Kontext nur an die europäischen Hexenverfolgungen, die keineswegs nur literarische Fiktion waren, sondern trotz des fiktiven Charakters des Delikts auch in der Justizpraxis und Mentalität ›Realität‹ gewannen. Die Traumlösung von Kriminalfällen bildet dagegen im Bereich der ›aufklärungsbezogenen Jenseitserscheinungen‹ eher ein chinesisches Spezifikum. Beide Gattungen weisen bezüglich der ›Jenseitswelten‹ Übereinstimmung, aber auch Differenzen auf, insbesondere zwischen einem neo-konfuzianischen, eher auf obrigkeitliche Konfliktlösung (Manuale) und einem daoistisch-buddistischen, eher volksreligiös, fatalistisch geprägten, auf göttliche Vergeltung zielenden Jenseitsverständnis und den damit gekoppelten Gerechtigkeitskonzepten.

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Gesellschaft und Ordnung
im Wandel

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Die Veränderungen in den Gongan-Romanen und den Manualen spiegeln folglich – wie Storm unterstreicht – sich wandelnde Ordnungspolitiken und Ordnungsmodelle wider, und die in der Kriminalliteratur transportierten Vorstellungen von Kriminalität, Recht, Justiz, Strafe und Gerechtigkeit erweisen sich als Sinnkonstruktionen wie Hierarchisierungskategorien von Gesellschaft: Die Ursache von Verbrechen verlagern die Texte in die Täterpathologie und die damit gestörte Selbstvervollkommnung (man könnte europäisch formulieren: sittliche Disziplinierung) des einzelnen. Verbrechen wird zum Gegenbild der Rechtsgemeinschaft, allerdings nicht im Sinne einer Spiegelung, sondern durch die Konstruktion von gesellschaftlichen Leitbildern und Ordnungsmodellen. Die so erzeugten Bilder von Kriminalität dienen der Selbstversicherung der Rechtsgemeinschaft und der Ausgrenzung des triebhaften Einzeltäters, in den Gongan-Erzählungen eher Angehörige von Randgruppen, in den Manualen durchaus auch Angehörige von Eliten. Differenzen beziehungsweise unterschiedliche Modelle verortet Storm zwischen Gongan-Erzählungen und Manualen vor allem bei den Strafen und den Gerechtigkeitsvorstellungen: Letztere deutet er stärker rationalistisch, staatlich, neo-kunfuzianisch und legalistisch (besonders aufgrund der häufigeren Strafmilderungen), erstere eher als volkstümlich-laienhaftes Bedürfnis nach Vergeltung (circa 50 % enden mit Todesstrafen) und Entschädigung / Wiedergutmachung. Grundlegend scheinen jedoch die verbindende Funktion der Religion und das gemeinsame Ziel der Wiederherstellung der göttlichen und weltlichen Ordnung durch Justiz und Strafe.

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Man könnte folglich an der Kriminalliteratur eine Entwicklung hin zu einer Verstaatlichung und Rationalisierung des Strafrechts verbunden mit einer Entfremdung auf seiten der Bevölkerung ablesen, die sich jeweils in den beiden Gattungen niederschlagen. Allerdings zeigt ein Blick auf die Debatten in der historischen Kriminalitätsforschung, daß bei solchen eher dichotomisch orientierten Modernisierungsmodellen Vorsicht geboten ist oder zumindest weitere Differenzierungen notwendig sind, zum Beispiel durch Einbeziehungen von Gerichtsakten, die in der Regel ein ganz anderes Bild der Strafpraxis zeigen als die juristischen Manuale beziehungsweise Fallsammlungen.

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Einordnung und Vergleich

Etwas bedauert der Rezensent daher – dies ist dem Autor als Literaturwissenschaftler und Sinologen nicht anzulasten –, daß Storm seine interessanten Erkenntnisse nicht stärker vergleichend in den europäischen Forschungskontext einordnet; sowohl die Rechtsgeschichte und die historische Kriminalitätsforschung als auch die historisch arbeitende Literatur- und Medienwissenschaft halten hier Ergebnisse bereit, die neben allen kulturellen Unterschieden zahlreiche Übereinstimmungen aufweisen und Vergleichsmöglichkeiten zur Wechselwirkung von Rechtspraxis und Kriminalliteratur ermöglichen. Insgesamt leistet die Arbeit jedoch einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der ›vormodernen‹ chinesischen Kriminalliteratur und der damit medial vermittelten Diskurse über Kriminalitäts-, Rechts- und Ordnungsvorstellungen; sie gelangt darüber hinaus in der Verknüpfung mit sozial- und rechtsgeschichtlichen Perspektiven zu weiterführenden, zum interdisziplinären Vergleich anregenden Ergebnissen hinsichtlich des komplexen Verhältnisses von Rechtspraxis und populären Medien.