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Juristische Kommunikation, Rhetorik und Gerichtsbeobachtung

  • Thomas-Michael Seibert: Gerichtsrede. Wirklichkeit und Möglichkeit im forensischen Diskurs. (Schriften zur Rechtstheorie 222) Berlin: Duncker & Humblot 2004. 279 S. Kartoniert. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 3-428-11239-3.
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Recht haben und Recht bekommen.
Was das Justizdispositiv bewirkt

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Schon fast in den Volksmund eingegangen ist der Spruch, dass es einen Unterschied mache, Recht zu haben oder, wenn man darauf angewiesen sei, auch Recht zu bekommen. Somit wird eigentlich ein Vier-Felder-Schema errichtet, das der wechselseitigen negativen wie positiven Realisierung Rechnung trägt: Wer Recht hat, ›hat‹ das Recht noch nicht, und wer irgendwo Recht bekommt, hat das Rechthaben vielleicht schon aus den Augen verloren oder lange hinter sich gelassen. Welches Recht man jedoch letztlich bekommt, hängt von den justizförmigen Verfahrensweisen ab, unter denen man es erlangt. Und, was vielleicht noch wichtiger ist, das erstrittene Recht ist oft meilenweit von den Streitigkeiten entfernt, die vom Rechthaben-Wollen ausgelöst wurden.

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Investieren muss man dabei, und zwar Zeit, Geld und Redestrategien (die von Seibert als »Redetaktiken« beschrieben werden). Ohne diese drei Elemente kann das ›Justizdispositiv‹ nicht in Gang kommen. Das ›Dispositiv‹, die von Foucault stammende Bezeichnung für den Apparat von Institutionen, kennzeichnet somit die Apparathaftigkeit der Justiz. Das Dispositiv ist nicht einfach mit den Institutionen der Justiz identisch, »es markiert vielmehr den Übergang der idealen Rechtsfrage in die Sphäre der praktizierten Justiz« (S. 13). Das Praktizieren, die Verkettung verschiedener Praktiken des juristischen Handelns, ist das übergeordnete Thema des Buchs. Das Dispositiv antwortet auf eine »außerhalb gefühlte Not, die es zulässt, Heterogenes in einem Diskurs zu verbinden, der die ursprünglich zugrundeliegenden Antriebe aufnimmt und dabei verändert« (S. 13). Im Dispositiv steckt daher das Disponieren: »Disponiert wird mit anderen Mitteln über die von jedem unterschiedlich bezeichnete Differenz von Recht und Unrecht« (S. 14).

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Zeit, Geld und Rede

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Da sind sie wieder, die eben genannten Elemente. Zeit kosten die Schritte des Verfahrens: Fristen sind einzuhalten, und Termine müssen wahrgenommen werden; die Ausführlichkeit des Redens benötigt die Geduld der Zuhörenden, also auch wieder deren Zeit, auch wenn die Geduld begrenzt und auf bestimmte Phasen beschränkt ist. Geld muss man aufwenden: nicht nur um überhaupt justizielle Schritte einleiten zu können, sondern auch weil Zahlungen und Nichtzahlungen auferlegt bzw. bestritten werden; Geld, die übliche Form der Strafe und / oder Verurteilung, wird im Recht zu einem eigenen Medium der Kommunikation. Das Wieviel? ist die Antwort auf die Frage aller Beteiligten. Redetaktiken setzen Sprache als Mittel ein, um bestimmte Ziele im institutionellen Rahmen mit seinen spezifischen Randbedingungen zu verfolgen. Immer geht es dabei darum, nicht »unerheblich« zu sein, sondern »erheblich«, also nicht einfach drauf los zu erzählen, sondern gezielte Auswahlen zu machen, die als Tatsachen für die Entscheidung einer Rechtsfrage in Betracht kommen. Daher kann Schweigen durchaus eine geeignete Redetaktik für Angeklagte sein. Im Gegensatz zu der Vorstellung, dass, wer sich in die Fänge der Justiz begibt, darin umkomme, stehe daher die Erleichterung, dass man es glücklich überstanden habe: Nicht unbedingt Gerechtigkeit erlangt, keine schnelle Entscheidung erreicht, keine versöhnende Gleichheit realisiert, aber eben doch Abschluss und Überleben.

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Neben, hinter und vor den Analytikern
der Gerichtskommunikation

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Thomas-Michael Seibert meldet sich nicht zum ersten Male zu Wort, hat er doch eine Reihe von Publikationen verfasst, die den Gerichtsbetrieb in vielfältiger Weise ins Zentrum der Reflexion und Analyse stellen. Ein kurzer Blick in die Bibliografie reicht aus, um dies zu belegen. Seibert ist Richter in Frankfurt und semiotisch geprägter Rechtswissenschaftler, außerdem ein ›praktischer Theoretiker‹ – oder ›theoretischer Praktiker‹ der justiziellen Rhetorik. In diesen drei Eigenschaften hat man ihn schon oft erleben können: im interdisziplinären Gespräch mit Sprachwissenschaftlern, die sich der Gerichtskommunikation zuwenden, mit Semiotikern, die Kodierungen und Zeichenverwendungen im Gerichtssaal diskutieren, schließlich mit Wissenschaftlern, die von der Rhetorik kommen und im gerichtlichen Verfahren eine spezifische Art der angewandten Rhetorik erblicken. Seibert ist ein Mittler im besten Sinne des Wortes. Ohne ihn wäre die deutsche Forschung zur gerichtlichen Kommunikation nicht vorangekommen, von welcher Warte auch betrachtet. Er sorgte für Zugänge, er stand vielen auch laienhaften Fragen offen gegenüber, er konfrontierte immer wieder die undifferenzierten ›fachfremden‹ Erwartungen ans Justizsystem mit den Erfahrungen des Praktikers, und er wusste mit überraschenden Einblicken und neuen Fragestellungen zu verblüffen. Er bringt und brachte das Justizdispositiv nahe.

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Die vorliegende Publikation nun setzt das Gespräch zwischen den Disziplinen fort. Sie erscheint zwar in einer Reihe zur Rechtstheorie, aber ihr Adressatenkreis ist größer und nicht so sehr disziplinär gebunden. Alle genannten Disziplinen können das Buch mit Gewinn lesen. Seibert schiebt sich ›vor‹ die verschiedenen Disziplinen, um ihnen zunächst einmal – und wieder einmal – zu verdeutlichen, dass die praktizierte Justiz nicht mit Idealvorstellungen zur Gerechtigkeit analytisch anzugehen ist. Er bewegt sich ›neben‹ den Disziplinen, indem er ihnen mit Rat und Tat zur Seite steht, um fruchtbare Einblicke entstehen zu lassen und vielerlei Querverbindungen aufzuzeigen. Sein Walten ›hinter‹ den Disziplinen besteht eben darin, dass er möglichen Oberflächenphänomenen, an denen viele sich orientieren, die notwendige Tiefe verleiht und somit eine insgesamt realistische Perspektive bietet.

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Hinzu kommt, dass das Buch angenehm provokativ, leicht ironisch, wohl informiert, mit dosierter Nüchternheit und gelegentlich ausgesprochen einfallsreich geschrieben ist. Und es zwingt die Leser, die nicht vom Fach sind, aber vielleicht gerade auch die Juristen unter ihnen, sich immer wieder zu fragen, welche Vorstellungen vom Justizbetrieb sie haben und wie diese Vorstellungen entmystifiziert werden können. Dabei enthält sich Seiberts jeden Zeigefingers; er will nicht entlarven, er will zum Nachdenken anregen, Fälle aufzeigen, Beispiele vorführen, Probleme anreißen. Er will eher aus dem Innern der Justiz berichten, als über sie richten.

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Material

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Die Datengrundlage für die Betrachtungen sind 70 Prozesse. Sie wurden aus der Sicht des Richters – Seibert nennt ihn (und damit überwiegend sich selber) den »Tatrichter«, im Unterschied zum Berufungs- oder Revisionsrichter – nach Ablauf der Verfahren notiert und zusammenhängend festgehalten. Es handelt sich also nicht etwa um Mitschnitte oder Transkriptionen, sondern um nachträgliche Zusammenfassungen, die unter dem frischen Eindruck des jeweiligen Prozesses zu Stande kamen. Die vielen Beispiele, die den Text durchziehen, präsentieren somit Nacherzählungen – und kommen so auch dem nahe, was gerichtsüblich ist, wenn Zeugen, Parteien oder Beklagte auf die Aufforderung »Wie war das denn? Erzählen Sie mal!« reagieren.

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Ciceronisches und Enthusiasmus

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Nach dem Kapitel »Vorrede«, in dem das Justizdispositiv entwickelt wird, hebt das Buch unter dem Titel »Die Tradition des Plädoyers« mit einer möglicherweise etwas zu langen Betrachtung zur Rhetorik Ciceros an. Es geht vordergründig darum, mit der Vorstellung aufzuräumen – die man beispielsweise noch in bestimmten Filmen antreffen kann –, dass das Plädoyer die wichtigste, das Ergebnis gewissermaßen herbeizwingende Rede im Verfahren darstelle. Mit dieser Vorstellung wird in einer Rekonstruktion der ciceronischen Verteidigungsreden, die stellenweise nicht einmal gehalten, sondern nur nachträglich veröffentlicht worden sind, abgerechnet. Dabei zeigt sich, dass die hemmungslosen »Amplifikationen«, mit denen Cicero berühmt geworden ist, dem Verfahrensverlauf nicht immer angemessen sind und sich verselbständigen können. In modernen Prozessen treten Schriftlichkeit und Sachlichkeit an die Stelle des überbordenden Plädoyers. Am Beispiel des Jacques Vergès, der den Gestapo-Chef im besetzten Frankreich, Klaus Barbie, verteidigt hatte, wird dann noch einmal eine moderne Version des ciceronischen Übertreibens vorgeführt, die wirkungslos verpufft sei. Aber da Vergès sein Plädoyer, ähnlich Cicero, nachträglich publiziert hat, kann er als ein Fallbeispiel für einen »Redner ohne Ende« (S. 53) herangezogen werden. Und also doch noch eine späte Wirkung zeitigen.

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Das Übertreiben aber ist es gerade, was die landläufige Meinung über Rhetorik bereithält. Dass sie vor allem ein Schmuck der Rede um des bloßen Beeindruckens willens sei, eine heißlaufende Redemaschinerie, die auf die »Darstellung« zielt. Unterschlagen wird dabei der Prozess der »Herstellung«, die Pragmatik. Seibert entfaltet eine Pragmatik der Gerichtsrede aus einem Zeichenmodell und weist der Pragmatik die Reflexion des Zeichenverwendens zu. Sprachliches Handeln, der allgemeine Gegenstand pragmatischer Analyse, kommt hier hauptsächlich als Zeichenverwendung vor – allerdings dann schon im Sinne der alten Rhetorik das Darstellen mit dem Herstellen verknüpfend. Insofern kann Rhetorik als eine Kommunikationswissenschaft verstanden werden, die sich ursprünglich im Medium der Mündlichkeit vollzieht und die, wenn das Medium der Schrift herangezogen wird, zu spezifischen Transformationsleistungen befähigt. Im Gerichtssaal nun kommt es zu einer Art Wiederherstellung der mündlichen Darbietung, auch wenn man sich in der Regel auf vielerlei schriftliche Aufzeichnungen stützt. Diese Herstellung der Darstellung benötige Ethos und Pathos.

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Seibert zieht Kants Kategorie des »Enthusiasmus« heran, um die überschießende (darstellend-herstellende) Kommunikationsform charakterisieren zu können: »Wer Recht spricht, muss von mehr sprechen als von Zwecken, Interessen und Zwängen. Das führt seit den Reden Ciceros zu einer Verbindung von juristischer Sachlichkeit und politischem Enthusiasmus« (S. 65). Diesen Enthusiasmus habe, wer auf die drei rhetorischen Basisleistungen Namensgebung – Zusprechen von Prädikaten –, Ereignisbericht – Detaillierung und Problematisierung im dialogischen Erzählen – und enthymematischer Normverweis – bloße Andeutung der Norm – antworten, sie mithin verketten könne. Damit betont Seibert eine kreative Leistung des Redens, normativ Neues ausdrücken zu können, »das auf einem Gefühl beruht und noch nicht Schrift und Gesetz geworden ist« (S. 83). Solche die Gerichtsrede prägenden Äußerungen oder alltägliche Äußerungen, die zum Beitrag im Rechtsdiskurs gemacht werden, stehen im Zentrum der folgenden Kapitel.

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Inventio, dispositio, elocutio

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Nunmehr schöpft das Buch aus dem Vollen, kommen jetzt doch die Fallbeispiele zum Tragen. Es geht um die Inszenierungen. Beteiligte müssen sich wie auch immer in Szene setzen, während sich die anderen Beteiligten aufs Reagieren verlegen und damit die beginnende Inszenierung vielleicht schon abwürgen können. Aus diesem Stoff sind die Gerichtsdiskurse. Womit man anfängt, was als Ereignis berichtet wird, welche Möglichkeiten der inventio es gibt und wie sie aussehen, das belegt die Notwendigkeit, einfallsreich zu verfahren. Woher stammen die Einfälle? Aus den berichteten Beispielen ergibt sich, dass sie von überallher kommen. Einerseits werden ihnen jedoch Formalistisches (aus einer formellen Praxis abgeleiteten Einfälle) und andererseits Lebensweltliches (allgemein bekannte Handlungsmuster) so entnommen, und zwar von den anderen Beteiligten, dass es mögliche Nachfolgekommunikationen geben kann.

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Neben die Sammlung der Daten (inventio) tritt die Reihenfolge der Textteile (dispositio):

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Im Hauptteil der Rede soll geschildert werden, was wirklich oder angeblich geschehen ist. [...] Dabei soll und muss der Redner nicht sogleich darlegen, weshalb er einen Ablauf so und nicht anders schildert. Er schildert ihn und schafft damit das, was im Verfahren heute ›Tatsachenbehauptung‹ heißt. (S. 96)
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Beispiele für solche schwierigen Darstellungsleistungen werden behandelt. Dabei fällt an einigen dokumentierten Beispielen auf, dass sorgfältig ausgeschmückte und motivierte Behauptungen häufig erfolglos sind, während ambivalente Geschichtserzählungen beispielsweise von Zeugen durchaus überzeugen können. Dieses vertrackte Wechselspiel wird dann noch unter Hinweis auf die klassische Rhetorik (Cicero, Quintilian) weiter erörtert, wobei auch Verblüffung und Ironie eine nicht ganz durchsichtige Rolle spielen. Seiberts Schlussfolgerung ist diese:

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Tatsächlich erfüllen Erfahrungen den Anspruch, den jeder Rhetor an sich selbst stellt: seine Redeweise mit dem eigenen Sprachhaushalt abzugleichen und damit für sich das zu tun, was eine forensische Rhetorik nicht leistet, vielleicht auch niemals leisten wird, weil die Redeweisen schneller wechseln als die Beobachtungsmöglichkeiten realisiert werden können. (S. 104)
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In den Gerichtssaal, so könnte man das zusammenfassen, ziehen andere ›gerichtsfremde‹ Diskurse ein.

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Unter dem Stichwort elocutio als Verfahrensrhetorik verändert Seibert nunmehr die Perspektive. Nicht um Plädoyers oder allgemeine Grundsätze der Stoffauswahl und der Einteilung geht es, sondern um alle anderen Formen des Sprechens, die dem Plädoyer vorausgehen und die im Protokoll (der zusammenfassenden Aufzeichnung in den Gerichtsakten) in der Regel nur summarisch, wenn überhaupt, auftauchen. Für diese Phänomene gibt es keine einheitliche Terminologie, weder in der klassischen Rhetorik noch in der Forensik. Hier hätte sich angeboten, diskursanalytische Arbeiten zur gerichtlichen Kommunikation heranzuziehen, in denen auch die Frage nach ideologischen Praktiken und alltagsweltlichen Importen angeschnitten wird. Nur am Beispiel der Kooperation jedoch greift Seibert auf Diskursanalysen zurück. Ein Grund für diese Zurückhaltung ist nicht erkennbar. 1

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Wo bleiben memoria und actio?

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Es gibt noch eine andere blinde Stelle im Text, denn die Aufgaben des klassischen Rhetors umfassen neben den drei genannten Stadien auch noch memoria und actio. Memoria – so wird oft gesagt, wenn Schriftkulturelles im Zentrum steht – bezieht sich auf die mündlichen Verhältnisse der antiken Redekultur und ist unter modernen Umständen nicht mehr wichtig. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit, da die Memorierbarkeit – die Verschiebung von einer Behaltensleistung des Rhetors auf die Erinnerungsfähigkeit der Zuhörenden – gerade in längeren Kommunikationen eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Schließlich müssen die Entgegnungen auf die Vorgängeräußerungen, wie lang sie auch gewesen sein mögen, auf bestimmte Weise zurückgreifen, und das geht nur, indem man an ein paar ›Stellen‹ (sich und andere) erinnert. Vielleicht lässt sich sogar sagen, dass in dieser Memorierbarkeit, besser: in ihrer Handhabung, die Herstellung der Darstellung gipfelt. Nur wer sicher sein kann, dass die Beteiligten das Gesagte memorieren können, hat eine gerichtsübliche Darstellung auch hergestellt. 2

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Actio schließlich ist die Weise des Auftretens des Redners und zumindest unterschwellig im Gerichtssaal von Einfluss, wo Körpersprachliches und Aufrichtigkeit schnell miteinander verbunden werden. Tränen, Lachen und andere Emotionen, die sich der actio aufprägen, gelten häufig als Indikationen für die Art und Weise, wie etwas verstanden werden soll oder kann. Insofern ist dieses Stadium des klassischen Rhetors kein ganz unwichtiges. Wer aber diese beiden Stadien einfach aus der Betrachtung ausschließt, müsste dies eigens begründen. Der kurze Hinweis auf Roland Barthes und seine Einschätzung der actio heutzutage als »irrelevant« (S. 133, FN 51) reicht nicht aus.

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Weitere Elemente der Verfahrensrhetorik

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Neben Beispielen, wie Kooperation abgetrotzt oder realisiert wird, werden Formbedingungen wie Terminabsprachen und Rücknahmen behandelt, die zu Verzögerungen, Verschiebungen, aber auch Ernüchterungen, Enttäuschungen und generellen Protesthaltungen führen können. Meinungen, ein weiteres Element, sind im Verfahren plausibel, wenn sie Tatsachen zusammenfassen und deuten: »Es gehört zur modernen Rhetorik, sie mit Tatsachen zu begründen, die ausgewählt werden. Wer Meinungen vertritt, muss Tatsachen und deren Meinungsbezug kennen« (S. 129). Die Beispiele zeigen, dass »die Form der Sprache die Wahrheit ihres Inhalts« prägt: »Wahre Abläufe müssen sich durch rhetorische Formmerkmale bemerkbar machen, sonst könnte man sie im Termin gar nicht erkennen« (S. 133). Vor allem die Detaillierung wird in modernen Prozessen als ein Indikator für Glaubwürdigkeit betrachtet und in einigen Beispielen vorgestellt. (In diesem Kontext erfolgt dann auch der Hinweis auf die angebliche Irrelevanz der actio. Das Ironische dabei ist, dass Detaillierung etwas mit Memorierbarkeit zu tun haben muss, will sie erfolgreich sein. Somit kommt unter diesem Gesichtspunkt das rhetorische Stadium memoria erneut zum Tragen.)

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Unter dem Stichwort »Erledigungszwang« bespricht Seibert eine Reihe von ganz unterschiedlichen verfahrensrhetorischen Formen. Zunächst einmal macht er darauf aufmerksam, dass Gerichte häufig Verfahren erledigen, indem sie sie einstellen, was offensichtlich einer öffentlichen Erwartung widerspricht, die ein Urteil als ultima ratio erwarte. Die Beispiele belegen, dass im großen Stile ein Deal abgeschlossen werde. Dabei geht Seibert auch auf die Frage ein, was die Öffentlichkeit, vertreten durch journalistische Gerichtsberichterstatter, bewirken kann: »Nur selten beeinflusst das Prozesse unmittelbar, aber in jedem Fall stellt sich die Verfahrensrhetorik virtuell auf Publikumsvorstellungen ein« (S. 142). Diese Art des Erledigens verdiente eine eigene Bearbeitung; es ist schade, dass Seibert keine Möglichkeit sieht, der Frage gründlicher als geschehen nachzugehen. Der Hinweis auf Gerichtsreportagen von Gerhard Mauz ist schlicht zu wenig, zumal hier gerade die journalistische Alltagshektik, die die Tageszeitungen beherrscht, fehlt. Generell nennt Seibert diese Erscheinungen die »unausgesprochene Rhetorik im Dienste des Erledigungszwanges« (S. 143) und bugsiert damit unbefriedigenderweise diesen Zwang in die allegorische Rolle eines Prozessbeteiligten.

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Entscheidbarkeit

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Das letzte Problem in der Perspektive der Verfahrensrhetorik ist die Entscheidbarkeit. Hier läuft Seibert zu großer Form auf. Nicht nur werden Fälle vorgeführt, die lächerlich wirken, weil sie dem Unerheblichen zu viel Raum gewähren, sondern es wird auch gezeigt, dass Entscheidungen, weil sie verschiedene Redeweisen (der verschiedenen Beteiligten) in eine entscheidbare Sprache transformieren, oft das zu Grunde liegende Problem verwandeln:

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Die Formulierungsarbeit zum Zweck der Herbeiführung von Entscheidbarkeit lockert den Problembezug so sehr, dass der Fall am Ende gar nicht mehr problematisch erscheint, obwohl gerade der Problembezug dem Verlauf das Gepräge gibt und seine Formulierung bestimmt. (S. 151)
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Das sind paradoxe Beschreibungen, die das grundlegende Paradox des Rechtssystems selber streifen. Etwas ist entschieden, aber niemand weiß, wer Recht hat. Ein Verfahren wird abgeschlossen, aber die Ausgangsfrage, wer nun eigentlich Recht hatte, bleibt unbeantwortet. Seibert gibt Beispiele dafür, wie solche Verfahren aussehen – und diese Beispiele zeigen, dass es nicht etwa um Ausnahmen geht, sondern um gängige Fälle von Entscheidbarkeit. »Was man erfährt, ist was man liest und hört« (S. 154). Das ist nicht schön, im Sinne von rhetorisch schön, aber es ist kurz. Es trägt zum Abschluss von Verfahren bei. Verfahrensrhetorik ist dann, wenn am Ende niemand weiß, wie es sich mit Recht und Unrecht verhält, wenn nur eine Entscheidung formuliert ist.

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Das klingt nach höherer Paradoxologie, ist aber offensichtlich eine Weise, wie in unserer Gesellschaft Konflikte beherrscht werden können. Das Justizdispositiv ›verwurstet‹ die anstehenden Fallbeispiele und lässt sie in bestimmten Formulierungen entschwinden. Dass jedoch die so gefundenen Formulierungslösungen bestimmte materielle Folgen haben – wie Geld, Zeit, Strafe oder Ächtung – ist kein Gegenstand der Betrachtung. Insofern bestätigt Seiberts Buch die Selbstbezüglichkeit des Justizsystems, das er an anderer Stelle eher kritisch aufgreift und diskutiert. Aus der Beobachterperspektive stellt sich das Justizdispositiv als faszinierend und fesselnd dar, wie aber geschieht dem Beobachter, wenn er in die Rolle des Beteiligten rutscht? Das ist offensichtlich der Ort, der dem Leser vorbehalten bleibt. Der freut sich über viele erstaunliche Beobachtungen und deren Verarbeitung, aber er spürt auch ein gewisses Unbehagen über Verfahrensformen. Es ist ein bisschen wie mit dem medizinischen Dispositiv: Man kann es goutieren, solange man sich mit Formulierungen, Texten, Metaphern und Wörtern einlässt, sobald aber chirurgische Eingriffe relevant werden, möchte man unbedingt auf der Richtigkeit des Verfahrens bestehen, ja beharren. Da hülfe ein solches Buch nur am Rande.

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Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Aktenform

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Nach einer ausführlichen Herleitung der Prinzipien der öffentlichen Verhandlung und der dabei herrschenden Mündlichkeit (aus dem Geist der Französischen Revolution) wendet sich Seibert den Verständigungsschranken zu, die auftauchen, wenn die Mündlichkeiten der Laien und die der juristischen Professionellen aufeinander prallen. Die Suche nach bestimmten ›Ausdrücken‹, die die Laien sagen müssen, damit sie als gerichtsverbindlich festgestellt werden können, so zeigen die Beispiele, gerät öfters zur tragikomischen Veranstaltung. Insgesamt hat man aus den Beispielen den Eindruck, dass die Mündlichkeit der Laien irgendwie unangemessen oder wegen Spontaneität unüberlegt realisiert wird. Hier wären vielleicht Diskursanalysen eher geeignet gewesen, die unterschiedlichen Wissenshorizonte von Laien und Professionellen aufzuzeigen und die Systematik der Betrachtung in dieser Hinsicht zu erweitern.

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Die Mündlichkeit der professionell Beteiligten wird an Hand von zwei Beispielen besprochen, in denen Transkriptionen benutzt werden, die einzigen Transkriptionen des Buches. In ihnen zeigt sich »die Verschränkung des Gesprochenem mit einem schriftlichen Protokolltext« (S. 172), weil vernehmende Richter zwischenzeitlich fürs Protokoll diktieren. Dabei kommt es zu Mischformen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, wie sie überhaupt zu einem Kennzeichen juristischer Verfahren geworden sind. Die Prozesswirklichkeit von Akten, für die die Protokolle ja bestimmt sind, also die Aktenmäßigkeit des juristischen Handelns, wird in den folgenden Abschnitten thematisiert: Akten stellen eine eigene Welt dar. »Die Differenz von Welt und Akten entsteht dadurch, dass die Akten etwas Besonderes enthalten, die Welt aber nicht« (S. 181), heißt es in der das Buch oft kennzeichnenden Lakonik. Über den ›Vorhalt‹, das Verlesen von schon protokollierten Äußerungen, kann der Akteninhalt wiederum in die Mündlichkeit eines Verfahrens eingebracht werden – und kann damit auch zu taktischen Zügen verwendet werden.

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Die dieses Kapitel abschließende Betrachtung fasst Verhaltensmaximen zu mündlichen Äußerungsformen zusammen und stellt damit ein Anleitung dar, wie man sich in brenzligen Situationen verhalten kann. Fasse dich kurz! – Bedenke den schlechteren Fall! – Beziehe dich aufs Verfahren oder schweige! – Nutze das Verfahren nicht zur Aussprache! – Reagiere erst beim zweiten Mal! – Stelle Perspektivenwechsel dar! – Berücksichtige die Papiere, aber entscheide nicht nach dem Papier! Während sich die letzte Maxime direkt an das Gericht wendet, sind die anderen Maximen offener. In ihnen kommen die vielen besprochenen Fälle kernartig zusammen. Man könnte fast daran gehen, aus diesen Maximen einige Vorschläge für Laien zu entwickeln, wie sie sich auf juristische Formen und auf Reaktionen innerhalb des Prozesses vorbereiten könnten.

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Welche neueren Trends
der Gerichtsbeobachter beobachtet

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Nachdem das Buch bis hierher Bedingungen erörtert hat, unter denen die Verfahrensrhetorik arbeitet und im Justizdispositiv praktiziert wird, hat es sich insgesamt unter die Hypothese gestellt, dass die besprochenen Prozesse auf eher heterogenen Anwendungen rhetorischer Strategien und durchaus widersprüchlichen Redetaktiken beruhen. Dem Untertitel von der »Wirklichkeit im forensischen Diskurs« wird damit Genüge getan. Die das Buch abschließenden vier Kapitel widmen sich nunmehr, zwar aus unterschiedlicher Perspektive, jedoch alle von den Paradoxien der Verfahrensrhetorik gespeist, verschiedenen Aspekten, Beispielen und Betrachtungen, wie es denn nun weitergehe mit dem Justizbetrieb. Das lese ich als den zweiten Teil des Untertitels von den »Möglichkeiten im forensischen Diskurs«.

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Das Kapitel »Regelverstöße« ist das letzte, in dem noch Fallbeispiele aus dem Datenmaterial behandelt werden. Es heißt zwar »Regelverstöße«, sein Inhalt ist jedoch eher das Rumpeln im Getriebe, das gleichwohl die entsprechenden Prozesse irgendwie zu einem Abschluss bringt. Der Regelbegriff selber wird problematisiert: Dogmatische Lösungen – etwa zur Frage, wie lange ein Prozess dauern soll – greifen zu kurz, wo es um »Verhaltensgewohnheiten« geht, die »sich ausbilden« (S. 204). So kommt Seibert zu dem Schluss, dass »Praxis über Regeln gesteuert wird, die mächtig sind, durch Nachahmung geübt und tradiert werden und auf Sanktionen nicht angewiesen sind« (S. 203). Was bleibt, sind »klimatische« Fragen. Wer das Prozessklima beeinträchtigt, hat einen schweren Stand, wer es fördert, fördert gleichzeitig die Erledigung, selbst wenn man dies nicht normativ formulieren kann.

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Diese schwankenden Redetaktiken sind insgesamt für Seibert ein Anlass, die Frage nach dem »Stil« aufzuwerfen. Gibt es so etwas wie einen Stil der Gerichtsrede? Und wie kann er beschrieben werden? Seibert nähert sich dieser Frage im nächsten Kapitel, indem er zunächst einen amerikanischen Zeugen anführt: Benjamin Cardozo, der in seinem Buch Law and Literature (aus dem Jahre 1930) auf literarische Qualitäten der Gerichtsrede abhebt und gelungenen Formulierungen allemal den Vorzug vor umständlichen und unklaren gibt. Dies sogar dann, wenn die gelungene Formulierung irgendwie anstößig erscheint. Laut Seibert geht dies nur, weil Cardozo aus der Perspektive des Supreme Court formuliere und sich gleichermaßen an die juristische und die allgemeine Öffentlichkeit wende. Der Tatrichter hingegen, die gängige Instanz der vorliegenden Veröffentlichung, beschränkt sich auf den Gerichtssaal und soll ihm rhetorisch gewachsen sein.

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»Aus der Fülle der Beispiele entsteht das allgemeine Besondere, in dem neben der Inhalts- auch der Beziehungsebene Ausdruck verliehen wird« (S. 209). Das wurde gerade als ›Klima‹ bezeichnet. Das Gebot der Stunde heißt Sachlichkeit bzw. sachlicher Stil: »Man rede knapp, handlungsbezogen und zielorientiert« (S. 211). Sachlicher Stil ist an der Gliederung der Rede erkennbar, benötigt Ruhe und muss auf jeden Fall einen Tatsachengehalt haben. Am wirkungsvollsten ist er, wo er sich auf den Aufweis von Fehlern konzentriert (Begriffs-, Subsumtions-, Rechtsfehler). Wer Fehler benennen kann, findet Revisionsbegründungen, ohne das eigentliche Ziel, die Änderung oder Aufhebung des angefochtenen Urteils explizieren zu müssen. Sobald der Fehleraufweis sich auf Fehler der jeweils anderen Seite richtet, kommt der Beziehungsaspekt ins Spiel – für Seibert der Übergang zu einer »modernen Amplifikationsrhetorik« (S. 214), die mit dem Freund / Feind-Schema arbeitet und als »Konfliktverteidigung« bekannt geworden ist: »Es wird um des Kampfes willen gekämpft, es wird verlängert und erweitert mit dem Ziel zu verlängern und zu erweitern« (S. 216). Nur die Erschöpfung der Mittel Zeit und Geld kann Amplifikationen zum Versiegen bringen, deren Konsequenz sonst das nicht enden wollende Verfahren wäre. Daraus entwickelt sich die Notwendigkeit eines dritten Stils, der nicht ganz so ernst gemeinten Form, der »informalen Prozessrhetorik«. Von Luhmann gibt es den Begriff des »Dahingestelltseinlassens«, der Ähnliches beschreibt. Seibert zielt vor allem auf das Paradigma des Deals, das inzwischen »gängige Praxis« in deutschen Strafprozessen ist (S. 217). Dabei handelt es sich darum, Abkürzungen des Verfahrens und Fehlervermeidung zu erlangen, indem man Absprachen trifft, die Kompromisse ermöglichen und insgesamt eine zeitökonomische Qualtität hervorkehren.

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Als exemplarisches Beispiel für die herausgearbeiteten Stilmischungen wird im nächsten Kapitel der Contergan-Prozess behandelt. Nach 281 Verhandlungstagen, in denen noch nicht einmal die Beweisaufnahme hat abgeschlossen werden können, wurde im Dezember 1970 die Einstellung des Verfahrens beantragt. Diesem Antrag wurde dann auch stattgegeben. Damit endete ein ›Monsterprozess‹, der sprichwörtlich geworden ist. Das Beispiel wird diskutiert, weil es für diese Einstellung im Grunde noch keine Rechtsgrundlage gab; sie wurde erst auf Grund der Erfahrungen mit dem Contergan-Prozess eingeführt, als »Möglichkeit der Einstellung unter Auflagen«. Zum damaligen Zeitpunkt jedoch musste diese Möglichkeit erst rhetorisch geschaffen werden. Das ist der Inhalt der Analyse. Sie arbeitet mit der Figur des »leeren Signifikanten«: »Es kann gar nicht bezeichnet werden, was bezeichnet werden soll. Denn das Phänomen, das geregelt werden soll, gehört selbst zur Reihe der Regeln« (S. 236). Die Beteiligten einigen sich, lassen aber das eigentlich Entscheidende im Hintergrund, die Tatsache nämlich, dass eine Stiftung für die contergangeschädigten Kinder gegründet und mit viel Geld ausgestattet wurde, auch mit Hilfe von Geldleistungen der Angeklagten. Was uns heute als selbstverständlich erscheint, musste damals erst noch in den juristischen Diskurs eingeführt werden: Geld als Medium des Ausgleichs, mit der praktischen Konsequenz der Einstellung des Verfahrens.

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Was das Konzept der Rede disseminiert

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Das letzte Kapitel »Dissemination« erweitert noch einmal die Perspektive. Es geht um die »Zerstreuung« des Konzepts der Rede, im Anschluss an Derrida’sche Überlegungen. Seibert ordnet vier Beobachtungen unter diesen Gesichtspunkt, dass nämlich der Justizbetrieb mit Dingen fertig werden muss, für die er die notwendigen Inszenierungen immer weniger schaffen kann:

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• Es gibt immer mehr Recht, und es gibt auch immer mehr Juristen. »Die Produktion von immer mehr Recht verlagert die bedeutsamen Entscheidungen auf die Praxis des Verfahrens« (S. 248).

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• »Verhältnismäßigkeit« und »Fairness« werden für Juristen zu Leitgesichtspunkten. Damit wird eine neue Argumentationsebene eingerichtet, jenseits von Gesetz und Fall. »Mit den neu im Verfahren auftauchenden Formeln von Fairness und Verhältnismäßigkeit wechselt man – häufig unbemerkt – die Perspektive. Man qualifiziert Gründe nicht mehr nach dem Ort des Begriffs und ihrer Systematik, sondern urteilt über den Nutzen des Verfahrens insgesamt und den Aufwand, mit dem Gründe zu finden und zu erörtern sind« (S. 251).

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• Der »Fall« als Komplement der gesetzlichen Vorschrift wird im Verfahren tief greifend umgestaltet. Es gibt viele »Zufälle« (oder »Beispielsfälle«), die jedoch niemals zu Präzedenzfällen werden. »Herkömmlich und heute noch bis zum gewissen Grade erscheint als Jurist, wer das Gesetz kennt, auslegen und zuordnen kann. Heute immer mehr und morgen notwendig vor allem wird vom Juristen erwartet, dass er ein Begehren zum Fall werden lassen kann, also nicht nur schon verhandelte Fälle der vorgetragenen Art kennt, sondern Kontextbedingungen selbst gestaltet und in der Lage ist, sie dann so zu formulieren, dass sich die ›Betroffenen‹ im Fall wiedererkennen« (S. 254).

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• »Das einheitliche Zeichen [gemeint ist das Rechtszeichen, CS] steht neben der enthusiastischen, fallorientierten Rede, und es lässt sich nicht sagen, ob Norm oder Fall die Oberhand gewinnen werden. Der Inhalt des Rechts bleibt undefiniert, aber die Norm hinterlässt noch eine Spur, die anders als das indexikalische Zeichen nicht auf ein schon interpretiertes Wissen verweist« (S. 257).

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Resümee

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Mit der Frage nach den künftigen Formen der Gerichtsrhetorik erhält das Buch eine Ladung, die in verschiedener Hinsicht äußerst interessant ist, aber doch auch noch weitgehend ungedeckt. Einerseits speist sich der Text aus der Vergangenheit, genauer: der klassischen Rhetorik und historisch unterfütterten Erörterungen zum deutschen Rechtssystem und Verfahrensrecht. Andererseits ist die Publikation wirklichkeitsgesättigt und reich an Fallbeispielen aus der deutschen Gegenwart. Unsere Kenntnis des Justizdispositivs wird verbessert. Unsere Einsichten in rhetorische Formen, die sich in verschiedenen juristischen Verfahren abspielen, werden vergrößert und vertieft. Ein naiver Blick auf das Recht und auf die Verfahren sollte eigentlich nach der Lektüre nicht mehr möglich sein. Das ist reiner Gewinn. Etwas schwieriger sind die spekulativen Teile am Ende. Sie setzen im Grunde mehr voraus, als das Buch liefert. Jedenfalls sollte folgender Satz des Autors ernst genommen werden: »Das Ziel rechtsrhetorischer Beobachtung ist in dieser Situation nur in einem Wettlauf mit der Zeit zu erreichen, denn die Rede und ihre Ziele ändern sich schneller als die Beobachter beobachten« (S. 259). Beteiligen wir uns somit an der Beobachtung, auch wenn wir wohl etwas hinterherhinken.



Anmerkungen

Lediglich im Kapitel »Mündlichkeit und Aktenform« greift Seibert direkt auf Diskursanalysen zurück. Er behandelt eine Anhörung eines in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten und präsentiert die Transkription in angemessener Ausführlichkeit (S. 170 – 172). Unter dem behelfsmäßigen Stichwort »Rechtsgespräch« verwendet er die Transkription eines Zivilprozesses (S. 175 – 176). In beiden Fällen jedoch geht er nicht näher darauf ein, warum er hier auf Transkriptionen (von anderen) eingeht, während diese Form bei der Wiedergabe der anderen Prozessteile, weil er dann mit Nacherzählungen arbeitet, keine Rolle spielt.   zurück
In den beiden Transkriptionsbeispielen kann man auch mitbekommen, wie der vernehmende Richter das entstehende Protokoll realisiert: Er diktiert nämlich seine Zusammenfassung der Einlassung der betreffenden Person(en) direkt und macht sie somit zum Gerichtstext. Die Redetaktik des Diktierens wird zu einer eigenen Diskursart.   zurück