IASLonline

Vampire, Serienmörder und die Mythogenese eines Genres

  • Jörg Waltje: Blood Obsession. Vampires, Serial Murder, and the Popular Imagination. New York u.a.: Peter Lang 2005. IX, 157 S. 6 s/w Abb. Paperback. EUR (D) 22,30.
    ISBN: 0-8204-7420-7.
[1] 

Literatur-, mehr noch Filmgenres entwickeln sich in einem Dialog zwischen Produktion und Rezeption. Der Begriff des Genres ließe sich beschreiben als die vielfach wiederholten, stereotypen Formen des Erzählens und Darstellens, die sich aus diesem Dialog heraus kristallisieren. Besonders bei traditionsreichen Genres ist diese Entwicklung gut nachvollziehbar. Der Literaturwissenschaftler Jörg Waltje (Ohio University, Athens) erörtert dies in seinem Buch Blood Obsession anhand des Vampir-Motivs, wie es sich in Literatur- und Filmgeschichte entwickelt hat, und greift dabei auf ein mythogenetisches Konzept zurück. Neben den genretypischen Merkmalen des Sujets greift er die Frage nach der anhaltenden Faszination von Vampir-Geschichten auf und interpretiert den Serienmörder als modernen Nachfolger des Vampirs.

[2] 

Waltjes Überlegungen situieren sich methodisch zwischen der Psychoanalyse Freuds, der Folklore- und Mythologie-Forschung, der Ethnologie und dem Strukturalismus. Mit seiner Studie versucht er folgendes Phänomen zu erklären:

[3] 
It examines genre in fiction and film in order to uncover the underlying strcture of vampire text [und später: Serienmörder-Fiktionen, S. H.] and explains our continual interest in such kinds of fiction. (p. 1)
[4] 

Sein Genre-Begriff basiert auf David Punters Theorie zur Gothic Novel, der das Entstehen und die Entwicklung von Sujets eng an die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Entstehungszeit knüpft (hierin gefolgt von James Twitchell, Nina Auerbach, Ken Gelder, David Skal und Gregory Waller, auf die Waltje sich ebenso bezieht), sowie einer Synthese aus Freuds Konzept des Unheimlichen und Todorovs Begriff des Fantastischen. Vampir- und Serienmörder-Stoffe stellen für ihn einerseits Artefakte einer Sozial- und Mentalitätsgeschichte dar und sind andererseits selbst-reflexive Kunstwerke, in denen sich Konzepte von Serialität, Psychoanalyse und Medialität spiegeln. Methodisch orientiert sich Waltje also insgesamt an den bisherigen Untersuchungen zu den Horrorgenres.

[5] 

Vampire und Genres

[6] 

Der Großteil von Blood Obsession ist der Analyse des literarischen und filmischen Vampirismus gewidmet. Nach einer Einführung, in der er sein Projekt skizziert, das Untersuchungskorpus eingrenzt, Definitionen vorausschickt (etwa Freuds Definition des Unheimlichen und Todorovs Überlegungen zum Fantastischen) und einen Überblick über die Forschungslage gibt, wendet sich der Autor im zweiten Kapitel der Verbindung von Vampir-Stoff und Genredefinition unter Berücksichtigung von Freuds Konzept des »Widerholungszwangs« zu. In den Vampirgeschichten selbst verdoppele sich das Genre-Prinzip, wonach es den Untoten genauso zu neuen, immergleichen Handlungen treibe, wie es Leser und Autoren immer wieder zum selben Genre ›zurück treibe‹ (p. 25), um die Narrationsfäden wieder aufzunehmen und weiterzuspinnen.

[7] 

Das dritte Kapitel nutzt Waltje, um diese These literaturhistorisch zu erhärten. Er verfolgt die literarischen Erscheinungen des Vampirs von Ossenfelders Gedicht Der Vampir (1748) über Bürgers Ballade Leonore (1773) , Goethes Die Braut von Korinth (1797) bis hin zu den »Gothic Poems« und »Gothic Novels« der Literatur des 19. Jahrhunderts. Hier untersucht er vor allem Malcolm Rymers Varney the Vampire, eine Serien-Novelle, die ab 1847 erschien und das Wiederholungsmotiv bereits in seiner Erscheinungsweise und in seinem Marketingkonzept verdoppelt. J. Sheridan Le Fanus Novelle Carmilla (1872) überträgt das Vampir-Motiv auf einen Liebesstoff und bietet erstmals einen weiblichen, zudem lesbischen Vampir. Im zweiten Teil des Kapitels wirft Waltje einen Blick auf den Vampir in der bildenden Kunst – vor allem als Gegenstand der Malerei, in die er spätestens 1781 mit Johann Heinrich Füsslis Der Nachtmahr in Erscheinung tritt. Hier offenbart sich eine relativ stabile Motiv-Tradition, welche aus dem Vampir noch deutlicher als die Literatur eine sexuell konnotierte Figur macht.

[8] 

Aus dieser Bildtradition geht schließlich auch der filmische Vampir hervor, dem Jörg Waltje das vierte Kapitel seines Buches widmet. Hier konstatiert er zunächst die enge Verwandtschaft des Motivs zum es abbildenden Apparatus, die Friedrich Kittler schon in Draculas Vermächtnis (1993) erwähnt: Vampire sind Phänomene des Lichts und der Belichtung, mithin: mediale Phänomene – und zwar schon bevor sie filmisch in Erscheinung treten. In Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu (1922), den Waltje neben Tod Brownings Dracula (1931) und F. F. Coppolas Bram Stoker’s Dracula (1992) eingehend untersucht, ist diese Verwandtschaft noch deutlich als »self-awareness« (p. 61) erkennbar. Mehr noch als die literarischen Fortschreibungen des Vampir-Motivs seien die Verfilmungen dazu geeignet, die Intertextualität des Genrekonzeptes zu verdeutlichen. Anhand der drei von Waltje untersuchten Filme wird Kontinuität und Progression des Genres sehr deutlich. Bei der Kopplung der Genre-Theorie an Lévi-Strauss’ Mythen-Theorie macht sich die Schwäche des kleinen Korpus von nur drei Filmen bemerkbar; der Leser muss bereit sein, dem Repräsentativitätsanspruch des Autors zu folgen.

[9] 

Wiederholungszwang – Serienmord

[10] 

Der eigentlich innovative Teil des Bandes beginnt mit dem sechsten Kapitel. Hier dehnt Waltje seine Überlegungen auf »Teenage Vampires« aus und untersucht meines Wissens erstmalig in dieser Konzision die Erscheinungsformen des Vampirs in kinder- und jugendaffinen Formaten. Neben Comicstrips wie Bunnicula (ab 1979) und Goosebumps (1976f.) untersucht er populäre Buchreihen wie Angela Sommer-Bodenburgs Der kleine Vampir (1979), Èric Sanvoisins The Ink Drinker (1998) oder L. J. Smiths The Vampire Diaries (2001). Unter den audio-visuellen Darstellungen des Vampirs rücken hier vor allem in den 1980er Jahren populäre Spielfilme wie Tom Hollands Fight Night (1985) und Joel Schumachers The Lost Boys (1988) in den Untersuchungsfokus. In diesen Erzählungen, wie auch in der später sehr populären TV-Serie Buffy the Vampire Slayer (1992 & 1997 ff.) und deren Spin-Offs, werden vor allem die Probleme des Erwachsenwerdens behandelt und über die Figur des jugendlichen Vampirs oder dessen jugendlichen Gegner Konflikte mit der Erwachsenenwelt metaphorisiert und einer kathartischen Lösung entgegen geführt.

[11] 

Zu den populärsten Verarbeitungen des Vampir-Motivs, und das legt Waltje als einer der ersten schlüssig dar, zählt dessen Fortschreibung in der Figur des Serienmörders. Die am Vampir-Genre herausgearbeiteten mythologischen und psychoanalytischen Paradigmen finden sich in der kulturellen Verarbeitung des Serienmords vollständig wider. Der »Zwang zur Wiederholung«, den Freud in Jenseits des Lustprinzips vorstellt, bildet für Waltje das Bindeglied zwischen beiden Genres (ob Serienmord-Darstellungen tatsächlich ein eigenes Genre darstellen oder nicht vielmehr ein Motivkomplex innerhalb verschiedenster Genres, wäre zu diskutieren).

[12] 

Kulturelle Verarbeitung

[13] 

Im sehr kenntnis- und materialreichen letzten, sechsten Teil seines Buches widmet er sich diesem Phänomen. Ausgehend von den frühesten medialen Erscheinungen des Serienmörders (Jack the Ripper, 1888) über eine Mediengeschichte des Phänomens bis in die Gegenwart und unter besonderer Berücksichtigung des Haarmann-Falles (1925) und dessen kultureller Verarbeitung in Presse, Literatur und Film entwickelt Waltje seine Überlegungen. Vor allem die Geschichte des ›Werwolfs von Hannover‹ hat so zahlreiche und unterschiedliche Verarbeitungen wie kaum ein anderer Serienmord-Fall hervorgebracht. Die ›Faszination‹ am Stoff, der der Autor über die vergangenen Kapitel seines Buches auf der Spur gewesen ist, lässt sich an diesem Fall deutlich exemplifizieren. Hier treffen die quasi-mythische Qualitäten (p. 122) des Serienmord-Phänomens auf den Wunsch der Rezipienten zu ›verstehen‹. Von den den Haarmann-Prozess begleitenden ›Aufklärungsbroschüren‹ bis hin zu Romuald Karmakars Der Totmacher (1995) lässt sich dieses Bedürfnis nachzeichnen.

[14] 

Fazit

[15] 

Jörg Waltjes vom Umfang her recht schmale, aber äußerst reichhaltige Auseinandersetzung mit »Vampires, Serial Murder, and the Popular Imagination« leistet zweierlei. Zum einen führt sie die heterogenen Auseinandersetzungen zum Vampir-Motiv in den Medien zusammen und ergründet dabei das, was dieses Genre auszeichnet (daneben lässt seine Motivgeschichte des Vampirs sich auch als Einführung in die Genre-Theorie überhaupt lesen). Zum anderen liefert Waltjes Untersuchung, indem sie das Vampir-Motiv transzendiert und darüber dessen Gemeinsamkeiten mit der populären Verarbeitung von Serienmord-Fällen herausstellt, einen wichtigen Beitrag zur Forschung. Indem er die »Faszination am Stoff« in das Zentrum seiner Überlegung stellt, markiert Waltje Serienmord-Fiktionen als Bestandteil einer literarischen Tradition, die nicht mehr zuvorderst auf den ›authentischen Gestus der Tat‹ insistiert, sondern dessen mythologisch-fiktionalen Kern herausstellt.