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Die Unwahrheit 24 mal pro Sekunde:

Formen des Lügens im Kino

  • Kerstin Kratochwill / Almut Steinlein (Hg.): Kino der Lüge. Bielefeld: transcript 2004. 200 S. Paperback. EUR (D) 23,80.
    ISBN: 3-89942-180-9.
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Hervorgegangen aus dem DFG-Graduiertenkolleg »Kulturen der Lüge« an der Universität Regensburg widmet sich der vorliegende Sammelband dem Spezialfall des »Kinos der Lüge«. Dieser ambivalente Titel ist mit Bedacht gewählt, denn die in dem Band vereinten Aufsätze fokussieren sowohl das Lügen im Film als auch filmisches Lügen (wobei es allerdings grundsätzlich problematisch erscheint, im Zusammenhang mit fiktionalen Vermittlungsstrategien von Lügen zu sprechen). In den Untersuchungshorizont gelangt somit das intradiegetische Lügen der handelnden Figuren, aber auch Formen der Täuschung auf der Ebene der visuellen Vermittlung.

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Die historische, internationale und typologische Bandbreite der untersuchten Spielfilme ist groß: Jede Dekade von den 1950er bis zu den 90er Jahren ist durch wenigstens einen Film repräsentiert. Die Filme stammen aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Japan, Kanada, Jugoslawien und Kuba. Mainstreamfilme Hollywoodscher Prägung (The Sting) stehen neben europäischen Autorenfilmen (Blow Up, The Draughtsman’s Contract), Science Fiction-Filme (eXistenZ) neben Komödien (Crna macka, beli macor) und Thrillern (Lost Highway). Dieses bunte Netzwerk der versammelten Filme, die in dieser Form noch nie gemeinsam behandelt wurden, begründet, wie Jochen Mecke in seiner Einführung betont, die Originalität des Bandes (S. 16).

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Zweifellos zählt der breite Untersuchungshorizont zu den Meriten des Bands, dennoch wäre eine schärfere Profilierung der Auswahlkriterien für die behandelten Filme nützlich gewesen, denn die Implikation, dass das »Kino der Lüge« nicht notwendigerweise an bestimmte Genres, Epochen oder nationale Identitäten gebunden ist, verschleiert die Tatsache, dass manche Genres für ästhetische Filmlügen natürlich stärker prädestiniert sind als andere. Auch waren die Konjunkturen für solche filmischen Erzählverfahren zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern höchst unterschiedlich.

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Filmisches Lügen als mediale Selbstreflexion
und Metapher menschlicher Erkenntnisfähigkeit

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Der Band beginnt mit einem Beitrag von Almut Steinlein und Nicole Brandstetter über Antonionis Blow Up (1966), der anhand der Unzuverlässigkeit seiner Bilder grundsätzliche Fragen zum Status von Wahrheit und Erkenntnis aufwirft. Die in Blow Up erzählte Geschichte des zum Scheitern verurteilten Versuchs des Modefotografen Thomas, den wahren Hergang eines (möglichen) Verbrechens mit Hilfe von Fotografien zu rekonstruieren, begreifen die Verfasserinnen als Parabel über die Unmöglichkeit, mediale Repräsentationen »hin zu einem ›authentischen‹ Realen zu durchbrechen« (S. 37). Thomas besitzt deutliche Parallelen zu dem Zeichner Neville in Peter Greenaways erstem Spielfilm The Draughtsman’s Contract (1982), in dessen Zeichnungen ebenfalls Indizien eines möglichen Verbrechens auftauchen. Beide Protagonisten sind Künstlerfiguren, die mit ihren Werken ein scheinbar objektives Abbild der Realität liefern, dabei aber nur zu Opfern von Täuschung und Selbsttäuschung werden. Unter Heranziehung der intermedialen Beziehungen zur Malerei unternimmt Erwin Petzi in seinem Beitrag eine aufschlussreiche Analyse verschiedener Nuancen des Lügens in Greenaways Film.

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Während Blow Up und The Draughtsman’s Contract selbstreflexive Kommentare über den Illusionscharakter des Mediums Film liefern, geht der in Alexander Flierls Aufsatz behandelte Rashomon (1950) – neben Hitchcocks Stage Fright, das klassische Beispiel für unzuverlässiges Erzählen im Film – hierüber noch hinaus. Regisseur Kurosawa erklärt Wahrheit und Wirklichkeit nicht nur im medialen Gestaltungsraum des Films, sondern auch im Hinblick auf menschliche Erkenntnisfähigkeit zu subjektiven Kategorien, »die von der persönlichen Perspektive und individuellen Deutungskraft des wahrnehmenden Subjekts abhängen« (S. 69).

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Lüge als gesellschaftliches Konstrukt

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Auf vergleichsweise trivialere Art illustriert auch George Roy Hills Gangsterfilm The Sting (1973) die These, dass Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert ist. In einem kurzen Aufsatz zeigt Katharina Strauss auf, wie der Film unterschiedliche Ebenen der Täuschung und Illusion aufbaut, die für die Zuschauer, je nach der kommunikativen Ebene, auf der sie errichtet werden, leichter oder schwerer zu durchschauen sind.

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Die Beiträge von Magdalena Mancas und Doren Wohlleben sowie von Andreja Zoric sind Filmen gewidmet, die weniger verlogen als allegorisch erzählen. La vida es silbar (1998) und Crna macka, beli macor (1998) sind politische Filme, deren ideologische Aussagen erst in ihren verschlüsselten Subtexten zum Tragen kommen. Diese wiederum, und hier liegt wohl die Affinität zum »Lügen«, sind so gut unter der filmischen Oberfläche versteckt, dass sie nur von einem Publikum mit spezifischem Hintergrundwissen decodiert werden können.

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Entgrenzungen von Wahrheit und Täuschung

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Ebenso wie in Blow Up und Rashomon ist in den Filmen eXistenZ (1999) und Lost Highway (1997), die in den Aufsätzen von Steffen Greschonig und Vítezslav Horák bzw. Kerstin Kratochwill und Christine Simone Sing vorgestellt werden, eine klare Trennung von Wahrheit und Täuschung weder sinnvoll noch möglich. Im Gegensatz zu anderen »lügenden« Filmen der jüngsten Vergangenheit (wie beispielsweise A Beautiful Mind, Secret Window oder Spider) verweigern beide Filme eine Unterscheidung zwischen diegetischer Realität und Irrealität. Als typische Vertreter postmoderner Erzählverfahren führen sie die Zuschauer mit ihren stark verschachtelten, von selbstreflexiven und intermedialen Bezügen durchzogenen Erzählungen stattdessen in Labyrinthe ohne Ausweg. Die Frage nach einer objektiven Wahrheit tritt daher in den Hintergrund zugunsten hermetischer Strukturen, die, wie Kratochwill und Sing beobachten, nach Art eines Möbiusbands lediglich auf sich selbst verweisen. Paradigmatischen Ausdruck erhält dieser Modus des Zweifels in der unbeantwortet bleibenden Schlussfrage von eXistenZ: »Sagt mir die Wahrheit! Sind wir immer noch im Spiel?«

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Fazit

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Mehrheitlich erkunden die acht Aufsätze die Inhalte der gewählten Filme, seltener deren Gestaltungsmittel und Erzähltechniken. Philosophischen, soziologischen, psychoanalytischen und hermeneutischen Fragestellungen wird daher größeres Gewicht eingeräumt als filmästhetischen Analysen. Dies macht den Band nicht nur für Filmwissenschaftler, sondern auch für ein breiteres Publikum zu einer interessanten und gewinnbringenden Lektüre, auch wenn der recht dürftige redaktionelle Teil eine zur Information der Leser eigentlich unerlässliche Filmographie ebenso vermissen lässt wie einen Namens- und Titelindex.