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Reisen durch das jüdische Deutschland

  • Micha Brumlik / Rahel Heuberger / Cilly Kugelmann (Hg.): Reisen durch das jüdische Deutschland. (DuMont Literatur und Kunst) Köln: DuMont 2006. 480 S. 151 s/w, 69 farb. Abb. Kartoniert. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 3-8321-7932-1.
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Der Reiseführer erwähnte in seiner historischen Abschweifung die Römer und Kelten, Alemannen und Franken, aber von meinen Vorfahren sprach er nicht.
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Schließlich habe ich mich gefragt, warum ich überhaupt da hingekommen war, nach Frankfurt, an die Bergstraße und nach Wiesbaden. Wollte ich mich etwa, bevor ich in die so ersehnte Fremde fuhr, noch einer Herkunft oder Heimat versichern? [...] Meine Herkunft von dort war ganz unsichtbar geworden. Ich habe nichts finden können, keine Erinnerung, kein Zeichen, kein Andenken und keine Spur. 1
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Ein jüdisches Deutschland gibt es nicht, ...

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Ein jüdisches Deutschland gibt es in Barbara Honigmanns Erzählung Eine Liebe aus nichts nicht: nicht für den massentouristisch normierten Blick auf die alte Kulturlandschaft im Rheintal, aber auch nicht für die deutsch-jüdische Protagonistin des Textes. Die Spuren sind vernichtet oder verwischt oder sie lassen sich nicht mehr entziffern, weil die Tradierungsprozesse zwischen den Generationen massiv gestört sind. Jüdische Orte sind allenfalls die Friedhöfe; aber verfallen, vergessen und an der Peripherie der Städte gelegen scheint ihr Gedächtnispotential in der Gegenwart nicht mehr abrufbar. Ein jüdisches Deutschland ist in diesem Text nur als Negation präsent; die bemühten Suchbewegungen führen immer wieder zum resignierten Befund einer unüberwindbaren Abwesenheit.

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Jüdische Sehenswürdigkeiten –
Denkmäler einer doppelten Abwesenheit

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Für den Tourismus sind Abwesenheiten kein Problem, ganz im Gegenteil partizipiert er seit seinen frühen Anfängen im 17. Jahrhundert auf verschiedenste Weise an der Konzeption von Ortsgedächtnissen, die die Reise durch den Raum mit einer Reise durch die Zeit korrelieren. 2 Seine Strategien transformieren – von der Leerstelle über Reste und Ruinen bis hin zum restaurierten Baudenkmal oder Museum – Vergangenheiten in normiertes Bildungswissen, das ›vor Ort‹ Bezüge zu eigener oder fremder Geschichte herstellt. Wie Honigmanns Text zeigt, funktionieren diese Reanimations- und Integrationsstrategien für das jüdische Deutschland gerade nicht. Und das nicht nur, weil im dort erzählten offiziellen Tourismus-Gedächtnis kein Platz (mehr) für jüdische Geschichte ist. Denn nach der Shoah, mit der jüdisches Leben in Deutschland fast vollständig vernichtet wurde, lassen sich die historischen Stufen des Judentums hier nicht mehr einfach in Geschichtsprozesse integrieren. Jüdische Sehenswürdigkeiten können nicht mit einem touristisch »beruhigten« 3 Blick betrachtet werden, weil sie auf eine doppelte Abwesenheit verweisen, die sich einerseits auf der Zeitachse aus der Absenz der Vergangenheit ergibt, andererseits auf der Auslöschung einer ganzen Kultur in der jüngsten Vergangenheit beruht.

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Zur Konzeption des Reiseführers

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Dieser Horizont grundiert auch eine seit den achtziger Jahren beobachtbare Perspektivverschiebung im Umgang mit jüdischer Geschichte: Ins Zentrum kulturpolitischer und akademischer Aufmerksamkeiten sind zunehmend die vielfältigen Facetten jüdischer Lebenswelten und deren jahrhundertealte Verquickungen mit der nichtjüdischen deutschen Kultur gerückt. Dieser Blick auf Eigenständigkeiten, der vom regionalen Gemeindeleben bis hin zum privat-familiären Bereich reicht, beginnt die grands récits der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung – Opfer-, Beitrags- und Assimilationsgeschichte – nachhaltig zu irritieren. 4 Der hier zu rezensierende Band bezieht sich in seiner Gesamtkonzeption und in der Anlage der einzelnen Beiträge explizit und implizit auf beide Problemkomplexe: In seinem ersten, umfangreicheren Teil verfolgt er auf knapp dreihundert Seiten einerseits die Spuren regionaler (deutsch‑)jüdischer Geschichten (I); der zweite Teil liefert andererseits in einer Reihe von Essays thematisch differenzierte Grundlageninformationen zu jüdischem Leben bis in die Gegenwart hinein (II).

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Reiserouten durch das jüdische Deutschland

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Der regionale Teil des Bandes ist in gesonderte Kapitel untergliedert, die sich entweder mit ganzen Regionen (Franken, Hessen, Ruhrgebiet, Schleswig-Holstein und Südwestdeutschland) oder mit einzelnen Städten (Dresden, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Köln, Leipzig und München; das Städtedreieck Speyer, Worms und Mainz ist in einem Kapitel zusammengefasst) beschäftigen. Die Beiträge orientieren sich dabei fast durchweg an einer chronologischen Ordnung: Die Grundlage bilden historische Entwicklungs- und Zerstörungsprozesse, deren Spuren dann zu lokalisieren versucht werden. Mit Rücksicht auf regionale Besonderheiten sind hier unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt: Für Hamburg gibt es etwa ein gesondertes Kapitel über die Geschichte der sephardischen Juden (Michael Studemund-Halevy), im Beitrag zu Dresden (Simone Lässig) wird ausführlich auf die Sempersynagoge und die 2000 an ihrer Stelle errichtete Neue Synagoge eingegangen, für Düsseldorf (Marina Sassenberg) ist natürlich Heine und im Anschluss an ihn ein Blick auf vormärzliche Emanzipationsbestrebungen wichtig, im Kapitel zum Ruhrgebiet (Yvonne Rieker und Michael Zimmermann) gibt es ausführlichere Informationen zu jüdischer Kunstsammlertätigkeit in der Weimarer Republik (Villa Meerländer in Krefeld) und zur Duisburger Synagoge, der historische Beitrag zu Berlin (Inka Bertz: Juden in Berlin – Orte ihrer Geschichte) beschäftigt sich neben der Emanzipation Anfang des 19. Jahrhunderts ausführlicher mit dem wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik und mit den Entwicklungen nach 1945.

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Bedeutsame jüdische Gemeinden
in deutschen Großstädten

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Mit Berlin an der Spitze sind den größten und (historisch) bedeutsamsten jüdischen Gemeinden Frankfurt, Hamburg und München insgesamt die umfänglichsten Kapitel gewidmet; sie sind zudem noch einmal unterteilt. Mit den Beiträgen von Judith Kessler (»Zwischen ›Charlottengrad‹ und ›Scheuenviertel‹ – Jüdisches Leben in Berlin heute«), Susanne Urban (»›Untervegs‹ und angekommen – Juden in Frankfurt am Main nach 1945«) und Richard Chaim Schneider (»Jüdische Gemeinde in München«) hat man damit vor allem Informationen und Reflexionen zu regionalen Besonderheiten und Entwicklungstendenzen jüdischen Lebens in der Gegenwart noch einmal einen besonderen Raum gegeben.

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Insgesamt gesehen orientieren sich alle Beiträge deutlich an den historischen Schwerpunkten, die auch für die akademische deutsch-jüdische Geschichtsschreibung relevant sind: Siedlungsanfänge im Mittelalter, Hofjudentum im 17. und 18., Haskala, Emanzipationsbestrebungen und Reformbewegungen im 18. und 19 Jahrhundert, rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Etablierung in Kaiserreich und Weimarer Republik, Vernichtung im Nationalsozialismus, Neubeginn nach 1945 und Neukonstellierung mit der ›Wende‹ und den Einwandererströmen aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Vielfalt an Detailinformationen, die hier geboten wird, ist übersichtlich aufbereitet: Die Beiträge sind fast durchweg in Unterkapitel mit aussagekräftigen Teilüberschriften gegliedert; zahlreiche Fotografien und Reproduktionen sorgen für Anschaulichkeit, zum Teil ergänzen Marginalien die Ausführungen des Haupttextes.

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Ein Reiseführer mit eingeschränktem
touristischen Nutzen

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Die touristische Nutzbarkeit dieser Informationen ist allerdings nicht durchweg gegeben. Zwar lässt sich für den größten Teil der Beiträge sagen, dass sie den Blick auf die jüdische Geschichte so aufbereiten, dass eine bildungstouristisch interessierte Begehung an den vorgeschlagenen Wegemarken entlang möglich wird. Konsequent ergänzt wird diese Perspektive durch einen zwanzigseitigen Serviceteil, der Adressen jüdischer Gemeinden, von KZ-Mahn-und Gedenkstätten, weiterer Gedenkstätten und ausgewählten Sehenswürdigkeiten in Ostdeutschland auflistet (S. 451–475). Gleichwohl finden sich immer wieder Passagen, in denen Informationen zu Personen, Ereignissen und Entwicklungen zwar im regionalen Kontext geliefert, aber nicht konkret verortet werden. Das gilt etwa im Kapitel zu Berlin für die Ausführungen zum »lange[n] Weg zur Rechtsgleichheit« (S. 19 f.); auch in der Beschreibung der einzelnen Stadtviertel, in denen sich zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik verschiedene Formen jüdischen Lebens herausbildeten (unter anderem Spandauer Vorstadt, Scheunenviertel, Konfektions-, Banken- und Zeitungsviertel) gibt es nicht immer genaue Angaben darüber, was heute noch besichtigt werden kann. Ähnliches gilt im Frankfurter Beitrag für die Passagen zum 19. Jahrhundert (»Zwischen Reform und Orthodoxie«, S. 105–107), zur Gründerzeit (»Wirtschaftliche Erfolge«, S. 108 f.) und zu den Einwanderern aus Osteuropa während der Weimarer Republik (S. 114), für Hamburg in den Ausführungen zu den Anfängen der jüdischen Gemeinde im 16. und 17. Jahrhundert (S. 143) oder zu Albert Ballin (S. 147) und schließlich für das historische Kapitel zu München, das sich generell sehr stark auf regionalgeschichtlich relevante Ereignisse und Personen konzentriert und dabei nur selten Ortsanbindungen liefert (S. 216–228).

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Wissenswege durch das deutsche Judentum

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Dem regionalgeschichtlichen Schwerpunkt des Bandes ist ein gesonderter Essay-Teil angefügt, in dem wiederum verschiedene Autorinnen und Autoren ergänzende Überblicke – teils informatorischer, teils essayistischer und reflektierender Art – über die unterschiedlichen Aspekte jüdischen (Gemeinde‑)Lebens vor allem im Deutschland nach 1945 und nach 1989 liefern. Eine erste Gruppe informiert hier noch einmal über verschiedene Grundlagen des Judentums, so Rahel Heubergers Artikel »Was ist Judentum?«, der sich – ausgehend von den wichtigsten Grundlagen der jüdischen Religion – mit Festkreis und Alltagsgebräuchen beschäftigt. Hans Ginsburg gibt einen knappen Überblick über die komplexen Problemlagen jüdischer Gemeinden (»Warum zahlen Juden Kirchensteuer? – Zur Geschichte und Struktur der jüdischen Gemeinden in Deutschland«); dabei haben sich Überschneidungen mit den Gegenwarts-Kapiteln zu Berlin, Frankfurt am Main und vor allem München nicht immer ganz vermeiden lassen.

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Micha Brumlik (»Kantianer, Existenzphilosophen und Marxisten. Jüdisch-deutsche Philosophie von der Aufklärung bis zum Holocaust«) zeichnet die wichtigsten Stufen deutsch-jüdischer Philosophiegeschichte nach: von der Haskala über die Berliner Biedermeier-Salonkultur, der Wissenschaft des Judentums und den Reformbewegungen hin zu den wichtigsten Denkern in Kaiserreich und Weimarer Republik (u.a. Baeck, Benjamin, Susman, Buber und Rosenzweig) und den Versuchen, mit der Shoah philosophisch zu Rande zu kommen (Arendt, Scholem, Jonas). Statt jüdische Philosophie als einen typischen, »bestimmte[n] Denkstil[e]« (S. 360) zu demonstrieren, geht es Brumlik viel eher – und plausibler – um Verknüpfungen mit den jeweils wichtigsten Strömungen der Philosophiegeschichte. Jutta Strauß’ Artikel über das Jiddische (»Jiddisch – Die Geschichte einer Sprache«) bietet wichtige Fakten zur Entwicklungsgeschichte und zur gegenwärtigen akademischen und kulturnostalgischen – Relevanz der Sprache. Gabriele Kammerer (»Kinder Gottes im Land der Täter – Der christlich-jüdische Dialog in der Bundesrepublik Deutschland«) und Judith Kessler (»Koffer auf, Koffer zu – Jüdische Ab- und Zuwanderung«) beschäftigen sich mit den Veränderungen im Zusammenleben zwischen Juden und Deutschen nach der Shoah.

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Von Judaica-Sammlungen bis zur koscheren Küche

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Eine zweite Gruppe beschäftigt sich, bezogen auf ganz unterschiedliche Themen, mit dem Stand der Integration und den Formen der Etablierung des Judentums im Deutschland der Gegenwart: Cilly Kugelmann mit Blick auf die koschere Küche (»Pastrami auf dem Münchner Viktualienmarkt – Koschere Geschäfte in Deutschland«), Rahel Heuberger mit Blick auf den akademischen Betrieb (»Jüdische Studien in Deutschland«). Heuberger stellt eine Auswahl an Instituten, Forschungsgruppen und Lehrstühlen vor, mit denen sich inzwischen eine Wissenschaft vom Judentum als eigenständige Disziplin an deutschen Universitäten etabliert hat und gibt zudem Informationen über Bestände an Judaica-Sammlungen in den wichtigsten Bibliotheken und Archiven.

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Kunst und Literatur im jüdischen Deutschland

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Eine dritte Gruppe verfolgt die komplexen Gemengelagen des jüdischen Deutschland im Bereich von Kunst und Literatur. Salomon Korn stellt ins Zentrum seines architekturgeschichtlichen Beitrags zum Synagogenbau (»Synagogen in Deutschland nach 1945«) den Umgang mit traditionell vorgegebenen Raumordnungen nach Völkermord und Synagogenzerstörungen. Thomas Sparrs etwas unkonzentrierter Beitrag (»Jüdische Literatur nach 1945«) versucht mit dem aus jüdischen Exilerfahrungen entstandenen Modell von der Sprache als portativem Vaterland, der Hiob-Figur (S. 394) und der Orientierung an realen Orten jüdischen Schreibens Linien durch die Entwicklung einer deutsch-jüdischen Literatur zu ziehen. Dabei wird auch auf Verdrängungsprozesse im Kontext der nicht jüdischen Literatur vor allem der fünfziger Jahre (etwa in der Gruppe 47) und in der DDR verwiesen.

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Deutsch-jüdische Theatergeschichte

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Solche Wechselverhältnisse stehen auch im Zentrum des Kapitels zur deutsch-jüdischen Theatergeschichte von Hanno Loewy (»Juden und ›Juden‹ auf dem deutschen Theater nach 1945«), das nach einem kurzen Rückblick auf die Theaterproduktionen in der Weimarer Republik und unter den Nationalsozialisten im Rahmen des Kulturbundes die Inszenierungen der exemplarischen Judenfiguren Nathan und Shylock vom Kriegsende bis in die späten siebziger Jahre hinein beobachtet und deren ideologische Implikationen aufzudecken sucht – ergänzt um die Debatten um Faßbinders Stück »Der Müll, die Stadt und der Tod«. Gertrud Koch (»Einmal Vergangenheit und zurück: Filmische Zeitreisen durch ein jüdisches Deutschland«) präsentiert – angereichert mit Informationen zu einzelnen Studios, Regisseuren und Drehbüchern – eine breite Vielfalt des filmischen Umgangs mit jüdischem Leben und vor allem mit der Shoah und verzeichnet Veränderungen, die sich – wie ja in der Literatur auch – mit dem Generationswechsel der achtziger und vor allem neunziger Jahre ergeben haben.

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Fazit

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Der sorgfältig und aufwändig gestaltete Band ist kein Reiseführer im üblichen Sinne. Das will er auch gar nicht sein, wie schon das knappe Vorwort signalisiert:

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Der vorliegende Reiseführer durch das jüdische Deutschland bietet mehr, anderes, aber auch weniger als herkömmliche Reiseführer. [...] Dieser Reiseführer setzt nicht auf touristische Erlebnisse, sondern auf historische Erfahrungen, nicht auf Breite, sondern auf Tiefe, nicht auf Schnelligkeit, sondern auf Muße. (S. 7)
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Programmatisch wird deshalb auf »griffige Informationen über preiswerte Unterkünfte, gute Lokale und schnell bewältigbare, logische Routen« (S. 7) verzichtet. Die Skepsis gegenüber einer massen- und erlebnistouristischen Verwertung deutsch-jüdischer Geschichte ist deutlich. Und Schlagworte wie »Tiefe« und »Muße« zeigen an, dass man sich hier in die Tradition einer Bildungsreise einordnet, deren Ursprünge im Prozess der Verbürgerlichung der Grand Tour am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert zu finden sind und die – statt Vergnügen, Prestige und Alltagsflucht – die Bildung des Subjekts in den Vordergrund stellt.

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Dieser Standpunkt ist es auch, der den Umgang mit den oben skizzierten doppelten Abwesenheiten der deutsch-jüdischen Geschichte steuert: Denn signifikant ist der durchweg konsequente chronologische Aufbau der Beiträge des regionalen Teils. Er sichert ab, dass die jeweils verzeichneten Leerstellen, Ruinen, Baudenkmäler, Gedenkstätten und Museen nicht isoliert, sondern als Elemente eines übergreifenden Geschichtsverlaufs wahrgenommen werden, der hier immer vollständig – von den Anfängen bis in die Gegenwart hinein – in den Blick genommen wird. Hier dominiert die Zeit den Raum, und die lokalen Gegebenheiten werden dabei – ob explizit reflektiert oder implizit im Aufbau der Artikel – immer aus einer umgreifenden historischen Perspektive heraus kommentiert, so dass auch die Shoah beständig präsent bleibt. Der Essay-Teil stützt diese integrierende Perspektive noch von einer anderen Seite aus ab. Seine überblicksartig angelegten Artikel zu allgemeinen Grundfragen und kulturellen Entwicklungstendenzen im Judentum und im deutsch-jüdischen Zusammenleben vor allem nach 1945 liefern einen Rahmen, mit dem auch diese einzelnen Regionalgeschichten in die eine deutsch-jüdische Gesamtgeschichte eingebaut werden können. Teil- und Gesamtperspektive werden hier additiv miteinander kombiniert und sollen so das ermöglichen, was mit der »historischen Erfahrung« (S. 7) als adäquater Gebrauch des Bandes anvisiert ist: die bildende Aneignung lokaler Details vor dem Hintergrund der gesamten jüdischen Geschichte und Kultur.



Anmerkungen

Barbara Honigmann: Eine Liebe aus nichts. Berlin: Rowohlt Taschenbuch 1993, S. 68, S 69.   zurück
Vgl. etwa die Beiträge in Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. (suhrkamp taschenbuch materialien 2097) Frankfur/M.: Suhrkamp 1989.   zurück
Begriff in Anlehnung an Sabine Offes Bezug auf Sigmund Freuds Modell der nicht »beruhigten Denkmäler«; Sabine Offe: Jüdische Museen. Über geschützte und ungeschützte Räume. In: transversal. Zeitschrift des Centrums für Jüdische Studien 3 (2002), Heft 1 (Sammeln und Präsentieren – Konzeptionen des Jüdischen), S. 3–17, hier S. 4.   zurück
Vgl. etwa Michael Brenner / David N. Meyers (Hg.): Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen. Ein Schloss Elmau-Symposion. (Veröffentlichungen der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München) München: C.H. Beck 2002.   zurück