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Lesen auf des Messers Schneide

Stanley Corngolds Arbeit am Schriftsteller

  • Stanley Corngold: Lambent Traces. Franz Kafka. Princeton: Princeton University Press [US] 2004. 296 S. Gebunden. USD 45,00.
    ISBN: 0691-11816-7.
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Bei kaum einem anderen modernen Autor ist das Spannungsverhältnis zwischen Zeitgebundenheit und Zeitlosigkeit seines Werks faszinierender und provozierender als bei Kafka. Nahezu jede Stelle lässt sich hier gleichermaßen mit den privatesten und ephemersten Details aus dem Leben des Autors und mit den großen Denkbildern abendländischer Kultur plausibel verknüpfen, und auch jenseits dieser Tradition erfreut sich Kafka einer regen Rezeption, deren Motive zumeist über bloßen Genuss oder gar nur philologisches Interesse hinausweisen. Eben im Bereich der philologischen Forschung erweist sich dieses Spannungsverhältnis als durchaus problematisch. Der Eigensinn des schriftstellerischen Verfahrens, das seinen Ursprung bildet, wird von einer – mit Vorliebe biographisch oder sozialhistorisch – kontextualisierenden Forschungsrichtung ebenso verfehlt wie von den umgekehrten Versuchen, das Werk mithilfe philosophischer oder theologischer Kategorien oder Paradigmen zu ›entschlüsseln‹. Mittlerweile gehören auch Vorbemerkungen wie diese zum guten Ton zeitgemäßer Kafkaphilologie; ja mehr noch, deren Selbstbeobachtung hat sich längst ihrerseits zu einem eigenen Forschungszweig entwickelt.

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Vor diesem Horizont ist ein Buch vorzustellen, das sich anschickt, »in den gegenwärtigen Stand der Kafkaforschung zu intervenieren« (S. xiii). In Lambent Traces macht sich Stanley Corngold jenseits der skizzierten Fronten, jenseits auch des Metaphernstreits um den ›Tod‹ des Autors und seine ›Wiederkehr‹ auf die Suche nach den Spuren, die der Schriftsteller Kafka in seinem Werk nicht einfach hinterlassen, sondern vielmehr kunstvoll angelegt hat.

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»Der Verzückte und der Ertrinkende – beide heben die Arme. Der erste bezeugt Eintracht, der zweite Widerstreit mit den Elementen.« Corngold verwendet Kafkas Aphorismus aus dem Jahre 1917, um den Einsatz seiner Lektüre zu verdeutlichen. Gegen den Zeittrend einer kulturwissenschaftlich informierten – oder wenigstens: inspirierten – Literaturwissenschaft, die aus Kafkas Geschichten wie aus dem Magen einer Wasserleiche lediglich gewöhnliche Inhalte herauspumpe, setzt Corngold den Ekstatiker, dem das Schreiben als Verfahren einer »konstruktiven Zerstörung« der Welt dient, als Selbstreinigung durch Selbstauslöschung (S. xiii). Und es ist gerade diese zuspitzende Vereinseitigung des Kafka’schen Vexierbildes, die ihm eine im besten Sinne unzeitgemäße Kafka-Lektüre ermöglichen wird.

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Den Ausgangspunkt bilden die Untersuchungen Walter Sokels über Kafkas Verhältnis zur Gnosis. Schon Sokel betont, dass sich Kafkas Gnostizismus keinesfalls von dem zu seinen Lebzeiten in Prag kursierenden Marcionismus herleiten ließe, dass wichtiger als alle Einflüsse »eine Strukturverwandtschaft von Kafkas Sensibilität und Imagination […] und gnostischer Denkweise« sei: 1 ein auf der Annahme zweier diametral entgegen gesetzten Welten basierender »perspektivischer Dualismus«, der durch den Glauben an die Möglichkeit des Übergangs vom verabscheuten Leben in irdischer Immanenz in eine nach höheren Gesetzen eingerichtete Welt absoluter Reinheit in Bewegung gehalten wird.

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Corngold geht hier einen entscheidenden Schritt weiter, indem er die Annahme einer Strukturverwandtschaft durch die These einer produktionsästhetischen Aneignung der ›Gnosis‹ durch den Schriftsteller Kafka ersetzt. Kafka verwendet den »Ideenkomplex Gnosis«, 2 um aus seinen Bruchstücken ein eigenes, speziell auf sein »Schriftstellersein« zugeschnittenes System zu konstruieren. Dieses genuin ästhetische System unterscheidet Corngold als »lower-case gnosticism« von der überlieferten Gnosis, dem »upper-case Gnosticism«, wobei jener als »ein Deskriptor der Kafka’schen Schreiberfahrung« aufzufassen sei (S. 8 f., 11). In manchmal größerer, manchmal geringer Entfernung (so etwa in den ›unproduktiven‹ Jahren 1917 und 1918) zum theologischen »Gnosticism« zieht sich Kafkas ästhetischer »gnosticism« als intensives Protokoll schriftstellerischer Selbsterfahrung durch sein Werk.

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Corngolds Freilegung dieser Reflexionsspur eröffnet dem Leser eine Vielzahl neuer Perspektiven auf das literarische Werk; vor allem aber lässt sie, gewissermaßen zwischen poetologischen Modellen ›souveräner Autorschaft‹ und ›diskursiver / medialer Konstitution‹ den Schriftsteller Kafka sichtbar werden, der seinerseits nichts anderes ist als jene reflexiv-intensive Bewegung, die sein Schreiben hervorbringt.

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Kafka bei sich

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»Kafkas Werk ist eine Ellipse, deren weit auseinanderliegende Brennpunkte von der mystischen Erfahrung […] einerseits, von der Erfahrung des modernen Großstadtmenschen andererseits, bestimmt ist.« Walter Benjamins These eines transzendental-empirischen Doppelfokus der literarischen Welt Franz Kafkas dient Corngold als Matrix für dessen ästhetischen Gnostizismus (S. 4). Seine bildlichen Elemente – die beiden ›Häuser‹, deren Errichtung und Einrichtung ein jeweils unvollendetes Unterfangen bleiben muss, die ihnen entsprechenden beiden Jurisdiktionen, aus denen zwei verschiedene Väter resultieren, die zwei verschiedene Söhne adressieren, sowie die beiden Tode, auf die die Schriftsteller-Existenz gerichtet ist: die erlösende Auslöschung des Selbst im Schreiben und das unerlöste Ende der physischen Existenz – entwickeln ihre volle Struktur bereits in der Periode zwischen dem Einsetzen der Notizhefte im Frühjahr 1910 und der Niederschrift des Urteils im Herbst 1912.

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Von Beginn an ist es das Schreiben selbst, das die beiden Paradigmen miteinander in Resonanz bringt, das zugleich als Verfahren und Ziel der schriftstellerischen Existenz fungiert. Wenn das Notizheft als Medium der Selbstbefragung fungieren sollte, wie es der berühmte Kometen-Vergleich vom Mai 1910 nahe legt –»Aber jeden Tag soll zumindest eine Zeile gegen mich gerichtet werden wie man die Fernrohre jetzt gegen den Kometen richtet« –, so dient dieses Verfahren keineswegs der Stärkung des fragenden Selbst. Vielmehr will dieser Vergleich beim Wort genommen werden: so wie der erwartete Halley’sche Komet auf seiner spektakulären Bahn vor den Augen des staunenden Publikums verglühen würde, so sollte Kafkas schreibendes Selbst, indem es vom Subjekt des Schreibprozesses zum Objekt einer anderen, höheren Art des Schreibens wird, mit öffentlicher Wirkung verglühen (S. 22 ff.). Und man mag es in dieser Lesart als lokale Ironie der Geschichte oder als die seherische Kraft der Tatsachen deuten, dass am Tage nach dem Spektakel die Prager Bohemia dessen Ausfall zu vermelden hatte, »da [wegen starker Bewölkung] selbst auf der Sternwarte mit dem Kometensucher vom Halleyschen Kometen keine Spur zu entdecken war«.

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Dieses Projekt, den ›gnostischen‹ Hiatus zwischen einem verwerflichen Diesseits und einem nicht rational erfahrbaren Jenseits schreibend zu überbrücken, bestimmt denn auch frühzeitig die Organisation der Notizhefte. Schon bald nach der Fernrohr-Notiz wird Kafka gleichsam als Startrampe für den Kometenflug ein zweites Notizheft für poetische Textentwürfe einführen, eine schreibtechnische Neuerung, die in jener späten Künstlergeschichte ihr ›autobiographisch‹ präzises Protokoll finden wird, in der ein Trapezkünstler sein Erstes Leid erfährt, nachdem er beschlossen hat, künftig nicht mehr an einem, sondern an zwei Trapezen zu turnen. Gleich die erste größere Übung, die später von Max Brod zu einer Handlungsfolge arrangierten Dialogfragmente der Reihe »Du, sagte ich«, verdeutlicht den Übergang von Selbstbefragung zu Selbstauflösung, von Erfahrungsprotokoll zum »wirklichen Schreiben«. In einem an die frühe Beschreibung eines Kampfes gemahnenden Dialog zwischen einem sozial etablierten Erzähler-›Ich‹ und einem Junggesellen-›Du‹ werden die apotheotische Auflösung des Selbst und der physische Kältetod als Optionen der Transgression verhandelt (S. 25–27).

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Das für Kafkas literarische Welt(en) grundlegende Verfahren der theatralen Verkörperung und Inszenierung innerpsychischer Kräfte und Agenten ermöglicht hier das Heraustreiben literarischen Schreibens aus dem Selbstbefragungs-Protokoll des Tagebuchs, und es weist voraus auf jenes gleichermaßen mystische wie mythische Schreiberlebnis, das sich mit der Verfertigung des Urteils in der Nacht vom 22. zum 23. September 1912 verbindet.

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Die bildliche Ausstattung des ästhetischen Gnostizismus ist hier voll entwickelt, das Theater der schriftstellerischen Existenz gelangt hier zu einer frühen – und später nie mehr erreichten – Perfektion. Mittlerweile hat Kafka sich intensiv mit dem jiddischen Jargontheater der Lemberger Schauspielertruppe um Jizchak Löwy auseinandergesetzt, die 1911 und 1912 in Prag gastierte; zudem ist sein zu Beginn des Jahres mit sich selbst vereinbartes Schriftsteller-Zölibat (»Jedenfalls darf ich aber dem nicht nachweinen, daß ich keine Geliebte ertragen kann« 3 ) durch die beginnende Korrespondenz mit Felice Bauer einer ernsten Bewährungsprobe ausgesetzt.

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Corngold führt nun in einer brillanten Analyse voller neuer Einsichten über die Dynamik und Logik des Handlungsverlaufs vor, wie Kafka die »leeren Räume der Familienkonversation« gleichsam als den Jargon seines höchstpersönlichen Jargontheaters verwendet, und wie er auf dieser Bühne den Vater-Sohn-Konflikt als »Wettstreit um die Macht, Metaphern zu prägen«, inszeniert (S. 28 f.). Seinen Wendepunkt erreicht dieser Wettstreit eben in jenem Moment intensivster Selbstbezüglichkeit der Geschichte, in der der gebrechliche Vater den Sohn fragt, ob er denn ›gut zugedeckt‹ sei, um sich ihm im selben Moment als jener archaische Vater zu ›entdecken‹, der sich im Widerstreit zwischen Verlobung und Freundschaft auf die Seite des in russischer Einsamkeit lebenden Freundes schlägt, mithin das immanente Gesetz der familialen Reproduktion durch das transzendente Gesetz des Schreibens ersetzt. Mit Georg, der sich nach dem Urteil des archaischen Vaters in den Fluss stürzt und dessen Tod wie häufig bei Kafka an der Grenze zum Selbstmord liegt, wird lediglich das bürgerlich-familiäre Selbst des Schreibers Kafka ausgelöscht, und es ist eben diese Auslöschung, die die Geburt des Schriftstellers Kafka auslöst:

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durch seinen Tod wird Kafka, der Junggeselle, der wahre Sohn seines Vaters, in den Verkehrsstrom des literarischen Renommees eintreten. Das ist die Bedeutung jenes ›unendlichen Verkehrs‹, der [im Moment seines Falls] über die Brücke fließt. […] Es ist die Bestätigung der schriftstellerischen Verheißung Kafkas als Verheißung kultureller Unsterblichkeit. Eine gnostische [gnostic] Wahrheit verbirgt sich in einem gnostischen [Gnostic] Text. (S. 35)
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Walter Sokel, dessen Arbeiten Corngolds Buch viel verdankt und dem es auch gewidmet ist, hat in seiner großen Kafka-Monographie Tragik und Ironie die Beschreibung eines Kampfes als den frühesten Entwurf der mythischen Autobiographie des Schriftstellers bezeichnet. In Lambent Traces wird deutlich, weshalb diese Datierung fehlgeht, weshalb, mit anderen Worten, die poetologische Diskontinuität zwischen dem Urteil und allen früheren Texten Kafkas stärker zu betonen ist, als Sokels These es nahe legt. Erst mit dem Urteil verfügt Kafka über jene Schreibweise, die auf faszinierende Weise zwischen Rätsel und Allegorie oszilliert, zwischen dem Bezug auf höchst persönliche Lebensumstände einerseits und auf jene der Erscheinungswelt entzogenen Dinge, die die Sprache nur andeutungsweise zu erfassen vermag, andererseits.

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In den folgenden Kapiteln gelingt es Corngold, seine These eines ästhetischen Gnostizismus bei Kafka weiter anzureichern und zu plausibilisieren, wobei er wiederum eine Vielzahl verblüffender neuer Einsichten über die innere Logik der Kafka’schen Geschichten sowie über ihren Zusammenhang untereinander zutage fördert. Kafkas Lebensrätsel besteht in seiner Unterworfenheit unter eine doppelte Vaterschaft (S. 38), deren beide Pole niemals vollständig voneinander getrennt werden können. In der Verwandlung, deren komplementäre Stellung zum Urteil bereits unter verschiedenen Gesichtspunkten bemerkt worden ist, behält der andere, diesseitige Vater die Oberhand, und Gregor Samsa, den diesmal ein starkes Verlangen nach ästhetischer Erfahrung (das Musikspiel seiner Schwester) kennzeichnet, stirbt folglich den glanzlosen Tod einer aufs Biologische reduzierten Existenz.

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Zwei Jahre später entfaltet Kafka im Process die Problematik der »unzweifelhaften Schuld«, die aus der doppelten und widersprüchlichen Gesetzgebung resultiert, der Kafka / K. unterworfen ist. Hier führt Corngold Malcolm Pasleys Untersuchung zur Selbsteinschreibung des Produktionsprozesses in die Geschichte unter dem Begriff der »Interventionen aus dem Archiv« weiter, indem er die Faksimile-Ausgabe des Stroemfeld-Verlags als Grundlage für eine subtile Verbindung textgenetischer und semiologischer Analysen verwendet. Seine Freilegung des Verhaftungs-Kapitels als Inszenierung des Dramas eines Lebens unter den beiden einander ausschließenden Gesetzen des Schreibens und der Familie (S. 56–66) gehört zu den glänzendsten Seiten des Buches.

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Kafka bei uns

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Der erste und letzte Referenzpunkt der Literatur Franz Kafkas ist das ihr eingeschriebene Drama ihrer Entstehung, der erste und letzte Referenzpunkt des Schreibenden das (unvollendete) Drama seiner schriftstellerischen Existenz. Hinter diese in den Texten bisweilen glimmende, bisweilen flackernde ›autopoietische Spur‹, darauf beharrt Corngold in den letzten Kapiteln seines Buches, kann keine Kafka-Lektüre zurück.

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Als einflussreiches Beispiel eines solchen Zurückfallens oder Zurückbleibens liest Corngold Adornos Aufzeichnungen zu Kafka. Da Adorno in seiner Benjamin folgenden Abkehr von einer theologischen Lektüre das Kind des »gnosticism« mit dem Bade des »Gnosticism« ausschüttet, bleibt bei ihm Kafka »als reflexives Medium des Schreibaktes abwesend« (S. 170). Stattdessen erscheinen seine »parabolischen Figuren«, jeder Selbstbezüglichkeit beraubt, »als Chiffren der modernen Klassengeschichte des Warenverhältnisses« (S. 160). Wenn Adorno, dessen Aufzeichnungen der Zivilisationsbruch des deutschen Nationalsozialismus von Benjamins großem Essay zu Kafkas zehntem Todestag trennt, in Kafka lediglich denjenigen zu sehen scheint, der »das Licht wirft, das die Hölle sichtbar werden lässt«, so verkürzt er ihn eben um jenes andere Licht, welches »im Geschöpf erzeugt und durch die ›konstruktive Zerstörung‹ [des Selbst] befreit« wird und das, »durch den höchst besonderen Akt des fiktionalen Schreibens«, »auf sein Gesicht zurückgeworfen wird« (S. 175).

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Im letzten Kapitel seines Buches (»The Trouble with Cultural Studies«) konfrontiert Corngold die gegenwärtig produktivste Branche der Kafkaforschung mit den Konsequenzen seiner Kafka-Lektüre. Das verständliche Bestreben der Cultural Studies, ihrem posthistorischen Basar historischer Gegenstände durch die Namen und Bilder ›großer Autoren‹ höhere Aufmerksamkeitsanteile zu verschaffen, wird hier nachdrücklich zurückgewiesen. Denn unabhängig davon, ob der in einer Variante der bekannten Diagnose Adornos zum Auskunftsbüro nicht der ewigen oder der heutigen, sondern der ›damaligen‹ Zeit erniedrigte Kafka diese Erwartung erfüllt oder nicht, kann die zeitlose posthistorische Moral, so Corngold, ihn nicht anders lesen als mit Ressentiment. So könne auch eine subtile Untersuchung wie Elizabeth Boas Franz Kafka: Gender, Class, and Race in the Letters and Fictions Kafkas (schon im Titel der Schwelle zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten beraubtes) Werk letztlich nur als Zeugnis einer (antifeministischen) »kulturell konstruierten Körpersprache« (Boa, Zitat nach S. 197) auswerten.

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Eine Zuspitzung erfährt solches Ressentiment in den Arbeiten Sander Gilmans. Hatte dieser Kafka zunächst als Beispiel eines die eigene kulturelle Identität negierenden beziehungsweise verbergenden »jüdischen Selbsthasses« gelesen, 4 so sucht er in Kafka, the Jewish Patient in Kafkas Werk nach jenen Spuren des antisemitischen Diskurses der Zeit, die Kafka nicht zu »maskieren und auslöschen« (zitiert nach S. 199) vermocht hatte. Das Opfer des Antisemitismus wird, so folgert Corngold, in dieser Lesart zum (Mit)täter:

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Kafkas Opferstatus scheint nun erklärt – ja beinahe ›verdient‹ – durch seine Bereitschaft, diesen Diskurs zu verbergen. […] In gewisser Weise legt Gilman damit nahe, dass die europäischen Juden eher in der Lage gewesen wären, sich gegen ihre Vernichtung zu Wehr zu setzen, wenn sie sich nicht in den Hochmodernismus oder eine auch für Nicht-Literaten zugängliche Variante dieser Option geflüchtet hätten. (S. 200)
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Immerhin demonstriert dieser Einspruch gegen eine politische Vereinnahmung des Ästhetischen hier einmal mehr die Unmöglichkeit, das Ästhetische umgekehrt aus seiner politischen ›Verstrickung‹ zu befreien.

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Kafka auf des
Messers Schneide

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»Auf dieses Messers Schneide leben wir. […] Das einzig zweifellose Gesetz, das uns auferlegt ist, ist der Adel und um dieses einzige Gesetz sollten wir uns selbst bringen wollen?«, endet Kafkas berühmter Kommentar Zur Frage der Gesetze. Corngold liest Kafka präzise dort, wo sich sein Schreiben vollzieht: auf des Messers Schneide zwischen dem sinnlicher Erfahrung entzogenen Gesetz einer höheren Welt und seinen irdischen Trugbildern und betrügerischen Agenten, am Schnittpunkt zwischen liminaler Erfahrung und Medientechnik. Aus dem Dickicht einer in alle Richtungen wuchernden Forschung, aus dem ›Kafka‹ bisweilen als entzauberter Golem hervorzulugen schien, dessen Körper bloß Träger der Eindrucks- und Einfluss-Spuren seiner Zeit und der darüber gesprühten Graffiti der unseren ist, befreit Corngold den Schriftsteller, legt er die Nahtstelle zwischen schreibendem Individuum und Geschriebenem frei, auf die Kafka selbst seine ganze Existenz gesetzt hat.

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Corngold umschreitet Kafkas Geschichten mit einer Sorgfalt, die an die Sorgfalt gemahnt, mit der Kafka sein Urteil in den der Niederschrift folgenden Notizen und Briefen umschritten hat. Nicht aus der zeitgemäßen Proliferation von Bezügen auf den Werkkontext, sondern aus der methodischen Beschränkung auf einige für Kafkas schriftstellerische (Selbst)bestimmung grundlegenden Textstellen, die unter wechselnden Gesichtspunkten zum Sprechen gebracht werden, resultiert die Bewegung dieser Kafka-Lektüre.

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Abgesehen von ihrem Reichtum an verblüffenden Detailbeobachtungen ist ihr Gewinn für die Forschung ein zweifacher: zum einen bietet Lambent Traces eine Kafka-Lesart an, die die Aphorismen mit den Erzähltexten integriert, ohne die eine oder andere Seite gewaltsam zuzurichten. Zum anderen wird, gewissermaßen als primus inter pares, im Gewimmel der allusiven Bezüge des Kafka’schen Werks, die ihm eingeschriebene Spur der Reflexionen und Erlebnisse sichtbar, die Kafka mit der Hervorbringung wie mit der Rezeption seiner Literatur verbindet. Und wenn man hier, mit einem späten K.-Protagonisten, einwenden mag, dass die Hauptnahrungsquelle der Hunde doch die Boden- und nicht die Luftnahrung sei, so ist auch dies kein Auftrag für die eingangs verworfene Untersuchung der Analyse von Mageninhalten, sondern nur eine weitere Erinnerung an das ästhetische Programm, das Kafkas Werk (ver)birgt.



Anmerkungen

Walter H. Sokel: Zwischen Gnosis und Jehovah. Zur Religions-Problematik Franz Kafkas. In: Wilhelm Emrich / Bernd Goldmann (Hg.): Franz Kafka. Mainz 1983, S. 48.   zurück
Walter Köhler: Die Gnosis (Religionsgeschichtliche Volksbücher, hg. von Michael Schiele, IV. Reihe, 16. Heft) Tübingen 1911, S. 55.   zurück
Franz Kafka: Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt / Main 1990, S. 341.   zurück
Sander Gilman: Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Frankfurt / Main 1993   zurück