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Der ewige Sohn schreibt

  • Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie. München: C. H. Beck 2005. 763 S. 43 Abb. Leinen. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 3-406-53441-4.
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Ein dünnes Buch.
Christian Schärf:
Poetischer Text und heilige Schrift

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Vor gar nicht allzu langer Zeit merkte Waldemar Fromm in seiner Rezension zu Christian Schärfs Buch »Poetischer Text und heilige Schrift« 1 einen »Trend zur Kürze« in der Kafka-Forschung kritisch an. Er zeigte sich darüber verwundert, zumal man bei einem Autor wie Kafka ausufernde Beiträge zu einer ausufernden Forschung zu erwarten hätte; stattdessen liefere der Trend, so Fromm, »übersichtliche Arbeiten mit einem noch übersichtlicheren Literaturverzeichnis«. 2

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Will man das vorliegende Buch dagegen halten, so könnte man von einer sehr deutlichen Trendwende sprechen. Peter-André Alt hat – nach seinem zweibändigen Schiller-Buch – abermals ein dickes Buch, abermals eine Biographie geschrieben, die immerhin 762 Seiten umfasst. Das Bemerkenswerte aber ist – und das führt direkt in die Auseinandersetzung mit Alts Buch –, dass es im Grunde genommen einen ganz ähnlichen Gedanken über Kafka formuliert, wie dies schon 6 Jahre zuvor Christian Schärf (aber nicht nur er) mit seinem dünnen Buch getan hatte.

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Es geht – und wie könnte es anders sein in der Kafka-Forschung – um einen Schlüssel zu Kafkas Werk. Die Geschichte der Kafka-Forschung lässt sich überhaupt als Geschichte einer solchen Suche nach dem Schlüssel beschreiben und historisch rekonstruieren. Was nun Schärfs Buch seinerzeit als doch relativ innovativ auszeichnete, war ein neues Paradigma in dieser Suche, eine geradezu grundlegende Veränderung des Suchparameters. Lange Zeit bestand die Suche nach jenem Schlüssel, der Kafkas Werk seinem Leser aufschließt, darin, in einer relativ naiven Form interpretatorischer Identifikation biographische, ideologische, philosophische, psychologische Hintergründe auf die Texte zu projizieren. So hat man Kafkas Texte zu verstehen versucht, indem man sie als Verschlüsselungen gelesen hat, bewusste oder unbewusste, explizite oder implizite. Man hat seine Texte autobiographisch, existenziell, existenzialanalytisch, psychoanalytisch, phänomenologisch (und die Reihe dieser so verstandenen Lesarten ließe sich fortsetzen) gelesen. 3 Dass solche Suchbewegungen heute nicht mehr state of the art sind, dass sie auch seinerzeit nicht die ›Avantgarde‹ der Kafka-Forschung repräsentierten, versteht sich von selbst. Aber dass sie lange Zeit sehr attraktiv waren und in die Breite gewirkt haben, kann man wohl nicht abstreiten. 4 Mit der Zeit sind solche Strukturen selbst wiederum zu einer Vorgabe für die Kafka-Forschung geworden, indem man untersucht, was man über jene Texte herausfinden kann, die zu solchen Interpretationsanstrengungen führen.

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Das neue Paradigma:
Schreiben als wechselseitige Transformation
von Leben ins Werk und umgekehrt

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Das neue Paradigma, das Schärf vorgeschlagen hat, bestand nun darin, von solchen Interpretationen abzusehen und stattdessen auf den konstitutiven Schreibprozess selbst zu achten, der nunmehr eine solche Schlüsselfunktion zugesprochen bekam.

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Schärf war nicht der Einzige, der diese Richtung eingeschlagen hat. Auch Detlef Kremer beispielsweise hat mit seiner Arbeit mit dem programmatischen Titel Erotik des Schreibens 5 den Fokus darauf gerichtet. Bei beiden Forschern wird klar, dass sich diese Blickrichtung am schärfsten von einer Autorenphilologie entfernt, die sich auf den Zusammenhang von Leben und Werk konzentriert, aber auch, dass sie zu den pointiertesten Alternativen einer solchen Betrachtungsweise führen muss. Das Schreiben wird als eine Verknüpfung von Leben und Werk gesehen, die nicht mehr auf biographische Entsprechungen, sondern auf das verbindende Element des Schreibens in seiner prozessualen Qualität achtet, das Leben und Werk nicht mehr als wechselseitige Repräsentationsinstanzen, sondern als Elemente in einem permanent oszillierenden Wechselverhältnis, in einem Verhältnis permanenter wechselseitiger Transformation sieht, aus dem Literatur hervorgeht. Programmatisch heißt es bei Kremer:

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Kafka hat seinen Begriff vom Leben so eingerichtet, dass etwa auch ›Forschung‹ oder ›Schrift‹ oder ›Eros‹ die Subjektstelle dieses Satzes einnehmen könnten. […] Schrift ist eine fortwährende Ablenkung, ohne feststellen zu können, wovon sie ablenkt. Die Substitution von ›Leben‹, ›Forschung‹, ›Schrift‹ usw. gelingt nahtlos, weil sie nur inhaltliche Variationen der formalen Definition von Prozeßhaftigkeit bedeuten. (S.78)
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Und dieser Transformationsmechanismus ist der Schlüssel, den Schärf präsentiert:

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Kafka, der nur schreibend existieren konnte, der sein Leben auf eine körperliche Art und Weise in Schrift verwandeln wollte, konnte die Intentionen des Autors gar nicht von der Eigendynamik des Schreibens trennen, selbst wenn er gewollt hätte. (S.32)
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Natürlich sind auch solche Konzeptionen nicht vom Himmel gefallen. Es ist kein Wunder, dass die Editionsphilologie, zumal im Kontext der Kritischen Ausgabe der Tagebücher und Schriften, herausgegeben von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit 6 , und im Kontext der Historisch-Kritischen Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, herausgegeben von Roland Reuss u. Peter Staengle 7 , genau diese Form der Textgenese als Schaffensprozess weitgehend aufgedeckt hat. Damit wurde ein Einblick möglich, wie der Schreibprozess selbst nicht nur in materieller, sondern auch in konzeptioneller Hinsicht bedeutsam, ja geradezu konstitutiv für das Geschriebene wurde.

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Ein dickes Buch.
Die Kafka-Biographie von Reiner Stach:
Kafka. Die Jahre der Entscheidungen

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So sehr nun der neue Blick auf Kafkas wechselseitigen Transformationsmechanismus von Leben in Werk und Werk in Leben der philologischen Arbeit und in Ansätzen auch der Interpretation neue Impulse gegeben hat, so komplex muss sich dies in der biographischen Forschung auswirken. Anders als bei der Textinterpretation steht hier doch die Biographie im Mittelpunkt. Es stellt sich die Frage, wie man gerade in diesem Bereich von einer reinen Gegenüberstellung von Leben und Werk wegkommen kann. Darauf gibt Alts Buch eine imposante Antwort.

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Dass ist umso beeindruckender, als die biographische Forschung zu Kafka auf besondere Voraussetzungen stößt. Gemessen an Kafkas literarischer Bedeutung, ist – oder soll man sagen: war – die biographische Forschung nicht besonders ausgeprägt. Es gibt eine Reihe von Biographien, angefangen von der von Max Brod 8 , die aber am wenigstens unbefangen ist. Als sich Reiner Stach im Jahre 2002 daran machte, den ersten Band seiner auf drei Bände angelegten und in diesem Umfang bislang einzigartigen Biographie zu positionieren, konnte er noch festhalten: »Die große Biographie Franz Kafkas existiert nicht.« 9 Diese Biographie stellte sich als erste umfassende Lebensbeschreibung dar. Erschienen ist bislang nur der erste Band, der– so auch sein Titel – Die Jahre der Entscheidungen von 1910 bis 1915 behandeln. Bände zur Jugendzeit und zur späteren Zeit bis zum Tode sollen folgen.

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Dass dieser zuerst erschienene Band diese mittleren Jahre behandelt, hänge, so Stach, vor allem mit der Quellenlage zusammen, die für diese Zeit gut erschlossen sei, wohingegen für die anderen Zeiten erst in Zukunft bessere Einblicke, zum Beispiel dann, wenn der Nachlass von Max Brod zugänglich sein wird, möglich würden. Entscheidend sind die mittleren Jahre, weil in dieser Zeit der literarische Durchbruch, insbesondere ab dem Urteil 1912, erfolgt. Entscheidend für das Leben ist natürlich die Literatur. Man kann durchaus die Hypothese wagen, dass die biographische Situation deswegen nicht der Bedeutung der Person entspricht, weil das Leben zu wenig interessant gewesen sei, sondern weil dieses Leben zu einem großen Teil in der Literatur verschwindet und in jedem Fall auch von der Literatur aus gesehen werden muss.

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Alt zwischen Schärf und Stach

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Was immer das heißen mag: »die große Kafka-Biographie« – an keiner Stelle jedenfalls erhebt Alts Buch diesen Anspruch, und könnte es doch – so meint der Rezensent – tun. In jedem Fall ist es eine große Kafka-Biographie. Es ist schwer einzusehen, ob jener Umstand, der ein Voranschreiten des biographischen Projekts von Reiner Stach bislang aufgehalten hat, die Unzugänglichkeit neuer Materialien, für die Idee einer großen Kafka-Biographie wirklich so maßgeblich ist. Denn man muss sich ja fragen, was wohl dieses Material zutage fördern kann, was dann wiederum wesentliche Korrekturen an einer solchen Biographie erforderlich machen würde. Es steht ohnehin zu vermuten, dass neues Material das Bild vielleicht verfeinern, wohl kaum aber wesentlich verändern wird. Dass in einigen Jahren Alts Biographie überholt sein könnte, steht nicht zu befürchten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass dieses Buch – ob vom Autor gewollt oder nicht – sich ohnehin die Position als die Kafka-Biographie erobern wird, zumal wenn in absehbarer Zeit vielleicht auch eine preisgünstige Sonderausgabe (wie im Falle von Hermann Kurzkes Thomas-Mann-Biographie aus demselben Verlag) oder ein Taschenbuch folgen wird.

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Die vorliegende Biographie ist nach heutigen Möglichkeiten geradezu mustergültig fundiert. Sie greift souverän auf all das Material zurück, das überhaupt zugänglich ist. Aber vor allem eines ist entscheidend und zeichnet diese Biographie in besonderer Weise aus: Gerade vor dem Hintergrund der spezifischen Situation, wie er durch den für Kafka typischen Zusammenhang von Leben und Werk gegeben ist, kann es in einer solchen Biographie nicht mehr nur um eine Aufbereitung dieses Materials gehen.

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Blickt man auf das, was Stach zur Situation der biographischen Forschung bei Kafka gesagt hat, und auf das, was Schärf als neuen Suchparameter für die Kafka-Philologie vorgeschlagen hat, so lässt sich daraus eine Bedingung ableiten, die eine Kafka-Biographie heutzutage unabdingbar erfüllen muss. Eine solche Biographie muss das Leben so beschreiben, dass sie das Leben genau in diesem wechselseitigen Transformationsmechanismus von Leben in Werk und vice versa verorten kann und in ihrer Darstellung für den Leser daraus hervorgehen lässt. Und genau dies leistet Alts Biographie auf eine sehr beeindruckende und zudem auch narrativ sehr ansprechende und spannende Art und Weise. Ob diese Leistung dazu angetan ist, aus dieser Biographie die Biographie zu machen, kann dann getrost dahingestellt bleiben.

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Auch Alt ist in seiner Biographie mit dem Missverhältnis eines relativ unspektakulären Lebens und eines absolut spektakulären literarischen Werkes konfrontiert. Alt schafft es, in seiner Biographie die Durchdringung von Leben und Werk, ja mehr noch, die Selbstvermittlung des eigenen Lebens durch die eigene Biographie im Falle Kafkas zu erfassen. Die Literatur ist damit nicht nur das Andere des Lebens oder auch nur der wichtigste Lebensbereich eines Autors, sondern die Literatur ist ein Medium, durch das sich das Leben vermittelt, in erster Linie an den Autor selbst. Dass also im Falle Kafkas die letzten beiden großen Biographien von Literaturwissenschaftlern, von Forschern, die die Kompetenz besitzen, Literatur zu interpretieren, geschrieben wurden, erscheint geradezu als Zwangsläufigkeit. Für Alt gilt dies noch im besonderen Maße, weil er seine Biographie gänzlich auf diese Selbstvermittlung, auf diesen Transformationsmechanismus stützt, den Schärf im Prinzip des Schreibens ausfindig gemacht hat. Alts Biographie steht damit zwischen Schärf und Stach, sie steht zwischen Philologie und Biographik, genauer zwischen den neuen Parametern in der Philologie, wie sie Schärf formuliert hat, und den neuen Parametern in der Biographik, wie sie Stach formuliert hat, und gewinnt so den innovativen, bisherige Philologie und Biographik übergreifenden Charakter, der sie auszeichnet.

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Der ewige Sohn

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Alts Biographie trägt den Untertitel »Der ewige Sohn«. Diese Formel bezeichnet jedoch viel mehr als nur eine biographische Charakterisierung, wie bedeutsam sie auch immer für Kafkas Leben gewesen sein mag. Mit dieser Formel vom ewigen Sohn ist ein biographisches Faktum benannt, das Alt zugleich als konstitutive Werkstruktur identifiziert, ein »Lebensprinzip« also, »das Kafkas künstlerische Identität ebenso wie sein – von ihm selbst so empfundenes – Scheitern in der praktischen Wirklichkeit begründet« (S.15). In der Formel vom ewigen Sohn hat Alt – so könnte man prägnant sagen – den biographischen Schlüssel gefunden, der nicht nur das Werk aufschließt, sondern gleichzeitig deutlich macht, dass das Leben nur auf der Basis seiner von der Literatur vorgegebenen Muster vollständig durchschaut werden kann. Man könnte noch weiter gehen und sagen, dass in dieser Formel wiederum der Schlüssel steckt, der dem Leser die vorliegende Biographie erschließt, besser gesagt: die ihm hilft, diese Biographie zwischen der literaturwissenschaftlichen Konzentration auf das Werk und der biographischen Konzentration auf das Leben zu situieren. Diese Formel ist die Formel, welche die für Kafkas Werk und damit auch für sein Leben konstitutive Einheit von Werk und Leben zum Ausdruck bringt. Es ist im Grunde die Idee des lebens- und werkkonstitutiven Schreibens, wie sie von Schärf oder Kremer herrührt in ihrer biographischen Verdichtung. Überführt man diese Idee des Schreiben in den Bereich der Biographik, so erhält man genau die Formel: »Der ewige Sohn«.

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»Der Ich-Entwurf des ›ewigen Sohnes‹«, heißt es bei Alt, »ist daher das Geheimnis der Künstlerpsychologie, die Kafkas Schreiben grundiert.« (S.15) So macht Alt darauf aufmerksam, dass Kafkas Literatur vielfach vorwegnimmt, was sich in seiner Biographie ereignet und nennt als ein Beispiel die derbe Ablehnung der Verlobten durch den Vater des Bräutigams und Sohnes in der Erzählung Das Urteil, die sich später im Fall von Kafkas zweiter Verlobter (und dritter Verlobung mit) Julie Wohryzek wiederholen wird (S.530). Auf diese Weise wird jedenfalls das Werk nicht nur zum Interpretament der Biographie, sondern auch umgekehrt kann das biographische Muster die Texte erschließen helfen: »Nicht zuletzt wird in der Rolle des Sohnes die Logik seiner Texte deutlich […].«(S.15)

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Eine der vielen treffenden Formulierungen bei Alt lautet in geradezu programmatischer Deutlichkeit: »Das Leben funktioniert vielmehr selbst wie eine literarische Fiktion, weil es deren Dramaturgie und Inszenierungskunst gehorcht.« (S.17) Leben und Werk rückt Alt daher in seiner Biographie in eine »konstruktive Beziehung«: Er will nicht das eine aus dem anderen verstehen, dennoch konstatiert er:

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Kafkas Biographie zeigt, daß es [sein Leben; O.J.] sich der Literatur unterwerfen kann, indem es ihre Motivierungen und Bilder, ihre Sprünge, Widerstände, Stockungen und Verwerfungen, ihre Ekstasen, Glücksmomente und Grenzüberschreitungen, ihr Pathos und ihre Energie, ihre Schocks und Ausbrüche, Komödien und Vexierspiele in sich aufnimmt. (ebd.)
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Und entsprechend hält auch Alt fest, dass Schreiben und Schrift Leben und Werk miteinander verknüpfen: »Im prozeßhaften Medium der Schrift, nicht in der konkreten Gestalt eines Werks hat Kafka seine künstlerische Identität ausgebildet.« (S.17) Aber das bedeutet wiederum, dass man die Literatur Kafkas nicht angemessen interpretieren kann, wenn man nicht jenen konstitutiven Urgrund beleuchtet, aus dem sie hervorgeht, nämlich genau diese Identifikation von Leben und Literatur in der Schrift, die sich im Jahre 1912 ebenso eruptiv wie beispielgebend vollzieht und die biographische und literaturwissenschaftlich-interpretatorische Fragen aufeinander bezieht.

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Lebensbeschreibung und Literaturinterpretation

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Zugleich liegt darin das Bauprinzip der vorliegenden Biographie. Es sind zwanzig Kapitel, die zwar insgesamt selbstredend chronologisch geordnet sind, die aber jeweils bestimmte Zeiten abdecken, die sich auch von Kapitel zu Kapitel überschneiden. Die einzelnen Kapitel gewinnen dadurch eine gewisse Unabhängigkeit, was es dem Autor erlaubt, nicht nur einzelne kulturhistorische Schwerpunkte zu setzen, sondern auch, Lebensbeschreibung und Literaturinterpretation jeweils zu ihrem Eigenrecht kommen zu lassen und dennoch miteinander zu verknüpfen und somit der Programmatik des eigenen Unternehmens gerecht zu werden.

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Das Jahr 1912, Kafkas wichtigstes Jahr, das Jahr, in dem die beiden Erzählungen Das Urteil und Die Verwandlung entstehen, das Jahr, in dem Kafka seinen literarischen Durchbruch in seiner Selbsteinschätzung erlebt, wird gleich in sechs der zwanzig Kapitel berücksichtigt. Damit wird ganz zu Recht zum Ausdruck gebracht, wie wichtig diese Umbruchszeit für die Schriftstellerbiographie ist. Dass Alt hier allerdings die beiden Erzählungen in seinen Interpretationen in einem einzigen Kapitel zusammenfasst, dass er sie eher ihrem Umfang als ihrer Bedeutung für Kafka entsprechend relativ kurz abhandelt, ist nicht ganz nachvollziehbar. Wenigstens der Erzählung Das Urteil hätte man hier breiteren Raum einräumen müssen, nicht nur wegen ihrer biographischen Bedeutung, sondern auch deswegen, weil mit dieser Erzählung auf geradezu paradigmatische Weise jene Transformation von Leben in Werk und umgekehrt zum Tragen kommt.

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Wie nirgendwo sonst ist dieser Text – Das Urteil – eingebettet in eine umfassende, gattungsübergreifende Textproduktion, in den Versuch Kafkas, sein eigenes Leben schreibend einzuholen, zwischen Tagebuch, literarischem Text, der zuerst im Tagebuch niedergeschrieben wird, und den Briefen an Felice, wobei Tagebuch und die Briefe an Felice sofort, geradezu augenblicklich nach der Niederschrift mit einer Selbstinterpretation fortsetzen, die gleichzeitig wiederum den Text in Leben transformiert. Natürlich kommen in Alts Biographie all jene für diesen Zusammenhang symptomatischen Begleitumstände, die Niederschrift der Erzählung in einer einzigen Nacht (vom 22. auf den 23. September 1912) und vor allem die fast schon poetologische Selbstcharakterisierung des Schreibens (»Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele«, heißt es im Tagebuch unmittelbar nach der Niederschrift) zur Sprache.

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Aber hier scheint die Formel vom ewigen Sohn nicht durchgängig zu greifen; hier wird sie auf den biographischen Hintergrund deutlich stärker als sonst in diesem Buch eingegrenzt, obschon hier doch die intensivsten Wechselwirkungen zwischen Leben und Werk zu holen gewesen wäre. In jedem Fall hätte aber insbesondere das Urteil (aber auch Die Verwandlung) eine umfassendere Interpretation verdient.

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Das zeigen andere Kapitel, gegenüber denen dieses neunte Kapitel zu den beiden Erzählungen abfällt, z.B. das Kapitel zum Proceß. Dass die Gerichtsmetapher, die Kafka in seinem Roman Der Proceß 1914 umfassend literarisch ausfalten wird, aus seiner Wahrnehmung der desaströsen verlobungs- und Entlobungsgeschichte mit Felice Bauer stammt, ist natürlich hinlänglich bekannt, spätestens seit der Veröffentlichung der Briefe an Felice oder seit Eilas Canettis wunderbarem Buch mit dem bezeichnenden Titel Der andere Prozeß 10 . Dennoch kann Alts Biographie hier ihre Stärke ausspielen, weil sie nicht nur eine Fülle biographischer Umstände rekonstruiert, sondern mit dieser Rekonstruktion geradezu die biographische Vorgeschichte zur literarischen Geschichte liefert.

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Das gelingt auch deswegen so gut, weil Alt nicht nur ein ausgezeichneter Literaturwissenschaftler, sondern auch ein hervorragender Erzähler ist. Und auch auf diesem Gebiet kann Alt ein Potenzial aktualisieren und in seiner Biographie erzählerisch umsetzen, das in der Formel vom ewigen Sohn begründet liegt, ist sie doch selbst schon die Keimzelle eines biographischen Narrativs. Aus Alts Biographie kann man, deutlicher vielleicht als aus allen anderen biographischen Unternehmungen zu Kafka, über die psychologischen ebenso wie über die kulturellen Voraussetzungen des Werkes (so z.B. über die Ethnologie und Soziologie über die Vielvölkergesellschaft Prags, über die Psychoanalyse und den Zionismus, über Naturheilkunde, über Strömungen des jüdischen Geistes- und Kulturlebens und selbstverständlich über den Literaturbetrieb der europäischen Moderne) lernen.

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Diese Passagen sind informativ und spannend, weil die Kontexte nicht einfach nur als mehr oder weniger heuristisch interessante Hintergründe rekonstruiert werden, sondern selbst in jenen erzählerischen Prozess eingebunden sind, aus dem die Bedeutung für Kafkas Leben und – über diese transformatorische Relaisstation – für sein Werk hervorgeht. Alle Interpretationen sind in diese Strukturen eingebettet, und es finden sich Interpretationen zu allen wichtigen Texten Kafkas, selbstverständlich zu den drei Romanen Der Verschollene (Amerika), Der Proceß und Das Schloß. Allerdings können Interpretation in dieser Verquickung und in diesem biographischen Zusammenhang nicht den systematischen Charakter haben, wie man sie z.B. in dem Band mit Interpretationen des Reclam-Verlages finden kann. 11

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Fazit

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Und so bleibt eine kritische Nachfrage, die sich an den in dieser Biographie eingebetteten Interpretationen entzündet. Dass dieser Band ausgezeichnete Interpretationen enthält, steht außer Frage. Ja, dass eine Biographie überhaupt in diesem Umfang das Werk interpretatorisch berücksichtigen kann, ist außergewöhnlich und jedem Fall auf die Personalunion von Biograph und Literaturwissenschaftler in der Person des Autors und auf die Programmatik der Formel vom ewigen Sohn zurückzuführen. Der Band steht und fällt mit seiner zentralen Formel, die sein Leitmotiv und sein Strukturmuster vorgibt, und zwar gerade dort, wo mit dieser Formel Texte interpretiert werden. Kritisch ist zu fragen, wie tragfähig denn diese Formel in der Tat ist. Dass man in dieser Formel die Verknüpfung von Leben und Werk im Schreiben zum Ausdruck bringen kann, das hat Alt unter Beweis gestellt.

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Da diese Formel aber eine biographische Formel ist, muss die Frage sich also vor allem auf die Behandlung des Werkes, also auf die Interpretationen beziehen. Im Verlauf von Alts Erzählung wird diese Formel seltener, wobei sie schon von Beginn an zwar deutlich akzentuiert, aber nicht penetrant eingesetzt oder gar überstrapaziert wird. Das versteht sich von selbst, weil in den späteren Jahren Kafkas Emanzipation von der Familie dann doch noch gewisse Fortschritte gemacht hat, auch wenn er seinen berühmten Brief an den Vater erst 1919, fünf Jahre vor seinem Tod, schreibt. Aber gerade ein solcher Umstand zeigt die Stärken und Schwächen dieser Formel vom ewigen Sohn. Die Frage, ob denn die gesamte Biographie unter diese Perspektive gestellt werden kann, erübrigt sich vielleicht weitgehend, wenn man darauf achtet, dass hier wirklich ein Transformationsprozess bezeichnet wird. Diese Transformation von Leben in Literatur und umgekehrt hat Kafka – im wahrsten Sinne des Wortes – bis zu seinem letzten Atemzug betrieben, zuletzt noch bei der Fahnenkorrektur des Hungerkünstler-Bandes. Die Verknüpfung ist aber das eigentlich neue Paradigma der Kafka-Forschung, auch der Kafka-Biographik – das allein hat die vorliegende Biographie gezeigt und das allein zeichnet sie aus.

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Ob nun Leben oder Werk immer vollständig ausgeleuchtet wurden, diese Frage muss man sich nicht stellen. Entscheidend ist vielmehr, dass der umfassende Nachweis, wie sich im Falle Kafkas Leben und Werk mit großer Beständigkeit und mit einer unübertroffenen Intensität wechselseitig vermitteln. Dies von der biographischen Warte aus gezeigt zu haben, ist das große Verdienst der vorliegenden Biographie.



Anmerkungen

Göttingen 1999.   zurück
Waldemar Fromm: literaturkritik.de, Nr.5, Mai 2000.    zurück
Siehe z.B. den Überblick bei Günter Heintz (Hg.): Zu Franz Kafka. Stuttgart 1979.   zurück
Siehe hierzu beispielhaft Andringa, Els (Hg.) Wandel der Interpretation. Kafkas Vor dem Gesetz im Spiegel der Literaturwissenschaft. Opladen 1994 (=Konzeption Empirische Literaturwissenschaft 17).   zurück
Detlef Kremer: Die Erotik des Schreibens. Schrieben als Lebensentzug. Bodenheim 1989. Neuaufl. Berlin 1998.   zurück
Zuletzt in einer Taschenbuchkassette publiziert Frankfurt a.M. 2002.   zurück
Eine Edition des Instituts für Textkritik e.V. Basel: Stroemfeld / Roter Stern 1997ff.   zurück
Max Brod. Über Franz Kafka, Frankfurt a.M. 1977 (= Fischer TB 1496).   zurück
Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen. Frankfurt a.M. 2002, S. XVII.   zurück
10 
Canetti, Elias: Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice. München 1969.   zurück
11 
Michael Müller (Hg.): Interpretationen. Franz Kafka. Romane und Erzählungen. Stuttgart 2003.   zurück