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100 Jahre Verband Deutscher Bahnhofsbuchhändler

  • Peter Brummund: Bahnhofsbuchhandel. Von der Versorgung mit Reiseliteralien zum Premiumhandel für Zeitungen und Zeitschriften. (Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung 61) München: K. G. Saur 2005. XVII, 95 S. Paperback. EUR (D) 24,00.
    ISBN: 3-598-21327-1.
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Vor 100 Jahren, am 16. April 1905, gründeten die deutschen Bahnhofsbuchhändler in Leipzig ihre erste Standesorganisation. Mit diesem Schritt reagierte die zu diesem Zeitpunkt noch sehr junge Teilbranche des verbreitenden Buchhandels auf die zunehmende Ausbreitung des Eisenbahnnetzes in Europa. Damit einher gingen eine rasante Vermehrung des Reiseaufkommens und eine unaufhaltsame Kommerzialisierung des Reise- und Tourismusmarkts. Entwicklungen, die den Bahnhofsbuchhandel vor ganz neue Herausforderungen stellte: Nämlich die optimale Versorgung eines internationalen Reisepublikums rund um die Uhr mit Unterhaltungslektüre und einem breiten Angebot an internationalen Presseartikeln.

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Die wirtschaftlich bedeutenden Bahnhofsbuchhändler in deutschen Großstädten, die zur Durchsetzung ihrer branchenspezifischen Besonderheiten bereits auf nationaler Ebene zusammenarbeiteten, forderten schon im ausgehenden 19. Jahrhundert vermehrt die Gründung einer eigenen Berufsorganisation, die als zentraler und starker Verhandlungspartner die Interessen der Bahnhofsbuchhändler in Deutschland gegenüber den Eisenbahnverwaltungen vertreten sollte. Im Gegensatz zum englischen und französischen Bahnhofsbuchhandel, der von Anbeginn von nur einem Unternehmen zentral organisiert wurde, waren die über 200 Bahnhofsbuchhändler in Deutschland um die Jahrhundertwende zusehends gezwungen, eine überregionale Organisation zur Vertretung der Interessen deutscher Bahnhofs- und Schiffsbuchhändler zu gründen, die stellvertretend für die Gesamtbranche Verhandlungen mit den Bahnhofsverwaltungen sowie Regierungsstellen führte.

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Die Entscheidung der Bahnhofsbuchhändler, ihre erste Berufsorganisation in Leipzig zu gründen, verwundert nicht. So war Leipzig ein bedeutender Umschlagsplatz für internationale Literatur, Messestadt und Handelszentrum. Leipzig entwickelte sich zudem innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten zum wichtigsten Eisenbahnverkehrsknotenpunkt Mitteleuropas. Um den immensen Reiseverkehr gerecht zu werden, wurde bereits 1902 die Entscheidung getroffen, in Leipzig einen zentralen Bahnhof für alle preußischen und sächsischen Linien zu bauen. Der Zeitplan sah eine Fertigstellung im Jahr 1914 vor; Ende des Jahres 1915 konnte der Prachtbau feierlich eröffnet werden. In Leipzig war damit der größte und komfortabelste Bahnhof Europas entstanden.

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1905, im Gründungsjahr der ersten Berufsorganisation, von einer noch jungen Teilbranche des verbreitenden Buchhandels zu sprechen, bedarf eines Rückblicks auf die Anfänge des Eisenbahnbuchhandels wie auch auf die Entstehung von Eisenbahnlektüre: zwei Phänomene, die sich erst vor dem Hintergrund der fortschreitenden Industrialisierung des Reisens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbilden konnten. Die von Peter Brummund vorgelegte Abhandlung verzichtet leider auf einen historischen Exkurs; bedauerlich auch deshalb, weil zahlreiche Organisationsstrukturen und Marketingstrategien im gegenwärtigen Bahnhofsbuchhandel wichtige historische Vorläufer hatten und nur über diesen Rückblick erkennt man die kulturgeschichtliche Dimension mancher branchenspezifischen Merkmale.

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Befremdliche Resistenz eines Berufsverbandes gegenüber der eigenen Historie

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Im April 2005 beging also der Verband Deutscher Bahnhofsbuchhändler e.V. seinen 100. Geburtstag. Anlass genug für den Verband, eine mehrtägige Jubiläumsfeier in Verbindung mit Fachvorträgen zu veranstalten; flankiert wurde der Festakt von der Herausgabe einer kleinen Abhandlung über die Geschichte des Bahnhofsbuchhandels von seinen Anfängen bis in die heutige Zeit – diesen Anspruch formuliert zumindest Klaus Sussmann (ehemals Inhaber des Unternehmens Sussmann’s Presse & Buch GmbH in München) im Geleitwort.

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Dennoch scheint die Ankündigung der vorgelegten Abhandlung als »einmalige Branchendokumentation«, als »akribische wissenschaftliche Aufarbeitung«, als »Geschichtsbuch und Lehrbuch zugleich« (S. VII-VIII) doch in einem krassen Missverhältnis zu stehen zu den sich anschließenden Ausführungen des Verfassers Peter Brummund. Es genügt ein Blick in das Inhaltsverzeichnis, aus dem hervorgeht, dass der eigenen Branchengeschichte zwischen 1850 und 1945 gerade einmal drei Seiten gewidmet sind. Die augenfällige Resistenz gegenüber der eigenen Historie verwundert; ebenso die Einschätzung des Autors, dass die Geschichte des Bahnhofsbuchhandels bislang nicht aufgearbeitet worden sei; gerät diese Annahme doch ein wenig zu apodiktisch, denn die für diesen Berichtszeitraum durchaus vorhandene Forschungsliteratur wird vom Verfasser schließlich ignoriert; nicht zuletzt bleiben bahnbrechende Studien, u. a. die Untersuchung von Wolfgang Schivelbusch Geschichte der Eisenbahnreise. Reisen im Zeitalter der Industrialisierung um nur ein Beispiel zu nennen, unerwähnt. 1

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Der Bahnhofsbuchhandel zur Zeit des Nationalsozialismus

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So geraten auch die Ausführungen über die Entwicklung der Branche während des »Dritten Reichs« sehr knapp. Allerdings wird die herausragende Stellung des Berliner Verkehrsbuchhändlers Georg Stilke in den 1930er Jahren hervorgehoben wie auch die anschließende »Arisierung« des wirtschaftlich bedeutenden Medienkonzerns. Eine führende Rolle nahm Stilke vor allem im norddeutschen Raum ein; hier gehörte fast die Hälfte der rund 600 vom Reichsverkehrsministerium verpachteten Bahnhofsbuchhandlungen dem Unternehmen Georg Stilke (S. 2). 1937 wurden Stilke zunächst verschiedene Pachtverträge im Bahnhofs-, Schiffs- und Hotelbuchhandel gekündigt, Ende desselben Jahres musste Georg Stilke (wegen seiner jüdischen Mutter) die Geschäftsführung niederlegen.

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Während die Berliner Unternehmensanteile an Hermann Reinshagen gingen (er war bereits mit Niederlassungen als Bahnhofsbuchhändler im Breslauer Raum vertreten), führte Georg Toepffer, ein Hamburger Buch- und Kunstverleger, das Hamburger Geschäft fort. 2 Auch der internationale Pressekonzern W. E. Saarbach Köln, der als einer der bedeutendsten Pressegroßhändler für den Bahnhofsbuchhandel eine eminent wichtige Rolle spielte, wurde (u. a. wegen der jüdischen Abstammung des Inhabers) in einen staatlichen Monopolbetrieb »Auslandszeitungshandel« überführt und damit zugleich die Kontrolle des Presseimports durch die neuen Machthaber gewährleistet. 3

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Eine wirtschaftliche Konsolidierung des Bahnhofsbuchhandels während des Krieges wurde allein deshalb sichergestellt, weil sich die Bahnhofsbuchhändler – wie schon im Ersten Weltkrieg – stark im Feldbuchhandel engagierten. So profitierten die Bahnhofsbuchhändler vom zunehmenden Informationsbedarf und der steigenden Nachfrage nach Zeitungen und Zeitschriften, aber auch nach Unterhaltungsliteratur.

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Der Bahnhofsbuchhandel erwies sich seit seinen Anfängen um 1850 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als flexible Branche, als stets anpassungsfähig an neue politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen. In den von Inflation und Kriegsfolgen geprägten Jahren der Weimarer Republik erweiterte der Bahnhofsbuchhandel sein Wirkungsfeld (Erweiterung des Verkaufsprogramms und der Serviceleistungen) und kooperierte jetzt u. a. mit Fremdenverkehrsverbänden, um eine wirtschaftliche Stabilisierung der Branche herbeizuführen. Eine vollständige Aufarbeitung der Geschichte des Bahnhofsbuchhandels von seinen Anfängen bis zum Ende des Weltkriegs war selbstverständlich im Rahmen einer Festgabe nicht zu leisten, hätte diese Aufgabe doch jahrelange Recherchen in internationalen Archiven und Bibliotheken notwendig gemacht.

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Die Entwicklung des Bahnhofsbuchhandels in der DDR – ein wichtiges Desiderat der Buchhandelsgeschichtsschreibung

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Vor demselben Problem stand der Verfasser auch bei der Beantwortung der Frage, wie sich der Bahnhofsbuchhandel in der DDR gestaltete. Auch in diesem Fall hätte es wohl unverhältnismäßig aufwendiger Archivrecherchen bedurft; Verdienst der Abhandlung ist es aber zweifelsohne, die Besonderheiten des Bahnhofsbuchhandels in der DDR in Ansätzen skizziert zu haben und damit vielleicht weitere Forschungen auf diesem Themenfeld anzuregen. Nicht zuletzt erfüllten der staatlich monopolisierte Pressevertrieb und damit auch der Bahnhofsbuchhandel in der DDR hauptsächlich politische Funktionen, und diese am Beispiel des Bahnhofsbuchhandels aufzuarbeiten, wäre eine ebenso verdienstvolle wie auch ertragversprechende Aufgabe.

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Nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 hatte der alliierte Kontrollrat Druck und Vertrieb von Presseerzeugnissen zunächst generell untersagt. Erste Lizenzen und Vertriebsgenehmigungen wurden erst seit Herbst 1945 vergeben. So erhielt z.B. Max Sussmann am 17. November 1945 in der amerikanischen Besatzungszone die Erlaubnis für den Betrieb einer Bahnhofsbuchhandlung im Münchner Hauptbahnhof. In der Folgezeit entstanden nach und nach Verkaufskioske in deutschen Bahnhöfen; 1948 wurde der Zeitungsverkauf auf Provisionsbasis eingeführt und fortan versorgten – wie schon in der Entstehungsphase des Bahnhofsbuchhandels –»Fliegende Bahnsteighändler« die Reisenden mit Tageszeitungen und Zeitschriften. Zudem führten mehrere D-Züge – auch dieses Verkaufsmodell hat historischer Vorläufer – ein kleines Sortiment an Büchern und Presseartikeln mit sich, um Passagiere auch während der Fahrt angemessen mit Lesestoff zu versorgen.

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In der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR nahm die Entwicklung des Bahnhofsbuchhandels – folgt man den Ausführungen Brummunds – einen völlig anderen Verlauf als in Westdeutschland. So wurde am 1. April 1949 auf Anordnung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland der Postzeitungsvertrieb gegründet, dem nach der Staatsgründung der DDR den gesamten Pressevertrieb übertragen wurde. Der bereits bestehende Zeitungsdienst der Deutschen Post und verlagseigene Vertriebsabteilungen wurden organisatorisch zusammengelegt, wodurch der komplette Zeitungsvertrieb in der DDR in die Verantwortung der Deutschen Post überging. Private Pressehändler wichen jetzt dem staatlichen Postzeitungsvertrieb, der über ein weit reichendes posteigenes Händlernetz verfügte und inzwischen im Besitz von über 6.000 Kiosken, Läden und Postschaltern sowie über 8.000 HO- und Konsum-Läden, 900 Buchhandlungen und über 400 MITROPA-Reisebüros war.

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Das zentralistisch organisierte Pressevertriebssystem in der DDR verfolgte hauptsächlich politische Ambitionen und war damit wichtiger Bestandteil der Literaturkontrolle. Die Organisations- und Vertriebsstrukturen unter diesen politischen und wirtschaftlichen Systemvoraussetzungen vollständig aufzuarbeiten, ist noch immer dringendes Desiderat der Buch- und Presseforschung (dies gilt im Übrigen auch für den nicht weniger interessanten Geschäftszweig des Reise- und Versandbuchhandels).

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»Geschichtsbuch und Lehrbuch zugleich« – verfehlter Anspruch bei hohem Informationsgehalt

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Ein Hinweis auf die schwierige Quellenlage als Erklärung für die Fokussierung des jüngsten Berichtszeitraums hätte den Wert der Studie keinesfalls geschmälert. Störend bleibt vielmehr die Diskrepanz zwischen dem formulierten Anspruch und den präsentierten Ergebnissen. Verständigt man sich allerdings darauf, dass hier erstmals eine beeindruckende Dokumentation der Branchengeschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorgelegt wird, bietet die Abhandlung in der Tat einen erhellenden Einblick in die Entwicklung des Bahnhofsbuchhandels, seine wirtschaftliche Situation und die gegenwärtigen Probleme, mit denen die Branche sich auseinanderzusetzen hat. Zudem gelingt dem Verfasser aufgrund seiner Berufserfahrung die Beurteilung der Branchenbefindlichkeit aus eigener praktischer Anschauung und – fern von theoretischen Modellen – kreative Wege und Strategien aufzuzeigen, wie sich der Bahnhofsbuchhandel unter den gegebenen schwierigen Marktbedingungen dennoch behaupten kann. Zu den wichtigsten und folgenreichsten Herausforderungen seit den 1990er Jahren gehörten sicherlich die Wiedervereinigung Deutschlands und schließlich die Privatisierung der Deutschen Bundesbahn.

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Die Wiedervereinigung und ihre Auswirkungen auf den Bahnhofsbuchhandel in Ost und West

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Mit der Wiedervereinigung wurde der Postzeitungsvertrieb in den Besitz der Deutschen Bundespost überführt und zunächst wickelte die MITROPA als Tochtergesellschaft der Reichsbahn die Pachtverträge im Bahnhofsbuchhandel ab. Die Einrichtung von Bahnhofsbuchhandlungen nach westlichem Vorbild gestaltete sich zu diesem Zeitpunkt noch schwierig. Die Deutsche Bundespost hatte sich entschieden, den Postzeitungsvertrieb vorerst weiterzuführen, um Arbeitsplätze nicht zu gefährden. 1991 nahm der Postzeitungsvertrieb in fünf neuen Bundesländern mit sechs Agenturen, 1.700 Postverkaufsstellen und 3.500 Mitarbeitern ihren Betrieb wieder auf (S. 4–6).

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Unterschiedliche Pachtmodalitäten in West- und Ostdeutschland führten schnell zu Spannungen zwischen ost- und westdeutschen Bahnhofsbuchhändlern und der Verband Deutscher Bahnhofsbuchhändler gab an seine Mitglieder die Empfehlung heraus, einen Know-how-Transfer nach Osten zu verhindern. Im September 1993 entspannte sich die Situation, weil es fortan keine Doppelpräsenz von Presseverkaufsstellen an Bahnhöfen mehr gab. Trotz eines leichten Rückgangs existierten 1994 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR 515 Verkaufsstellen an Bahnhöfen.

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Der Pachtvertrag mit der Bahn ist ein Vertrag »sui generis«

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Ein entscheidendes Kriterium, als Bahnhofsbuchhändler zu gelten und dadurch eine Verbandsmitgliedschaft zu erwirken, war fortan der Pachtvertrag. Das entscheidende Merkmal wird in der Satzung des Verbandes Deutscher Bahnhofsbuchhändler wie auch in den »Grundsätzen Bahnhofsbuchhandlungen« der Zentralen Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn festgeschrieben: Wer mit der Bahn »einen Pachtvertrag über eine Bahnhofsbuchhandlung abgeschlossen hat und sich auf dem Gelände von Personenbahnhöfen überwiegend mit dem Vertrieb von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern beschäftigt oder eine Flughafenbuchhandlung betreibt« galt somit als Bahnhofsbuchhändler. Durch den Pachtvertrag unterschied sich der Bahnhofsbuchhändler zum Beispiel vom grossobelieferten Einzelhändler (S. 9). Individuelle Verträge zwischen Bahnhofsbuchhändler und der Deutschen Bundesbahn waren praktisch nicht möglich, weil die Bahn maßgeblichen Einfluss auf den Servicebetrieb seiner Pächter nehmen konnte.

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Der schon im 19. Jahrhundert heftig umstrittene Sonderstatus des Bahnhofsbuchhandels als Nebenbetrieb der Bahngesellschaften, der die Branche aber auch von der Gewerbeordnung und dem gesetzlichen Ladenschluss ausnahm, hatte bis zur Privatisierung der Deutschen Bundesbahn Gültigkeit. So galt zwar der Bahnhofsbuchhandel als selbständiges Unternehmen, unterlag aber als Nebenbetrieb der Bahn den »Allgemeinen Vertragsbedingungen für Nebenbetriebe der Bundesbahn« und den »Besonderen Vertragsbedingungen für Bahnhofsbuchhändler« (S. 9). Erst mit der Privatisierung der Deutschen Bundesbahn am 27. Dezember 1993 entfielen die Verpflichtungen für die Bahnhofsbuchhändler aus dem Bundesbahngesetz. Ein wichtiges Zugeständnis des Gesetzgebers waren weiterhin uneingeschränkte Öffnungszeiten, die den steigenden Versorgungsnotwendigkeiten von Reisenden gerecht zu werden hatten.

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Privatisierung der Deutschen Bundesbahn im Jahr 1993 – eine wichtige Zäsur für den Bahnhofsbuchhandel

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Von der Privatisierung der Deutschen Bundesbahn und der damit einhergehenden Bahnreform erhofften sich die Bahnhofsbuchhändler vor allem eine Entflechtung der Bürokratie, waren sie doch die Leidtragenden eines kaum noch durchschaubaren Kompetenzgeflechts innerhalb des Bahnvorstandes. Die Deregulierung führte zur Gründung von insgesamt vier neuen Vorstandsressorts der Deutschen Bahn AG und fortan war die Tochtergesellschaft »DB Station & Service AG« für die Betreuung der Servicebetriebe an den Bahnhöfen zuständig. Die neu eingesetzten Bahnhofsmanager waren an einer maximalen kommerziellen Nutzung des Bahngeländes interessiert und bemühten sich daher um eine Professionalisierung der Vermarktung, die zu höheren Miet- und Pachteinnahmen führen sollten. So hat sich das Selbstverständnis der Deutschen Bahn AG als Dienstleistungsunternehmen auch mit Blick auf den Bahnhofsbuchhandel gewandelt:

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Das Verhältnis der Servicebetriebe wird seither nicht mehr durch die Versorgungsfunktion und die damit verbundenen Aufwendungen der Pächter geprägt, sondern von der Tatsache, dass die DB Station & Service AG als professioneller Vermarkter von Mietflächen tätig ist. (S.11)
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»Leistung, Leistung, Leistung« – Credo für die Zukunft des Bahnhofsbuchhandels

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War der Bahnhofsbuchhandel bis in die 1990er Jahre noch mittelständisch geprägt, zeichnet sich inzwischen eine drastische Konzentrationsbewegung ab, in deren Verlauf nationale und internationale Medienkonzerne kleinere Unternehmen verdrängen. So scheint der Bahnhofsbuchhandel mit inzwischen nur noch 70 Pächtern und 400 Betrieben als eigenständige Vertriebsbranche bedroht (S. XVI). Zwar gilt der Bahnhofsbuchhandel noch immer als bedeutender Imageträger für die Deutsche Bahn AG und als unverzichtbare Vermittlungsinstanz für Presseartikel, doch steigende Pachten, reduzierte Rabatte und rückläufige Umsätze – auch bedingt durch das konkurrierende Medium Internet – belasten die Branche zunehmend.

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Als eine Reaktion auf die Veränderung des Marktes entstanden jetzt neben eigenständigen Verkaufsstellen für »Internationale Presse«, für Bücher und Modernes Antiquarat die ersten Special-Interest-Läden für Eisenbahn-Literatur, Fachzeitschriften, Comics, Mode und Computer-Magazine (S. 25). Die Einführung von neuen Warengruppen und das Angebot von Spezialsortimenten zielten auf einen Imagezugewinn als kompetente Fachhändler. Als eigentlichen Höhepunkt der Spezialisierung im Bahnhofsbuchhandel bezeichnet der Autor den Premiumladen für Modepresse im Münchner Hauptbahnhof mit einem exklusiven Angebot an exotischen, teuren Haute Couture-Magazinen, Fashion-Katalogen und Hochglanzmodejournalen (S. 26).

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Die Ausführungen von Peter Brummund bieten erstmals detaillierte Einblicke in die Organisations- und Vertriebsstrukturen des gegenwärtigen Bahnhofsbuchhandels und führen die branchenspezifischen Merkmale und innovativen Marketingstrategien eindrucksvoll und – diese Voraussetzung erweist sich hier als Gewinn – aus der Sicht des berufserfahrenen Praktikers vor Augen.

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Brummund erläutert nicht nur die »Spielregeln bei der Verpachtung von Bahnhofsbuchhandlungen« (S. 12), sondern schildert neben dem wirtschaftlichen Leistungspotential der Branche (u. a. bietet die Abhandlung wichtige Strukturdaten) auch deren neue Unternehmensphilosophie, aber auch die Auswirkungen und Wechselwirkungen zwischen Imageaufbesserung der Personenbahnhöfe und der Qualität der Servicebetriebe (S. 13–14). So entwickelten sich seit der Privatisierung der Deutschen Bundesbahn die Bahnhöfe »einerseits zu Identitätsträger des Verkehrsmittels Eisenbahn, andererseits aber auch [zu] zentrale[n] Begegnungsstätten und Wirtschaftsstandorte[n] von Service- und Dienstleistungsunternehmen, was ihnen den Charakter eines Verkehrs-, zugleich aber auch den eines Einkaufszentrums verlieh« (S. 15). Deutsche Bahn AG und Bahnhofsbuchhandel arbeiten seither gemeinsam an Strategien zur Steigerung der Attraktivität der Personenbahnhöfe und entwickeln zielgruppengerechte Leistungsangebote (S. 15) – Maßnahmen, die letztendlich beiden Vertragspartnern zugute kommen.



Anmerkungen

Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main: S. Fischer 1989 (Fischer Taschenbuch 4414). Die wenigen historischen Reflexionen beziehen sich weitgehend auf die Studie von Margit Dorn / Andreas Vogel: Geschichte des Pressevertriebs in Deutschland. Mit einem Schwerpunkt auf der Entwicklung des Pressehandels. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2001.   zurück
Dorn / Vogel, S. 116.   zurück
Dorn / Vogel, S. 117.   zurück