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Informelle Strukturen

Die Arbeitsweise der Grimms als Differenz zur institutionalisierten frühen Germanistik

  • Ina Lelke: Die Brüder Grimm in Berlin. Zum Verhältnis von Geselligkeit, Arbeitsweise und Disziplingenese im 19. Jahrhundert. (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 9) Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2005. 344 S. Paperback. EUR (D) 56,50.
    ISBN: 3-631-54096-5.
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Seit zwei Jahrzehnten treibt die Germanistik die Geschichtsschreibung ihrer eigenen Disziplin vehement voran. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Anfangsphase bis zur endgültigen Etablierung, also vor allem auf der Entwicklung im 19. Jahrhundert. Sie läßt sich beschreiben als eine zunehmende Professionalisierung, Homogenisierung und Institutionalisierung der disziplinären Gemeinschaft. Zunächst in Orientierung an der traditionsreichen Altphilologie, dann in Ablösung von dieser gelang die Etablierung des Faches, die sich in der zunehmenden Einrichtung germanistischer Lehrstühle an den Universitäten manifestierte. Insofern spiegelt sich die Fachgeschichte in der Institutionengeschichte. Wissenschaftsgeschichtlich kommt damit dem Konnex Disziplingenese und universitärer Verankerung entscheidende Bedeutung zu.

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Die Grimms und die Fachgeschichte

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Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm werden seit jeher zu den Gründungsvätern der Germanistik gerechnet. Insbesondere das Erscheinen von Jacob Grimms Deutscher Grammatik (ab 1819) gilt als einer der Marksteine für die Entwicklung des Faches. 1 Insofern ist gerade nach der Rolle der Grimms für die Disziplingenese des öfteren gefragt worden. Im Vordergrund stand dabei die fachliche Verortung der Grimmschen Position gegenüber den zeitgleichen Verfahren anderer früher Germanisten, vor allem denen von Georg Friedrich Benecke, Karl Lachmann oder Friedrich Heinrich von der Hagen. Das ließ sich speziell an deren Editionen untersuchen 2 oder aber in einen größeren Kontext der germanistischen Fachentwicklung stellen. 3 Doch bleibt in bezug auf die Grimms die Tatsache zu konstatieren, daß sie nach ihrer Entlassung aus Göttingen (1837) kaum bzw. gar nicht mehr institutionell gearbeitet haben. Insofern zeigt sich an den germanistischen Gründervätern Jacob und Wilhelm Grimm eine von der strukturell ausgerichteten Fachgeschichtsschreibung noch nicht nachhaltig erfaßte Tendenz, die der Institutionalisierung der Germanistik geradezu zuwiderläuft.

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An diesem Punkt setzt die Arbeit von Ina Lelke an (zugleich Diss., Humboldt-Universität Berlin, 2004). Indem sie die Zeit der Brüder Grimm in Berlin ab 1841 näher betrachtet, 4 gelingen ihr neue Perspektiven auf das »Verhältnis von Geselligkeit, Arbeitsweise und Disziplingenese im 19. Jahrhundert« (Untertitel). In Berlin lebten die Grimms zwar aus der königlichen Schatulle, doch konnten die aus politischen Gründen in Göttingen entlassenen Gelehrten schon aus monarchischer Rücksichtnahme auf den Hannoverschen König Ernst August keinen Lehrstuhl an der Berliner Universität erhalten. Immerhin hatten sie als Mitglieder der Berliner Akademie jedoch das – nicht übermäßig intensiv wahrgenommene – Recht, Vorlesungen an der Universität zu halten. Statt dessen griffen sie auf eine Arbeitsweise zurück, die sich in der Strukturgeschichte des Faches schon zu diesem Zeitpunkt als zunehmend überholt erwies: das gesellige Arbeiten. 5

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Räume des Wissens und
Geselligkeit als Arbeitsverfahren

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Das Ziel von Lelkes Studie ist, »über eine Institutionengeschichte hinauszugehen und die Genese der Berliner Germanistik im Netzwerk verschiedener Räume, so erstmals auch im häuslichen Bereich, zu verorten« (S. 13). Dabei ist Raum nicht allein metaphorisch zu verstehen, sondern meint auch ganz konkret die realen Orte, an denen die germanistische Arbeit stattfand. Ganz in diesem Sinne stellt Lelke zunächst die drei wichtigsten Berliner Bildungsinstitutionen zu Beginn der 1840er Jahre als die »Häuser des Wissens« vor: die Universität, die Akademie und die Gymnasien (S. 31–91).

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Demgegenüber stehen die »Arbeitsformen der Brüder Grimm« (S. 91–111), die schon seit der Frühphase auf einer »auf halbprivatem Weg« aufgebauten »informelle[n] Kommunikationsgemeinschaft« beruhten (S. 102). Daher führt Lelkes Blick weiter auf »›Geselliges Arbeiten‹ außerhalb der Forschungs- und Bildungsinstitutionen« (S. 113–169). Als Möglichkeiten boten sich den Grimms verschiedene Geselligkeitsformen: die Honoratiorengeselligkeit, die Vereinsgeselligkeit und die Salon- und Abendgeselligkeit. An all diesen Geselligkeitstypen nahmen sie teil und erwarben dadurch eine reiche Zahl an persönlichen Kontakten zu Mitgliedern verschiedener sozialer Schichten Berlins. Doch entscheidend ist, daß die Grimms »ihre Arbeiten nicht auf die bestehenden Gemeinschaften verlagerten«, sondern diese nur »als eine Art ›intermediäre Struktur‹« nutzten (S. 166 f.).

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Statt dessen verschoben die Grimms den Schwerpunkt ihres Geselligkeitsinteresses nicht nur auf die eigenen Wohnräume, sondern sie gestalteten zugleich die häusliche Atmosphäre zum Raum des wissenschaftlichen Arbeitens, in dem dann tatsächlich auch ihr größtes Projekt realisiert wurde: das Deutsche Wörterbuch (1. Lieferung 1852, 1. Band 1854). »Das Haus der Gelehrten« ist denn auch das umfangreichste Kapitel überschrieben (S. 169–253), in dem deutlich wird, wie die Grimms den privaten Wohnbereich zum Ort des wissenschaftlichen Austausches machten, insbesondere aber zur Gewinnung einer großen Anzahl von Zuarbeitern, d.h. vor allem Exzerptoren für ihr Wörterbuch, nutzen konnten (S. 185–190).

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Lelkes Untersuchung zeigt, wie die Grimms im »›offenen‹ Privathaus« ein »persönliches Beziehungsnetz arrangier[t]en« (S. 251) und damit ein Privates wie Öffentliches mischendes Arbeitsverfahren anwandten, das im Zuge der Abgrenzung von gelehrtem privaten und öffentlichen Raum um die Jahrhundertmitte zunehmend anachronistisch wurde. Insofern entstehen Schwierigkeiten, wenn man versucht, die Grimms »als Begründer der institutionalisierten Wissenschaftspraxis zu apostrophieren« (S. 275), wie Lelke zu Recht in ihrem letzten größeren Kapitel »Zum Verhältnis von geselliger und gelehrter Arbeit« (S. 253–308) bemerkt.

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Etwas nachdrücklicher hätte die Untersuchung noch herausheben dürfen, daß das ›gesellige Arbeiten‹ der Grimms nicht als freie und gleichberechtigte Arbeit mehrerer an einem Werk mißverstanden werden darf. Das zeigen nicht nur die auch von den Grimms in Gang gesetzten »Abgrenzungsmechanismen« (S. 253–274) gegenüber den ›Dilettanten‹ und ›Liebhabern‹, 6 sondern auch die Hierarchisierungen innerhalb ihrer eigenen Projekte. Keiner Institution wollten sie diese eingliedern, sondern durch die Privatisierung des wissenschaftlichen Arbeitens immer selber Kontrolle und Leitungsfunktion behalten. Dementsprechend galten ihnen alle anderen Beteiligten durchweg nur als Zuarbeiter.

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Rolle und Funktion der Frauen
im geselligen Arbeiten der Grimms

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Ein Ziel der Studie ist, die »Geschlechterdifferenz« innerhalb der »Kommunikations- und Arbeitsgemeinschaft um die Brüder Grimm in ihrer Berliner Zeit« mit in den Blick zu nehmen und damit für den Untersuchungsgegenstand »den weiblichen Anteil am Sozialsystem Wissenschaft oder an wissenschaftlichen Arbeiten« herauszuarbeiten (S. 17). Daher konzentriert sich Lelke an bestimmten Stellen auf diesen Aspekt, am nachhaltigsten im umfangreichsten Kapitel des Bandes »Das Haus der Gelehrten«. Hier ist der weit überwiegende Teil des Kapitels den »Frauen im Hause Grimm« (S. 190–250) gewidmet.

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Dabei wird an den verschiedenen Beispielen deutlich, wie sich im Raum der halbprivaten-halböffentlichen Geselligkeit gerade für Frauen die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Mitarbeit oder Förderung des wissenschaftlichen Projektes bot, die im öffentlichen Raum der gelehrten Institutionen nicht bestand. An Wilhelm Grimms Frau Dorothea Grimm, an Bettina von Arnim, Sarah Austin, Amalie Hassenpflug und den Schwestern Wallot wird deutlich, daß durch das ›gesellige Arbeiten‹ Frauen – begrenzte – wissenschaftliche oder wissenschaftsorganisatorische Entfaltungen ermöglicht waren. Doch auch hier gilt: Über die Rolle von Propagandistinnen oder Zuarbeiterinnen kamen die Frauen im Arbeitskreis der Grimms nicht hinaus.

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Fazit

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Lelkes Studie bereichert die Grimm-Forschung und die Fachgeschichtsschreibung, indem das Unzeitgemäße des Grimmschen Arbeitsverfahrens sichtbar wird. Insofern wird deutlich, daß sich auch die Germanistik nicht bruchlos als Geschichte einer erfolgreichen Institutionalisierung beschreiben läßt, sondern gerade anachronistische Modelle – wie das des ›geselligen Arbeitens‹ – um die Jahrhundertmitte noch erfolgreich sein konnten. Allerdings ist bei aller Abstraktion solcher Ergebnisse nicht zu vergessen, daß mit den Grimms gerade eben auch ein spezifischer Einzelfall vorliegt. Die aus Göttingen entlassenen Professoren hatten schon aufgrund der zeitgeschichtlichen Umstände keine Möglichkeit mehr, noch einmal nachhaltig über den wichtigsten institutionellen Multiplikator gelehrten Wissens, die Universität, zu wirken. Daß dies dem Erfolg des Grimmschen Arbeitens keinen Abbruch tat, sondern – rückblickend – ihm nahezu entgegenzukommen schien, ist eine der Ambivalenzen, die die Fachgeschichtsschreibung nun nachhaltiger berücksichtigen dürfte.

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Insofern ergänzt, nicht ersetzt Lelkes Arbeit die bisherige Forschung. Nicht erwehren kann man sich jedoch des Eindrucks, daß die Studie gelegentlich damit zu kämpfen hat, eigentlich zwei Themen abhandeln zu wollen: das Arbeitsverfahren der Grimms und die Rolle der Frauen im Wissenschaftssystem der frühen Germanistik. Gegen Ende der Arbeit scheint sich der letztere Aspekt immer mehr zu verselbständigen (siehe das Unterkapitel »Institutionskritik von außen«, S. 292–304). Vielleicht wären daraus doch besser zwei verschiedene Untersuchungen entstanden, die dann eindeutiger ihr jeweiliges Thema hätten abhandeln können.

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Daß die Frage »Disziplingenese aus der Sphäre des Privaten?« im Schlußabschnitt »Fazit und Ausblick« (S. 309–315) nicht endgültig beantwortet werden kann, schwächt Lelkes Studie keineswegs, 7 sondern mit ihr ist gerade ein Aspekt formuliert, der zukünftige Forschung zu einem weiter differenzierten Blick auf die Anfänge der Germanistik anregen kann. Vielleicht liegt die Problematik einer Antwort auf die Frage aber auch in einem inhaltlichen Fokus der Arbeit. So intensiv sie die Rahmenbedingungen des Grimmschen Arbeitens unter die Lupe nimmt, so wenig berichtet sie schließlich über das Arbeiten selbst. Wie also die Arbeit z.B. am Wörterbuch im einzelnen funktionierte, wie die Exzerptoren konkret gewonnen wurden und wie die Grimms deren Ergebnisse weiterverarbeiteten, bleibt unbeleuchtet. Aber das kann ja in weiteren Studien dargelegt werden. Die Konturen dafür sind durch Lelkes Studie nun deutlicher geworden.



Anmerkungen

Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München: Fink 1989, S. 236.   zurück
Vgl. Magdalene Lutz-Hensel: Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm – Benecke – Lachmann. Eine methodenkritische Analyse (Philologische Studien und Quellen 77). Berlin: Schmidt 1975.   zurück
Lothar Bluhm: Die Brüder Grimm und der Beginn der Deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jahrhundert (Spolia Berolinensia 11). Hildesheim / Zürich: Weidmann 1997.   zurück
Ergänzend sei auf folgenden zeitgleich entstandenen Katalog zur Ausstellung in der Berliner Humboldt-Universität 2004 hingewiesen: Die Brüder Grimm in Berlin. Bilder – Studien – Dokumente. Hg. von der Grimm-Sozietät zu Berlin e.V., gegründet 1991. Redaktion Klaus B. Kaindl und Berthold Friemel mit Unterstützung von Wilhelm Braun, Maria Hartz, Ingrid Pergande-Kaufmann, Claudia Priemer und Daniela Boltres-Astner. Zweite, durchgesehene Aufl. [Stuttgart]: Hirzel 2005; darin auch der Beitrag von Roland Berbig: »Diese zwei besagten Professoren waren stille Leute«. Literarisch-wissenschaftliche Geselligkeit im Berlin der Brüder Grimm nach 1840, S. 139–151.   zurück
Vgl. zu diesem Komplex Holger Dainat, Rainer Kolk: »Geselliges Arbeiten«. Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987), Sonderheft: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, S. 7–41.   zurück
Damit wenden die Grimms das gleiche Verfahren an, das entscheidend zur Konturierung des Faches und zur folgenden Institutionalisierung der Germanistik beitrug; vgl. Rainer Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Jürgen Fohrmann / Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Mit Beiträgen von Uwe Meves u.a. Stuttgart / Weimar: Metzler 1994, S. 48–114, hier S. 65: »Der Prozeß der Philologisierung der Germanistik bedeutet zwar zunächst eine tendenzielle Exkommunikation, mindestens jedoch die Marginalisierung der ›Liebhaber‹ und ›Dilettanten‹, er bewirkt aber in einem zweiten Schritt eine erhebliche Homogenisierung der disziplinären Gemeinschaft.«   zurück
Eine kleine Schwäche in der bibliographischen Titelaufnahme mag allerdings nicht verschwiegen werden: Daß nämlich Werk- und Briefausgaben unter dem Namen des Herausgebers firmieren, nicht aber unter dem des Autors bzw. Verfassers, sollte in einer akademischen Abschlußarbeit nicht mehr unterlaufen.   zurück