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Kommt ein Mann zum Arzt...

  • Jochen Hörisch: Theorie-Apotheke. Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen. (Die andere Bibliothek 239) Frankfurt/M.: Eichborn 2005. 328 S. Gebunden. EUR (D) 26,90.
    ISBN: 3-8218-4470-1.
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Packungsbeilage

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Jeder, der einmal ernsthaft den Versuch unternommen hat die Welt zu verstehen, läuft Gefahr, sich mit dem Virus der ›postmodernen Krankheit‹ zu infizieren. Solche Infektion äußert sich meist in gesteigertem Unverständnis der Welt, was aufgrund ihrer unbestreitbaren Komplexität nicht verwunderlich ist. Hilferufe erscheinen angebracht. Nicht Heilung, wohl aber doch Linderung für solcherlei Seelenqualen versprechen von jeher humanwissenschaftliche Theorien. Einige der bedeutendsten theoretischen Heil(ung)sversprechen hat der in Mannheim lehrende Medien- und Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch in seiner Theorie-Apotheke zusammengestellt.

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Anwendungsbereich

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Vorweg sei erwähnt, dass die Theorie-Apotheke nicht den Anspruch eines Allheilmittels hat. Der theoretische Giftschrank Hörischs stellt, so der Untertitel, lediglich eine »Handreichung[en] zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen« dar, mithin also Hilfe zur Selbsthilfe. Der Autor will »Grundzüge, Grundgesten und Grundbegriffe derjenigen Theorien vorstellen und prüfen, die in den letzten fünfzig Jahren das Sagen hatten und zum Widerspruch reizten« (S. 23). Als Hauptanlass für das Erscheinen seiner Theorie-Wundertüte jedoch, sieht der Autor seine Prognose eines »Come-back[s] humanwissenschaftlicher Theorie-Debatten« (S. 11), eine Prophezeiung, die ein willkommenes Argument für die Auseinandersetzung mit humanwissenschaftlichen Theorien liefert. Zumal die Vertrautheit mit einer Vielzahl von Theorien den Leser weiter gegen den Umstand wappnen, dass es »die Wahrheit sowenig wie die Gerechtigkeit gibt, wohl aber viele divergierende Wahrheits- und Rechtsansprüche« (S. 9).

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Schon in seiner Einleitung schränkt Hörisch den Wirkungsbereich seines Werkes ein: »Bücher [...] haben einen beschränkten Umfang; der Autor dieses Buches hat eine beschränkte Kompetenz; und auch Theorien haben eine beschränkte Konjunktur« (S. 32). Die Auswahl der (lediglich) 32 vorgestellten Theorien ist subjektiv: Theorie-Klassikern wie dem Marxismus oder dem linguistic turn werden keine eigenen Kapitel eingeräumt, sie kommen nur in Nebensätzen vor. Um das Problem einer Anordnung nach Gegenstandsbereichen, Grundorientierungen, historischem Stellenwert oder Geltungsanspruch zu umgehen, ordnet Hörisch die Beteiligten alphabetisch zwischen »Analytischer Philosophie« und »Zivilisationstheorie« ein.

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Nicht nur in der Auswahl, auch im Umfang der einzelnen Artikel spiegeln sich die Vorlieben des Autors wieder: Scherzhaft wird das (Tot-)Schlagwort Interdisziplinarität in sechs Sätzen abgehandelt, der Psychoanalyse hingegen, werden fast 20 Seiten zugedacht. Im Durchschnitt jedoch gesteht Hörisch jeder Theorie etwa sechs bis zehn Seiten zu, wobei der Leser mit den Namen der Hauptvertreter, den wichtigsten Thesen und Ideen, Kritik an der Theorie und im besten Falle noch mit einigen griffigen Schlagworten versorgt wird. Weiter liefert Hörisch Querverweise, was jedoch aufgrund der mangelnden Trennschärfe der Theorien unausweichlich ist. So bemüht Hörisch mehrfach George Spencer-Browns Terminus re-entry und verweist häufig auf den Artikel über die Systemtheorie – wenig erstaunlich, lernt der Leser doch im besagten Kapitel, dass diese universell anwendbar sei oder zumindest eine fast universelle Anwendbarkeit für sich reklamiere.

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In seinen Darstellungen schreckt Hörisch nicht vor »pointierte[n], produktive[n] Vereinfachungen« zurück (S. 23). Da Hörisch Humanwissenschaft als ›fröhliche Wissenschaft‹ versteht (Vgl. S. 17) steht die Pointe im Vordergrund, pflegt er bei der Besprechung der Theorien einen lockeren Ton, der all zu oft an den Duktus von Dietrich Schwanitz in dessen streitbaren Bildungswerk 1 erinnert. So zettelt Hörisch zwischenzeitlich immer wieder kleine Scharmützel an, vor allem sind dies Angriffe auf die sandkasten-psychologisch, kindlich-narzisstisch, überbürokratisch, endogam, inzestuös, phobisch und irrational organisierten (deutschen) Universitäten (vgl. S. 12).

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Wirkungsweise

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Der Autor bemüht sich bei der Vorstellung der Theorien darum, diese auch dem theoriefernen Leser nahe zu bringen, wobei aber auch Hörisch an einigen Stellen nicht um Fachvokabular herum kommt, das den Lesefluss bremst. Die Einzeldarstellungen bleiben aber in fast allen Fällen auch für den Laien nachvollziehbar, ein Preis, der jedoch immer durch Vereinfachung erzielt wird. Hieraus ergibt sich das von Hans-Jürgen Heinrich zu Recht kritisierte Problem der Nachhaltigkeit, denn so schlüssig die Theorien auch erklärt werden, so kurz dürften sie im Gedächtnis desjenigen Lesers haften bleiben, der sich nicht bereits im Vorfeld mit ihnen auseinandergesetzt hat. 2

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In jedem Fall jedoch, macht die ›Theorie-Apotheke‹ den Leser fit für die nächste Feuilleton-Lektüre, bei der theoretische Stolpersteine dann grazil übersprungen werden können. Hilfreich wäre in diesem Zusammenhang ein Stichwortregister gewesen, das dem Band leider fehlt, was jedoch verzeihlich ist, versteht er sich doch nicht als Lexikon. Der Erkenntnisgewinn, den der Leser aus den einzelnen Artikeln ziehen kann, variiert. Erfährt und versteht man doch bemerkenswert viel von der Systemtheorie, sind die Beiträge zur Dekonstruktion oder dem Existentialismus weniger zugänglich. Löblich hervorzuheben ist das Bemühen des Autors, die Theorien in kurzen Beispielen in dem Leser vertrauten Kontexten anzuwenden, und so zu zeigen, dass Theorien in der Tat helfen können, die Welt (besser) zu verstehen.

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Risiken und Nebenwirkungen

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Wer nach dieser Besprechung hinter dem Band nun fälschlicherweise immer noch ein Nachschlagewerk vermutet, das in kurzen lexikalischen Artikeln die gängigen und wichtigen geisteswissenschaftlichen Theorien ausführlich erklärt, wird zu recht enttäuscht und sei an dieser Stelle etwa auf das von Ansgar Nünning herausgegebene Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie 3 verweisen, das diese Aufgabe mit Bravour erfüllt. Hörischs Theorie-Apotheke gehört weniger auf den Schreib- denn auf den Nachttisch, auf dem sie durchaus zu überzeugen vermag.

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Zu einladend ist Hörischs Metaphorik, als dass sich der Rezensent dieser in seinem Resümee erwehren könnte. Die ›Theorie-Apotheke‹ ist in ihrer Wirkung der Schmerztablette vergleichbar; Symptome kleiner Leiden werden schnell gelindert. Wer das Übel an der Wurzel packen möchte, etwa Antibiotika benötigt, tut allerdings gut daran, sich selbst besser das erwähnte Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie zu verschreiben.



Anmerkungen

Vgl. Dietrich Schwanitz: Bildung – Alles, was man wissen muss. Frankfurt / M, Eichborn 1999.   zurück
Vgl. Hans-Jürgen Heinrichs: Handreichung für geplagte Denker In: Deutschlandfunk – Büchermarkt. URL: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/341380/ (22.11.2005).   zurück
Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie Stuttgart, Weimar: Metzler 2001.   zurück