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Ein Unternehmen mit Vorgeschichte
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Mit Agrippina (1665) und Epicharis (1665) liegen nach langer Vorlaufzeit nun die beiden Römischen Trauerspiele Daniel Casper von Lohensteins in einer historisch-kritischen Edition vor. Das Erscheinen war aus mehreren Gründen ein dringendes Desiderat: Zum einen gab es von beiden Texten – anders als im Falle der Cleopatra und der Sophonisbe – derzeit keine auf dem Markt verfügbare Ausgabe,
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zum anderen sind gerade die ›Nero‹-Dramen von besonderem interdisziplinärem Interesse, hält sich Lohenstein bei der szenischen Umsetzung der Ermordung Agrippinas durch ihren Sohn Nero (59 n. Chr.) und der Aufdeckung der ›Pisonischen Verschwörung‹ mit dem erzwungenen Freitod Senecas (65 n. Chr.) eng an die bereits ›dramatisch‹ strukturierte Darstellung in den Annalen des römischen Historikers Tacitus.
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Literatur-, kultur- und sozialhistorisch können die beiden Dramen im Zusammenhang mit dem ›Tacitismus‹ des 17. Jahrhunderts interpretiert werden.
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Dass diese beiden Theaterstücke nun vorliegen und weitere Bände wohl in absehbarer Zeit folgen werden, ist den Bemühungen Lothar Mundts zu verdanken. Dieser hatte nach dem Tode Gerhard Spellerbergs (1937–1996), der eine Teilausgabe der Werke Lohensteins (ursprünglich als Studienausgabe für den Deutschen Klassiker Verlag vorgesehen) nicht vollenden konnte, dessen wissenschaftlichen Nachlass ausgewertet und dokumentiert in seinem Vorwort (S. IX-XVI) nun mit penibler Redlichkeit das Ausmaß der Vorarbeiten, auf die er seit der Übernahme des Projektes im Jahre 1998 zurückgreifen konnte. Es wird klar (vgl. S. XIII f.), dass Mundts Hauptaufgaben – abgesehen von der Konstitution des Textes nach den Maßgaben einer historisch-kritischen Ausgabe – in der Erarbeitung des Stellenkommentars, der bibliographischen Erschließung von Lohensteins »Anmerckungen« (Selbstkommentaren) und in der Anfertigung von Übersetzungen der in letzteren enthaltenen fremdsprachigen Zitate lagen. Auf diese Leistungen ist in vorliegender Rezension ein Hauptaugenmerk zu richten.
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Editorische Grundsätze
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Die der Texteinrichtung zugrunde liegenden Kriterien sind, wie bei einem Mitarbeiter der Berliner »Forschungsstelle für Mittlere Deutsche Literatur« nicht anders zu erwarten, überzeugend oder zumindest nachvollziehbar.
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Bei der Konstitution der Dramentexte folgte der Herausgeber konsequent den beiden von Lohenstein autorisierten Erstdrucken von 1665. Spätere Drucke wurden herangezogen, sofern sie »Hinweise für eine plausible Emendation solcher Stellen geben konnten, bei denen eindeutig eine Textverderbnis vorlag, die ein Eingreifen des Herausgebers erforderte« (S. 590 f.). Die deutliche Vorrangstellung des jeweiligen Erstdrucks (Sigle A) führte dazu, dass der kritische Apparat am Seitenende jeweils zweigeteilt wurde: in Emendationen und Konjekturen einerseits und abweichende Lesarten der späteren Drucke (B, C, D) andererseits.
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An diese Gepflogenheit gewöhnt sich der Leser ähnlich schnell wie an das in Antiqua ungewöhnliche Schaft-s (ſ) oder die historischen Umlautkennzeichnungen mit übergeschriebenem e. Im Übrigen wurden Abkürzungen und Ligaturen aufgelöst und starke typographische Vereinheitlichungen vorgenommen.
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– Die Frage, ob man die in Lohensteins Text durchweg fehlenden Regieanweisungen (z.B. Auftritte von Personen während der Szene, entscheidende Handlungselemente wie Folter oder Selbstmord) sparsam hätte ergänzen sollen, sei zumindest aufgeworfen.
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Der Kommentar: formale Aspekte
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Wie in der Barockzeit üblich, hat auch Lohenstein allen seinen Dramen (mit Ausnahme des Jugendwerks Ibrahim Bassa) einen umfangreichen Anmerkungsapparat beigegeben, in dem er zu einzelnen Lemmata, die durch Versziffern gekennzeichnet sind, historische und antiquarische Erläuterungen vornimmt. Diese »Anmerckungen« erwiesen sich nach dem Urteil des Herausgebers insofern als erklärungsbedürftig, als sie oft unvollständige oder ungenaue Quellennachweise enthalten und außerdem die fast durchgehend lateinischen Belegstellen für den Benutzer übersetzt werden sollten. Mundt entschied sich für die plausible Lösung, diese notwendigen Erschließungshilfen nicht etwa in den Kommentarband (= Teilband 2) zu verlegen,
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sondern sie synoptisch den – ungefähr gleich viel Platz beanspruchenden –»Anmerckungen« gegenüberzustellen:
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Unsere Ausgabe bietet zum erstenmal, in Paralleldruck, Übersetzungen und präzise, durchweg auf Autopsie beruhende Nachweise für alle von Lohenstein beigebrachten Zitate und sonstigen Literaturangaben. (S. 595)
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Für den Benutzer bietet dieses Verfahren ein größeres Maß an Übersichtlichkeit. Er muss nun zwar bei kontinuierlichem Studium des Textes gleich an drei Stellen nach Informationen suchen (»Anmerckungen« Lohensteins, Erläuterungen dazu jeweils gegenüber, Erläuterungen des Herausgebers zum Text im Kommentarband), doch kann man dem Herausgeber darin zustimmen, dass ihm bei allem Aufwand, nicht zuletzt im Bereich der Querverweise, der Grundsatz »Benutzerökonomie geht vor Herstellerökonomie« (S. 631 f.) leitend gewesen ist.
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Der Kommentar: sachliche Aspekte
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Zu diskutieren ist hingegen die inhaltliche Ausgestaltung des Kommentars. Mundt versucht nach eigenem Bekunden »schlechthin alles anzubieten, was der Benutzer einer historisch-kritischen Ausgabe von Werken der Frühen Neuzeit an Erläuterungen und Verständnishilfen erwarten darf« (S. 630), und nennt dabei u.a. sprachliche und sachliche Erklärungen, Nachweise von Quellen und Parallelstellen sowie die Diskussion textkritischer Probleme. Hinsichtlich des heiklen »Verhältnisses von Interpretation und Kommentar« (ebd.) trägt er eine Reihe nützlicher Erwägungen vor und kommt zu dem Schluss, dass der Kommentar, im Gegensatz zur Abhandlung, »nur eine durch Lemmatisierung vorgegebene Summation von Einzelstelleninterpretationen liefern« (ebd.) darf.
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Diese Beschränkung hätte jedoch Raum gelassen zumindest für die Dokumentation der Forschung zu einzelnen problematischen Textpassagen. Dazu zwei Beispiele: 1. Zum dritten Reyen der Agrippina (S. 102–105) gibt Mundt eine vergleichende Erläuterung des bei Tacitus geschilderten und bei Lohenstein im Medium der Teichoskopie imaginierten Mordversuchs an Agrippina im Anschluss an die o.g. Studie von Asmuth (S. 679 f.). Hingegen äußert er sich nicht zur möglichen Deutung des – singulären – Auftretens von Berg- und Meernymphen, obwohl etwa in der wichtigen Monographie von Adalbert Wichert ein anregender Interpretationsversuch dazu vorliegt.
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2. Unter den zahlreichen Fällen markierter Intertextualität in den beiden Dramen sticht der auffällige Verweis auf Senecas als Fürstenspiegel angelegten Traktat De clementia am Ende der Epicharis hervor, als nach dem erzwungenen Selbstmord des Philosophen der Günstling Tigillinus zynisch vermerkt: »Von Nerons Gütte wird die Nachwelt ein gantz Buch / Durchleſen« (S. 465).
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Mundt geht weder im Kommentar zu dieser Stelle noch zu anderen, an denen auf De clementia verwiesen wird, auf die spezifische referentielle Funktion dieses Prätextes ein. Auch ohne der subtilen Analyse von Stefanie Arend zu folgen, die die auffällige Verteilung von De clementia-Bezügen (bzw. deren Fehlen) im Drama diskutiert,
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hätte ein Kommentator sich mit solcherlei besonderen Intertextualitätsphänomenen – gerade angesichts einer ambitionierten Aufarbeitung von Lohensteins Selbstkommentaren (s.u.) – auseinandersetzen sollen. Dass zu so berühmten Passagen wie der Inzestszene in der Agrippina (S. 88–93; Selbstkommentar S. 208–211)
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oder Senecas Sterbeszene in der Epicharis (S. 443–455; Selbstkommentar S. 540–545) keine Interpretationsansätze oder Verweise auf literaturwissenschaftliche Forschungen gegeben werden, sei nur am Rande vermerkt.
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Ein wenig enttäuscht ist der Benutzer auch von den allgemeinen Hinweisen zur Anlage von Lohensteins Selbstkommentar (S. 595–602). Mundt äußert sich hier insbesondere über Lohensteins Zitierweise (Benutzung von Originalquellen vs. Kompendien, obskure Angaben) und die daraus erfolgenden textkritischen Probleme für den Herausgeber, hingegen werden die funktionalen Aspekte der »Anmerckungen« nicht thematisiert. Dies ist schade, denn die zeitgleich mit der Edition erschienene Monographie von Dirk Niefanger über das frühneuzeitliche Geschichtsdrama nimmt in anregenden Überlegungen, aber mit – naturgemäß – geringerer Textkenntnis zu den einschlägigen Fragen Stellung.
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Ob die Selbstkommentare Lohensteins lediglich ein antiquarisches Interesse der Leser bedienen sollen oder ob der imponierende Anmerkungsapparat im Sinne eines »pluralen Geschichtsdiskurs[es]«
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eine Vielzahl von Stimmen imaginiert und letztlich »auch Grundsätze der dem Drama zugrundeliegenden Geschichtstheorie plausibel machen und die dargestellte Historie mit der Präsentation von historiographischen Varianten in ihrer Absolutheit relativieren«
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will – dies zu belegen erfordert eine Vertrautheit mit Lohensteins Arbeitsweise, wie sie in prominenter Weise der Herausgeber und Kommentator besitzt.
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Er hätte seine diesbezüglichen Einsichten wenigstens thesenhaft vortragen sollen.
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Im Übrigen sei vermerkt, dass der Kommentar hinsichtlich sachlicher und sprachlicher Detailerläuterungen wie auch beim Nachweis von Quellen und Parallelstellen kaum einen Wunsch offen lässt.
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Die Übersetzungen der lateinischen Texte sind gut lesbar und erscheinen – soweit eine Nachprüfung möglich war – korrekt. Die bibliographischen Recherchen sind gründlich durchgeführt, das Beharren auf die zeitaufwendige Autopsie der Quellen (s.o.) ist positiv hervorzuheben. Schließlich wird der Frühneuzeitforscher – der ja nicht immer zugleich mit allen Feinheiten der frühneuhochdeutschen Sprache vertraut ist – mit leichtem Aufatmen zur Kenntnis nehmen, dass der strenge Herausgeber mit seinen Erläuterungen »sich nicht ganz außerhalb des Horizontes etwa eines überdurchschnittlich belesenen, motivierten und lernwilligen Studenten bewegt« (S. 632).
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Eine Fülle von Beigaben
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Die beiden Teilbände enthalten eine Anzahl von Beigaben und Anhängen, die das Grundgerüst von Text, Übersetzung (der lateinischen Quellen in den »Anmerckungen«) und Kommentar ergänzen und die Arbeit mit Lohensteins »Römischen Trauerspielen« erheblich erleichtern bzw. manche Forschungsprojekte erst ermöglichen. Der Edition sind zunächst zahlreiche Abbildungen hinzugefügt, u.a. sämtliche Titelkupfer der Erstausgaben von 1665. Des Weiteren sind die Szenare der Breslauer Schulaufführungen von 1666 abgedruckt (S. 555–569).
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Der ausführliche Editionsbericht enthält neben den schon erwähnten Abschnitten einen detaillierten Abriss der Überlieferungsgeschichte nebst Beschreibung der Drucke von 1665, 1685, 1701 und 1724 (S. 573–589). Den Kommentarband eröffnet eine kurze Abhandlung »Zur Nero-Dramatik in der Frühen Neuzeit« (S. 615–627), die im wesentlichen genaue Paraphrasen und Strukturanalysen derjenigen Dramen und Prosaschriften gibt, die vor Lohensteins »Römischen Trauerspielen« erschienen sind bzw. die er nachweislich für Agrippina und Epicharis verwendet hat. Die sich aus dem Textvergleich ergebende Feststellung, dass »Lohenstein der erste Dramatiker war, der die Gestalt der Epicharis in das Zentrum eines Stückes gestellt hat« (S. 627), bestätigt die Forschung, die in der bis zum Schluss Widerstand leistenden Frauengestalt eine Kontrastfigur zu den anderen Protagonisten des Stückes, Piso und vor allem Seneca, gesehen hat und aus dieser Personenkonstellation Argumente für die jeweilige Interpretation entnimmt.
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Im Anhang des Kommentarbandes findet sich zunächst ein äußerst instruktives »Alphabetisches Autoren- und Werkverzeichnis zu Lohensteins Anmerkungen« (S. 806–852). Da Mundt nicht nur die von Lohenstein explizit zitierten (und nachweislich von ihm benutzten) Werke nachweist, sondern auch Autoren und Werke innerhalb zitierter Passagen und von ihm selbst erschlossene Quellen, bietet das Verzeichnis einen ausgezeichneten Einblick in die ›Werkstatt‹ eines gelehrten Barockautors. So gewinnt der Benutzer nicht nur eine rasche Übersicht über die Zitate aus Tacitus, Seneca und anderen antiken Autoren, sondern er kann auch Lohensteins Benutzung von Handbüchern wie den noch ›druckfrischen‹ Annalen-Kommentaren (erschienen 1661/62) von Christoph Forstner (S. 820)
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oder einzelnen Schriften des Neustoizisten Justus Lipsius (S. 829), des Polyhistors Athanasius Kircher (S. 827), aber auch französischer und italienischer Autoren genau rekonstruieren. Ein gründliches Verzeichnis der einschlägigen Literatur zu Lohenstein und seinen Römischen Trauerspielen (S. 853–870) rundet die gelungene, benutzerfreundliche und zu weiteren Forschungen anregende Edition ab.
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