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Eine Einführung in die Gattungstheorie?

  • Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn: mentis 2003. 230 S. Kartoniert. EUR (D) 24,80.
    ISBN: 3-89785-377-9.
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Historisches und Grundfragen

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Man weiß, daß es literarische Gattungen gibt, noch vor jeder theoretischen Reflexion. Mit dieser Feststellung beginnt Zymner seine Darstellung von Problemen und Positionen der Gattungstheorie. Die Frage ist, wie man das Phänomen Gattung wissenschaftlich fassen kann. Literaturwissenschaftliche Gattungstheorie bestimmt Zymner als »ein[en] systematische[n] und auf Prinzipienwissen ausgerichtete[n] Versuch der theoretischen Reflexion über literarische Gattungen« (S. 9). Nach dem Grundsätzlichen folgt Historisches: ein kurzer, aber prägnanter Überblick über die verschiedenen Formen der theoretischen Beschäftigung mit Gattungen von den Grundlagen bei Platon und Aristoteles über die normativen Poetiken mit ihrer Hierarchie oder Systematik (zum Beispiel bei Horaz, Scaliger, Opitz, Batteux oder Gottsched) und die historisierenden und spekulativen Gattungspoetiken (zum Beispiel bei Herder, Goethe, Propp, Jolles oder Staiger) hin zu einer modernen, eher deskriptiv verstandenen Gattungstheorie.

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Als Grundfragen einer den wissenschaftstheoretischen Maßstäben der Überprüfbarkeit, Widerspruchsfreiheit, empirischen Triftigkeit und Vorläufigkeit genügenden Gattungstheorie bestimmt Zymner die folgenden: 1) Gibt es überhaupt Gattungen? 2) Wie werden Gattungen beschrieben und Gattungsbegriffe bestimmt? 3) Wie ist das Verhältnis zwischen Gattungstheorie und Gattungsgeschichte? 4) Besteht die Literatur als Ganzes aus Gattungen? 5) Wie ist das Verhältnis zwischen Dichtungsarten und Dichtungsweisen? 6) Wie ist das Verhältnis zwischen Gattungen und Schreibweisen? 7) Inwiefern sind Gattungen soziale Institutionen und inwiefern haben sie bestimmte soziale Funktionen? Daß diese Fragen sich zum Teil überlappen, muß kein Nachteil sein und die Aufteilung ist für die einführende Präsentation zweifellos hilfreich.

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Gibt es Gattungen wirklich
und wie kann man sie bestimmen?

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Im zweiten Kapitel diskutiert Zymner die beiden Extrempositionen der sogenannten ontologischen Frage. Zum einen die Position, daß es Gattungen nicht gibt, für die exemplarisch Croces Theorie der Individualität des Kunstwerks und die poststrukturalistische Theorie der écriture vorgestellt werden, und zum anderen die Konzeption von Gattungen als normativ-apriorische Setzungen, gegebenenfalls mit fundamentalontologischer Begründung. Die Frage, ob Gattungen existieren, wird schließlich als sinnlos entlarvt. Sinnvoll sei nur zu fragen, »unter welchen Bedingungen man von Gattungen spricht, welches die kulturell eingeübten und tradierten Regeln der Sprachspiele sind, in denen man über Gattungen spricht« (S. 60).

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Nach einem Blick auf generelle Probleme der Terminologie der Literaturwissenschaft – ihrer Uneinheitlichkeit und (notwendigen) Ungenauigkeit – in Kapitel 3 geht es in Kapitel 4, das in großen Teilen die Arbeit von Strube 1 reproduziert, um unterschiedliche gattungstheoretische Definitions- und Begriffsformen. Bezüglich der Genus-Differentia-Definition wird festgehalten, daß sie zwar zu univoken Begriffen führe, daß es in der Literaturwissenschaft aber keine Linnésche Begriffspyramide mit nach einheitlichen Kriterien unterschiedener Systematik und Hierarchie geben könne. Die Begriffsexplikation wird als Mischung aus lexikalischer Definition (das heißt empirische Aussage über den Sprachgebrauch) und Bedeutungspostulat (Anforderung an künftige Sprachverwendung) vorgestellt und mit einem Exkurs über Sonette illustriert. Sprachanalytisch-phänomenologische Begriffserklärungen bestehen aus unabgeschlossenen Merkmalsreihen und liefern poröse Begriffe. Historische Erläuterungen werden mit Wittgensteins Familienähnlichkeit korreliert. Zwischendurch werden Anforderungen und Voraussetzungen von klassifikatorischen Begriffen erläutert. Sie sollen adäquat, geschlossen, homogen, distinktiv, komplementär, koordiniert sein; sie sind theorieabhängig, paradigmenabhängig und konventionsgebunden. Schließlich werden klassifikatorische Begriffe den von einem Idealtypus ausgehenden typologischen Begriffen gegenüber gestellt. Es wird festgehalten, daß Gattungsnamen mit beiden Arten von Begriffen verknüpft werden können.

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Das fünfte Kapitel ist den Kriterien der Gattungsbestimmung gewidmet. Diskutiert wird dabei das Verhältnis der beiden Hauptkriterien Inhalt und Form und die Tatsache, daß es neben sprachlich-literarischen Kriterien (wie Sprachfunktion oder Aussagemodus) auch außer-literarische Kriterien, zum Beispiel psychologische oder soziologische, geben kann. Mehrfach festgehalten wird, daß die Kriterien der Beschreibung (wie die Begriffe) nicht einheitlich, sondern vielfältig und vom jeweiligen Erkenntnisinteresse abhängig sind.

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Korpusbildung und / oder
die Literatur als Gattungssystem

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Korpusbildung, das heißt die Frage, wie sich Textgruppen konstituieren lassen, ist das Thema des sechsten Kapitels. Diskutiert werden die bekannten Vor- und Nachteile induktiver und deduktiver Verfahren einschließlich des unvermeidlichen Zirkels, daß »das Allgemeine [...] nur aus dem Besonderen bestimmt werden, und das Besondere nur aus dem Allgemeinen erkannt« werden kann. Festgehalten wird in diesem Zusammenhang, daß Gattungen als »Konstrukte und Konventionen«, als »historisch-soziale Institutionen« zu verstehen seien und damit auch als eine Form von Sinngebungsmustern, die für Autoren und Leser eine ordnende und stabilisierende Funktion hätten. Als Illustration werden zwei Parabeln von Georg Philipp Harsdörfer und Arno Schmidt abgedruckt.

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Kapitel 7 steht unter der Leitfragestellung, ob die Literatur aus einer bestimmbaren Menge von Gattungen beziehungsweise aus einem Gattungssystem bestehe. Diskutiert und als unplausibel abgelehnt wird Hempfers Unterscheidung zwischen transhistorischen Tiefenstrukturen (Schreibweisen) und historisch bedingten Oberflächenphänomenen (Gattungen), die ähnlich wie Goethes Vorstellung von den Naturformen die Literatur als Ganzes auf einige Basisformen zurückführen wolle. Abgelehnt wird auch eine an der reinen Oberflächenpragmatik orientierte semasiologische Vorgehensweise. Allein die Sichtweise von Gattungen als soziale Institutionen mit Konstruktcharakter erlaube eine ausreichend flexible Einteilung, bei der Texte zu mehreren Gattungen oder auch zu keiner zugeordnet werden könnten. Schließlich wird darauf hingewiesen, daß die Antwort auf die Frage, ob Literatur ein Gattungssystem darstelle, vom zugrunde gelegten Literaturkonzept abhängig sei. Ein normatives Literaturkonzept (Literatur ist, was Merkmale der Literarizität aufweist) wird ebenso abgelehnt wie ein deskriptives (Literatur sind schriftlich fixierte Texte – wobei mir nicht klar ist, warum dieser erweiterte Literaturbegriff als deskriptiv bezeichnet wird). Bevorzugt wird dagegen ein pragmatischer Zugang (Literatur ist, was eine soziale Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Kultur dafür hält), der in seiner sozialen und historischen Komponente mit der Konzeption von Gattungen als sozialen Institutionen in Übereinstimmung gebracht werden kann. Damit bleibt allerdings die Ausgangsfrage nach der Literatur als Gattungssystem offen.

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Naturformen als poetogene Strukturen,
Schreibweisen als Funktionsbegriffe
und historische Gattungen

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In Kapitel 8 führt Zymner noch einmal Goethes Unterscheidung zwischen Dichtarten (die als gewußte und bewußte Normen die Produktion und Rezeption von Texten bestimmenden historischen Textgruppen) und Dichtweisen (typologisch unterschiedene generische Strukturen der Dichtung) ein. Für letztere, die sowohl als Goethes Naturformen, Staigers Qualitäten oder Hempfers Schreibweisen aufgefaßt werden können, schlägt Zymner eine Reformulierung als historisch und kulturell konstante ästhetisch-soziale Möglichkeiten vor. »›Ästhetisch-sozial‹ soll dabei soviel bedeuten wie, daß sich Menschen in ihrem jeweiligen sozialen und historischen Kontext durch oder in Form von Epik oder Lyrik oder Drama ästhetisch (nämlich sprachgestaltend und Wirkung erzeugend) verhalten.« (S. 161) Dichtweisen ließen sich als kommunikative Möglichkeiten im Alltag rekonstruieren, als Alltagsmöglichkeiten, die als Grundmöglichkeiten der Dichtung angesehen werden können, als historisch-soziale Naturformen, als poetogene Strukturen in der alltäglichen Sprechtätigkeit. Während diese Sichtweise für das Erzählen relativ plausibel gemacht werden kann, erscheinen die als poetogene Strukturen für Drama (»spannungsteigerndes Vorspielen«) oder für Lyrik (»die mal grüblerische, mal melancholische oder auch reflektierende Einzelrede«) vorgebrachten Kandidaten weniger selbstverständlich und bleiben zudem unerläutert.

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Nachdem das Hempfersche Konzept der Schreibweisen in das der poetogenen Strukturen transformiert wurde, soll in Kapitel 9 das Konzept der Schreibweisen von Verweyen-Witting in einen sogenannten Funktionsbegriff überführt werden. Gemeinsam sei Schreibweisen, »daß sie ganz unterschiedliche literarische Techniken oder Mittel in ganz unterschiedlichen literarischen Gattungen gewissermaßen zu oder mit einer Funktion oder Wirkung ›binden‹« (S. 187). Schreibweisen seien materialästhetisch gesehen Wirkungsdispositionen, produktionsästhetisch Wirkungsintentionen und rezeptionsästhetisch zielten sie auf Wirkungen ab. Dabei sei jede literarische Schreibweise die medienspezifische Ausprägung eines medienübergreifenden Verfahrens. Manche dieser Schreibweisen stabilisierten sich historisch zu Gattungen, also zu konventionalisierten Sinnbildungsmustern. Das Verhältnis zwischen den im Bereich der Alltagshandlungen angesiedelten poetogenen Strukturen und den zum künstlerischen Bereich gehörenden Schreibweisen und Gattungen ist nach Zymner nicht vollends geklärt: »Ob alle Gattungen auf poetogenen Strukturen aufruhen, ob alle Gattungen auch irgendwelchen Schreibweisen folgen, ob sich gar in allen Gattungen poetogene Strukturen und Schreibweisen treffen, oder ob sich ale poetogene Strukturen und alle Schreibweisen zu Gattungen stabilisieren« (S. 189–190), das alles, so wird lakonisch festgestellt, seien Fragen, auf die es noch keine Antworten gäbe.

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Das letzte Kapitel ist dem Verhältnis zwischen Gattungstheorie und Gattungsgeschichte gewidmet. Referiert werden Frickes Unterscheidung zwischen Textsorte als systematischem Ordnungsbegriff und Genre als historisch begrenzter literarischer Institution sowie Voßkamps Auffassungen von Gattungen als »Bedürfnissynthesen«, in denen bestimmte historische Problemstellungen beziehungsweise Problemlösungen oder gesellschaftliche Widersprüche artikuliert und aufbewahrt seien. Festgehalten wird, daß es keine abschließende Geschichte einer Gattung geben könne, da jede historische Darstellung nur eine nachträgliche Interpretation des Geschehens aus einer bestimmten Perspektive sei. Betont wird, daß Gattungen keine gleichsam wachsenden oder sich verändernden Organismen seien, auch wenn man die Geschichte solcher Kulturprodukte nicht nur als reine Abfolge, sondern auch als zusammenhängende Entwicklung erzählen könne. Nach der Feststellung, daß die Erforschung der Gattungsentwicklung trotz der Bemühungen des Formalismus noch in den Kinderschuhen stecke, schließt das Kapitel und das Buch etwas unvermittelt mit Fowlers Liste der Faktoren, die den Wandel der Gattungen bestimmen können.

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Gattungstheorie
ohne Gattungszuordnung

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Zymners Gattungstheorie wendet sich an Studierende. Das kann man aus dem Klappentext und aus dem Stil der ersten Kapitel schließen, eine einleitende Reflexion über Intention, Ziel oder Reichweite des Buches liegt nicht vor; oder pointierter: wir haben es mit einer Gattungstheorie ohne Gattungszuordnung zu tun. Erkennbar wird die Ausrichtung auf die Zielgruppe unter anderem dadurch, daß Zymner sich besonders in den ersten Kapiteln die Mühe macht, erstmals auftauchende Fachtermini der Literaturwissenschaft kurz und prägnant zu erläutern. Zwei auch auf Studierende zielende Strukturierungsverfahren erfüllen allerdings ihren Zweck kaum. Die Stichwort-Marginalien wirken fast willkürlich gesetzt, an einigen wenigen Stellen ballen sich mehrere auf einer Seite, meistens jedoch kommen der Text – zum Beispiel große Teile von Kapitel 5, 8 oder 10 und das ganze Kapitel 9 – und der Leser gut ohne diese angeblichen Orientierungshilfen aus. Bei vielen dieser Stichworte ist die Orientierungskraft ohnehin begrenzt, so beispielsweise bei nackten Allgemein-Begriffen wie Verfahren oder Konstrukte oder Mischungen und besonders bei Allerwelts-Kombinationen wie Verwirrungen und Mißverständnisse. Etwas unsystematisch wirkt auch die Verwendung gerahmter Kästen, die wohl Zusammenfassungen herausheben sollen. Diese Kasten-Texte stehen zuweilen am Ende von Kapiteln, öfters aber auch mitten im Text und haben sehr unterschiedlichen Charakter, so daß der Grund, warum ein bestimmter Absatz eingerahmt ist, nicht immer transparent wird. Die kommentierte Auswahlbibliographie mag für Anfänger hilfreich sein, dem fortgeschrittenen gattungstheoretisch interessierten Literaturwissenschaftler bringt sie zu wenig, da er in ihr nicht alle im Text verwendete Literatur findet und er so, da ab der zweiten Nennung in den Fußnoten das wenig hilfreiche »a.a.O.« verwendet wird, im ungünstigsten Fall auf die zeitraubende Quellenjagd an den Seitenenden geschickt wird.

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Nichtsdestotrotz ist Zymners Buch über weite Strecken eine gelungene Einführung in die Gattungstheorie. Als Einführung kann Zymners Buch auch deshalb gelesen werden, weil er ausführlich die inzwischen als Klassiker der (deutschen) Gattungstheorie anzusehenden Texte von Hempfer, Steinmetz, Strube, Voßkamp und anderen zu Wort kommen läßt (Zitate von einer halben bis dreiviertel Seite sind keine Seltenheit). Dem einführenden Charakter des Buches ist wohl auch die Tatsache geschuldet, daß Positionen in der Regel leicht vereinfacht dargestellt werden und die besonders in den 70er und 80er Jahren intensiven Diskussionen zur Gattungstheorie nicht in ihrer differenzierenden Komplexität berücksichtigt werden.

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In den Kapiteln 8 und 9 führt Zymner seinen eigenen Beitrag zur Gattungstheorie aus – in einer Reformulierung sowohl des Hempferschen wie auch des Verweyen / Wittingschen Konzepts von Schreibweisen. Die Unterscheidung zwischen poetogenen Strukturen, Schreibweisen als Funktionsbegriffen und konkreten historischen Gattungen mag durchaus ein heuristisches Potential in sich tragen. Es liegt wohl am überwiegend einführenden Charakter des Buches, daß dieses heuristische Potential wenig sichtbar wird. So bräuchten wohl nach wie vor die poetogenen Strukturen präzisierender und konkretisierender Ausführung – außerhalb des einfachsten Falles des Erzählens. Auch eine vergleichende Diskussion von Zymners Vorschlag mit den bereits vorliegenden Konzepten sowie die Erörterung von Zymners Begriffstrias im Hinblick auf die Vermittlung von Theorie und Geschichte stehen noch aus.

 
 

Anmerkungen

Werner Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur literaturwissenschaftlichen Definition, Klassifikation, Interpretation und Textbewertung. Paderborn: Schöningh 1993.   zurück