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Martin Walser - Bestätigung eines Generalverdachts?

  • Matthias N. Lorenz: »Auschwitz drängt uns auf einen Fleck«. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Mit einem Vorwort von Wolfgang Benz. Stuttgart / Weimar: J. B. Metzler 2005. 560 S. Gebunden. EUR (D) 49,95.
    ISBN: 3-476-02119-X.
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Mutprobe

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Seit der Friedenspreisrede in der Paulskirche 1998 stehen Martin Walsers literarische wie essayistische Äußerungen unter »Generalverdacht«; sie haben zu regen Diskussionen in der Öffentlichkeit geführt und heftige literaturwissenschaftliche Fehden ausgelöst. In dieser explosiven Stimmung eine Dissertation über einen Autor zu schreiben, der eng mit der kulturellen wie politischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland verknüpft ist und den deutschen (Nachkriegs-)Kanon wesentlich mitbestimmt (wenn von einem solchen denn noch gesprochen werden kann), ist brisant, zumal es Matthias Lorenz um literarischen Antisemitismus geht, um ein Thema also, das immer noch in hohem Maße neuralgisch besetzt ist. Eine Untersuchung über die Judendarstellungen im Œuvre Martin Walsers und seinen Auschwitzdiskurs – ein überaus dringliches Projekt – muss mit einer Fortsetzung der polemisch geführten, zum Teil aggressiven Debatte rechnen und kann den zu erwartenden Einsprüchen allein mit Präzision begegnen, mit philologischer Akribie und genauer Textarbeit, wie sie Matthias Lorenz’ über 500 Seiten starke Studie ohne Frage auszeichnet.

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Im Zentrum der Dissertation steht Walsers umstrittener Roman Tod eines Kritikers, in dem die antisemitischen Topoi, so Lorenz, recht unverblümt zu Tage treten. Von diesem Text aus wird eine Relektüre des Gesamtwerks unternommen, denn diejenigen Tendenzen, die in dem späten Roman offensichtlich werden – provoziert durch eine Kritik, die Walsers Positionen radikalisiert –, seien den früheren Essays, Dramen und Prosaarbeiten subtextuell bereits eingeschrieben; was »subtextuell« genau bedeutet, welche ästhetischen Strategien die Evokation verborgener Botschaften bewirken, wäre an dieser Stelle in methodisch-theoretischer Hinsicht vielleicht zu überdenken gewesen. Mit dieser These setzt Lorenz Werkkontinuität gegen die geläufige Annahme, der linkspolitisch orientierte Walser der sechziger Jahre habe sich nach und nach zu einem konservativen Autor gewandelt, dem vornehmlich an dem großen Projekt der deutschen Nation gelegen sei. Lorenz geht hingegen davon aus, dass Walser immer schon, allerdings zunächst verdeckt, mit antisemitischen Klischees gearbeitet, Opfer- und Täterpositionen systematisch vertauscht und an der Phantasie eines harmonisch-geeinigten Deutschland (ohne Juden) fortgeschrieben habe.

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Methodik

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Aus Lorenz’ leitender Fragestellung ergibt sich das methodische Problem, dass Walsers Werk nicht unter rein ästhetischen Gesichtspunkten als autonomes Œuvre betrachtet werden kann, sondern eine ethische Perspektive ins Spiel kommt. Der Autor kann nicht als frei schwebende Instanz einer souveränen fiktionalen Welt konzipiert werden, sondern ist, zumal als intellektueller Zeitgenosse, für seine Texte verantwortlich zu machen. Lorenz muss also eine fundamentale (mittlerweile allerdings vielfach hinterfragte) Prämisse der literaturwissenschaftlichen Zunft aufgeben, nämlich die Annahme, der Autor bewege sich jenseits seines Textes, könne weder in der Figurenrede noch in der Erzählfunktion ausgemacht werden. Diesem »Verschwinden« des Autors aus dem Werk, das die hermeneutische Literaturwissenschaft begründet hat und die poststrukturalistische Literaturtheorie mit ganz anderen Argumenten fortsetzt, steht ein Lektüre-Projekt entgegen, dem es im Anschluss an interkulturelle und postkoloniale Ansätze um Verantwortlichkeit und den Umgang mit Minoritäten in ästhetischen Artefakten geht – und damit auch um den Autor. Lorenz greift entsprechend in einem ausführlichen methodischen Kapitel (»Vom Versuch, den Autor zu fassen«) literaturtheoretische Modelle auf, die den Autor als konkrete Instanz entgegen seiner poststrukturalistischen Verflüchtigung wiederzugewinnen versuchen – Modelle, wie sie Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko in dem stark rezipierten Band Texte zur Theorie der Autorschaft zusammengestellt haben. Der Autor sei – so der Tenor der Beiträge – durchaus im literarischen Werk präsent, beispielsweise als Instanz, die die intertextuellen Strukturen bestimmt, oder aber als impliziter Autor (Wayne C. Booth), der durch den Zusammenhang von Werten und Normen der Textwelt konturiert wird, also durch die Auswahl und das Arrangement der sprachlichen Elemente. Insbesondere die Interferenzen zwischen diversen Texten eines Autors, die Wiederholungen und Parallelen in literarischen Aussagen, geben Auskunft über den impliziten Autor – Lorenz berücksichtigt entsprechend vor allem diejenigen Partien bei Walser, die den Autor in Brüchen (zum Beispiel der Figurenzeichnung oder der Figurenrede) und in Parallelen (zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten) sichtbar werden lassen. Vielleicht hätte dieser theoretische Teil etwas zugespitzt werden können, um das methodische Instrumentarium zu schärfen und die Analysen abzusichern.

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Lorenz situiert sich also in der virulenten Debatte über die Wiederkehr des Autors, die weder als planer Biographismus noch als psychoanalytischer Ansatz gemeint ist. Seine methodische Entscheidung, den Autor als »Urheber« des Textensembles vorauszusetzen, ist völlig plausibel, ja unabdingbar und hätte über die Definition des Literaten als Intellektuellen gestützt werden können – eine Rolle, die Martin Walser durchaus für sich in Anspruch nimmt. Ein Autor, der sich engagiert zum Tagesgeschehen verhält, vielleicht sogar im Sinne Bertolt Brechts »eingreifend denkt«, ist für seine Positionen, und zwar auch in seinen literarischen Texten, haftbar.

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Dass Lorenz die Instanz des Autors geradezu reklamieren muss, bestätigt sein ausführlicher und überaus sorgfältig recherchierter Überblick über die kontroverse Rezeption von Walsers Roman Tod eines Kritikers. Denn vielfach werden die relativierenden Strategien literarischen Erzählens, das fragwürdige Positionen einzelnen Figuren überantworten kann, zum Argument, um den ästhetischen Text beziehungsweise den Autor gegen seine eigenen Äußerungen zu immunisieren. Die literarischen Verfahren, die Aussagen relativieren und perspektivieren können, werden genutzt, um die Verantwortlichkeit des Autors in Abrede zu stellen, um ihn von seinem Werk zu distanzieren und den fiktiven Figuren die problematischen Haltungen zu überantworten. Im Kontext ethischer beziehungsweise politischer Fragen jedoch – hier der Frage, wie mit Minoritäten umgegangen wird – ist diese Argumentation wenig ergiebig, die politische Entscheidungen (für eine bestimmte Lesart) als ästhetische behauptet. Wurde in der apologetischen Diskussion über Walsers Roman beispielsweise unterstrichen, dass ein erschriebener Mord kein wirklicher sei, so wird die Trennung von Fiktion und Nicht-Fiktion, eine zentrale Prämisse des hermeneutischen Autonomie-Konzeptes von Kunst (die von kulturwissenschaftlichen Ansätzen aufgeben wird), in interessierter, sprich: politischer Weise genutzt.

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Antisemitismus-Forschung

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Im Anschluss an seine methodischen Überlegungen rekonstruiert der Verfasser das weite Feld der Antisemitismus-Forschung, um Walsers Œuvre (literar-)historisch zu kontextualisieren. Lorenz beschreibt die dynamische Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland nach 1945, also den Wandel seines Erscheinungsbildes. Behandelt werden zudem der Philosemitismus als positive Stigmatisierung, die nach 1989 verstärkte Tendenz, Täter zu Opfern zu machen, und das persistierende Argument, durch den Holocaust unfrei geworden zu sein, die Deutungshoheit über die eigene deutsche Geschichte verloren zu haben.

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Gegen dieses zeitgeschichtliche Panorama setzt Lorenz die Untersuchungen über »literarischen Antisemitismus« ab – ein Terminus, den Martin Gubser für die »Bibel« des Liberalismus im 19. Jahrhundert, für Gustav Freytags Roman Soll und Haben, entwickelt hat. Als Kennzeichen des literarischen Antisemitismus gelten klare, vielfach moralisch gewichtete Dichotomisierungen, bestimmte Stilmittel, ebenso der Einsatz klassischer Topoi: Dazu gehören die schöne Jüdin, die die christlichen Sexualtabus sprengt und als Inkarnation der Verführung gilt, der lächerliche Jude, der sich unter anderem durch Feigheit auszeichnet, und der gefährliche Jude, der mit Intrigen und (weiblicher) List arbeitet. Aufschlussreich ist zudem die Namengebung, die als »nicht diskursfähig«, als Setzung, die stigmatisierenden Abwertungen geradezu naturalisiert, und der Gebrauch von Literaturjiddisch als Chiffre für Andersheit. Lorenz gewinnt durch die Auseinandersetzung mit der Forschung, die zugleich einen historischen Blick auf das 19. Jahrhundert eröffnet, eine Vielzahl an Kriterien für die Beurteilung antisemitischer Strategien in literarischen Texten. Allerdings verweist der Verfasser wiederholt auf die Grenzen solcher Kataloge, denn jeder literarische Text, jeder historische Kontext entfalte seine eigenen Varianten. Und auch der Punkt, an dem Antisemitismus beginne, sei schwer auszumachen (S. 75) – Lorenz geht mit großer Vorsicht ans »Werk« und überdenkt wiederholt die Schwierigkeiten seines Unternehmens.

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Wie jüdische Figuren nach 1945 in der deutschsprachigen Literatur gestaltet werden, entfaltet Lorenz ebenfalls über die Forschung, die gemeinhin drei Phasen unterscheidet: Treten in den fünfziger Jahren Juden vornehmlich als Opfer der Nazis auf, so fungieren sie in den Sechzigern als Zeugen der Vernichtung, in den Siebzigern dann als Projektionsfläche für eine Kritik an der spezifischen »Vergangenheitsbewältigung«. Lorenz situiert sich also in der genau sondierten Forschungslandschaft, so dass seine Arbeit für jeden ergiebig ist, der sich mit literarischem Antisemitismus in der deutschsprachigen Literatur überhaupt beschäftigt.

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»Tod eines Kritikers«

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Das Herzstück der Untersuchung bildet Walsers Generalabrechnung mit Marcel Reich-Ranicki, sein Roman Tod eines Kritikers, dessen Analyse eine genaue Rekonstruktion der Debatte, ihrer Protagonisten und Organe sowie ein Vergleich der kursierenden Fassungen vorausgehen. Lorenz trägt die zahlreichen Vermutungen über die Handlungsweise Frank Schirrmachers zusammen – die Deutungen reichen von Aufmerksamkeitspolitik, wirtschaftlichem Kalkül, Anspruch auf Diskurshoheit bis zu Vatermord – und profiliert die intrikate Situation, dass ein Vorabdruck des buchstäblichen »Kritikerverrisses«, des imaginierten Mords, in der FAZ Walsers Sieg über den verhassten Kritiker mit seinen eigenen Mitteln, also mithilfe des Feuilletons, bedeutet hätte. Die Ablehnung hingegen habe die Medienkritik Walsers bestätigt, die sein Roman reflexiv zum Gegenstand macht, und den Opferdiskurs des Autors intensiviert.

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Neben den einschlägigen journalistischen Positionen diskutiert und kritisiert Lorenz die literaturwissenschaftlichen Stellungnahmen, an erster Stelle den Sammelband Der Ernstfall. Martin Walsers »Tod eines Kritikers« von den Herausgebern Dieter Borchmeyer und Helmuth Kiesel, die den Antisemitismusverdacht als »wirksamste Ausgrenzungs- und Totschlagvokabel im Wörterbuch der Insinuation« bezeichnen und gegen die »inquisitorische Pflege politischer Korrektheit« angehen (Zitat: S. 116 f.), gegen eine »Korrektheit« also, die Minoritäten vor sprachlichen Diffamierungen zu schützen versucht. Lorenz’ konzise Zusammenstellung der Argumente lässt nebenbei deutlich werden, dass vielfach gegen junge Kritiker Walsers Sturm gelaufen wird, dass sich also zwei akademische Generationen im Kampf um den Nomos des literaturwissenschaftlichen Feldes befinden.

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Der jüdische Schmarotzer
und Medienmogul MRR

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Lorenz entscheidet sich, aus nahe liegenden Gründen, den Roman Walsers als Schlüsselroman zu lesen – Bezugspunkt ist unter anderem die Definition von Gertrud Maria Rösch, die, wie auch Dieter Lamping, die Bedeutung von Namen und die Relevanz außerliterarischer Informationen als latente Sinnebene des Textes betont. Der Roman weist ganz in diesem Sinne manifeste Realitätsspuren auf, stellt Bezüge zu Siegfried Unseld und Ulla Berkéwicz her, zu dem Philosophen Jürgen Habermas, zu Walter und Inge Jens, zu dem Kritiker Joachim Kaiser etc., wobei Lorenz diverse Formen der Verschlüsselung und ihre Intensitätsgrade unterscheidet.

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Zusammengestellt werden zudem die intertextuellen Bezüge des Romans, wie sie die Forschung zum Teil bereits präpariert hat. So arbeitet Walser Thomas Manns Erzählung Gladius Dei ein, die den Münchner Kunstmarkt beziehungsweise ihre jüdischen Akteure polemisch diskreditiert und von dem Thomas-Mann-Spezialisten Yahya Elsaghe als antisemitisch bezeichnet wurde. Auszumachen sind darüber hinaus markierte Bezüge zu Borromäus Alexander Sessas Posse Unser Verkehr aus dem frühen 19. Jahrhundert, die das beliebte antisemitische Paradigma des jüdischen, durch Assimilation »unsichtbar« gewordenen Aufsteigers entfaltet. Zudem können Parallelen zu Lion Feuchtwangers Erzählung Gespräche mit dem ewigen Juden und Wilhelm Raabes Roman Der Hungerpastor hergestellt werden, wie Ruth Klüger betont hat. Walser arbeite diese Prätexte, die sich brisanterweise durch klare antisemitische Tendenzen auszeichnen, überaus »plan- und kunstvoll« ein (S. 167).

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Sehr genau nimmt Lorenz dann die Beschreibung des Literaturpapstes Ehrl-König in den Blick, wobei der Roman bis zu wörtlichen Zitaten an den Schmähungen und kritischen Äußerungen Reich-Ranickis entlang geschrieben ist. Auffällig ist zunächst die prononcierte Fremdheit des Kritikers, die über einen eindeutig zu identifizierenden Dialekt hergestellt wird, allerdings keinen jiddischen, sondern einen polnischen, der jedoch über den beiläufig erwähnten Begriff »Perozent« auf den jüdischen Wuchertopos verweist. Auffällig sind zudem das Kosmopolite, das Rastlose und die »Ursprungslosigkeit« Ehrl-Königs – Eigenschaften, die dem traditionsreichen Topos vom wandernden Juden entsprechen, zumal ausdrücklich das Bild des heimatlosen (Vieh-)Juden aufgegriffen wird. Zwar haben die Aussagen, wie Lorenz selbstverständlich berücksichtigt, vielfach den Status von Gerüchten, doch entkräftet der epidemisch-unpersönliche Rumor die Inhalte mitnichten, ähnlich wie Ironie die Aussagegehalte nicht vollständig nivelliert; auch das Gerücht liefert Wissen, das allerdings keinem immanenten Einzelsprecher zugeordnet werden kann.

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Lorenz weist nach, dass in Tod eines Kritikers der jüdische Opferstatus aufgehoben und Ehrl-König auf kultureller Ebene zum Täter stilisiert wird, wie auch der Vergleich biographischer Daten aus Marcel Reich-Ranickis Familie und der Geschichte von Ehrl-König bestätigt: Der fiktive Schwiegervater wird in Walsers Roman zum Kollaborateur des Nazi-Regimes, während sich Pavel Langnas in Warschau mit dem Gürtel erhängt hat. Auch Reich-Ranickis Arbeit im Judenrat, die ihm wohl das Leben rettete, erscheint durch die Transformation zu geheimdienstlicher Tätigkeit als Kollaboration (S. 176) – der Text prozessiert das Vorurteil, die Judenräte hätten die ihnen anvertrauten Menschen ans Messer geliefert. Der Schlüsselroman Walsers, der eine palimpsestische Lektüre geradezu herausfordert, tendiert mithin dazu, die Opfer zu Tätern zu machen und die Sonderstellung von Juden im deutsch-nationalen Diskurs zu unterlaufen.

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Die Darstellung Ehrl-Königs folgt zudem klassischen antisemitischen Zuschreibungen wie Hässlichkeit und sexueller Promiskuität, wie sie auch Otto Weininger (als zentrale Eigenschaft der Juden und des »in Henniden sprechenden Weibs«) betont hatte. Der Kritiker wird in Walsers Roman als Aal bezeichnet – ein Tier, das unübersehbar sexuell konnotiert ist und aus dem Repertoire verunglimpfender antisemitischer Animalisierungen stammt. Der Roman greift zudem physische Kennzeichen auf wie füllige Lippen und Kurzbeinigkeit – rassistische Merkmale, die sich in die jüdischen Körper einschreiben und die Stigmatisierung naturalisieren, wie unter anderem Sander Gilman mit Blick auf das ausgehende 19. Jahrhundert gezeigt hat. Zu den traditionsreichen Klischees gehört darüber hinaus die weit verbreitete Phantasie, Juden seien unproduktiv, unschöpferisch – vor allem in der Musik, wie Richard Wagner salonfähig gemacht hat und Franz Kafka gegen sich selbst wendet. Juden (wie auch Frauen) werden – das haben unter anderem Christina von Braun und Marjorie Garber gezeigt – aus der symbolischen Ordnung, aus dem (männlichen) Identitätsdiskurs ausgeschlossen und erscheinen deshalb als Imitate ohne Originale, als Schauspieler und als unschöpferisch beziehungsweise zersetzend und kritisch; notorisch ist die Diffamierung einer Presse, die fest in jüdischer Hand sei, wie unter anderen Fontane (in seinen Briefen) und Heinrich Mann (in seiner Gesellschaftssatire Im Schlaraffenland) monieren. Ehrl-König lässt entsprechend »das Kind«, den geborenen Text – eine beliebte Schöpfungsphantasie männlicher Autorschaft – in seinen Armen sterben.

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Der Roman profiliert zudem die kalte Perfektion des Kritikers, seine Rationalität – ein Titel Gilmans lautet Die schlauen Juden. Über ein dummes Vorurteil – sowie seine Maschinenhaftigkeit (als Gegenentwurf zum Organisch-Schöpferischen). Und Walsers Roman thematisiert die Ehrsucht, wie sie assimilierten Juden gemeinhin nachgesagt wird, auch zum Beispiel in Fontanes erstem Berliner Gesellschaftsroman, in L’Adultera. Die kulturelle Welt wird bei Walser von nepotistischen Seilschaften dominiert, von einer eingeschworenen jüdischen Gemeinde, die den Markt bestimmt, Karrieren determiniert und Urteile fällt, also kulturelle Deutungshoheit für sich in Anspruch nimmt. Die Nachweise, die Lorenz akribisch zusammenträgt, sind in hohem Maße überzeugend und werden über ein »close reading« sowie über die Ergebnisse der Forschung abgesichert. Lorenz schließt: »Das alles – von der unüberbrückbaren Fremdheit über die verschiedenen Verschwörungstheorien, das auf Bereicherung ausgelegte Schmarotzertum und die zersetzende Destruktivität bis zur psychischen und physiognomischen Minderwertigkeit – sind tatsächlich Merkmale aus dem klassischen Repertoire des Antisemitismus. Walser flicht nicht nur verkappte Anspielungen auf antisemitische Stereotype in seinen Roman ein, sondern bedient sich tradierter antisemitischer Diffamierungsmuster wie beispielsweise der Herabwürdigung der jüdischen Figur zum Tier, ja zum Schädling durch ihre Beschreibung als Ungeziefer« (S. 195).

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Das Gesamtwerk

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Ausgehend von diesem Befund unternimmt Lorenz eine umfassende Relektüre des Gesamtwerkes von Martin Walser, wobei zunächst der Umgang mit jüdischen Persönlichkeiten wie Ruth Klüger, Ignatz Bubis, Jurek Becker und Marcel Reich-Ranicki beleuchtet wird. In diesen Äußerungen Walsers zeichnet sich eine Argumentationslinie ab, die auch das literarische Werk prägen wird, nämlich die Tendenz, den jüdischen Erfahrungsraum aus dem deutschen zu extrapolieren, eine deutsch-jüdische Kultursymbiose, ja selbst den Dialog abzuweisen, weil Auschwitz für niemanden als für die Überlebenden selbst »erreichbar«, erinnerbar und thematisierbar sei. Das Grauen der Lager wird mithin der Erinnerungs- und Bearbeitungskompetenz von Überlebenden übergeben, und zwar ausschließlich diesen. Was an das Diktum von der Unrepräsentierbarkeit des Grauens anzuschließen scheint, von der Paul Celans Gedichte »sprechen«, kann als Akt der Separation, der Abtrennung gelesen werden, als Absage an einen gemeinsamen dialogischen Erinnerungsprozess. Die Überlebenden werden in einen nur ihnen zugänglichen, monologisch-hermetischen Raum eingeschlossen und damit aus dem Prozess deutscher Erinnerungsarbeit exkludiert. Zu dieser Argumentation gehört – so zeigt insbesondere Walsers Laudatio auf Victor Klemperer –, dass die assimilatorischen Bestrebungen von Juden auf Kosten ihrer zionistischen Emanzipation positiv bewertet werden, und zwar als Versuch, sich dem »Großen und Ganzen« der Nation einzupassen.

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Walser strebt also Normalisierung an, das heißt die harmonisierende und letztlich nivellierende Integration widerständiger Erfahrungen – eine Haltung, wie sie im Zusammenhang der kulturwissenschaftlichen Memoria-Debatte nachhaltig kritisiert wurde. Aus der Position Walsers lasse sich entsprechend ableiten, dass es nicht zuletzt die misslungene Assimilation der Juden gewesen sei, die Auschwitz provoziert habe. Lorenz spitzt zu: »Wer nicht den ›gesunden, normalen‹ […] Weg der Mehrheit mitgeht, sondern auf seiner eigenständigen kulturellen Identität beharrt, hat seine Unzugehörigkeit selbst verschuldet.« (S. 250) Parallel zu diesem Assimilations- und Normalisierungsprogramm formuliert Walser in seiner Auseinandersetzung mit Heinrich Heine die poetologische Überzeugung, das Nationale sei das genuine Element des Dichters und eine zweigeteilte Identität weniger als eine einzige. Die Texte Walsers, die sich mit jüdischen Freunden und Autoren beschäftigen, entfalten mithin denjenigen kulturell-utopischen Nationalismus, den der Autor in seinen literarischen wie essayistischen Schriften ausarbeiten wird.

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Bereits in den ersten Theaterstücken werden jüdische Opfer zu Tätern gemacht, die Täter hingegen entlastet (da das NS-System nicht überschaubar gewesen sei), die Auseinandersetzung mit Schuld in den privat-persönlichen Bereich verschoben und strafrechtliche Verfolgung abgewehrt. Walser löst das Thema Auschwitz zunehmend von den jüdischen Schicksalen ab und fokussiert sein Interesse auf deutsche Täter, auf ein »Auschwitz ohne Juden«. Nach einer Unterbrechung in den sechziger Jahren verstärkt Walser in den siebziger Jahren die nationalen Vorzeichen seines Modells. In Brandung beispielsweise findet sich das Bild einer tödlichen Fixierung von Delinquent und Leiche, das die Unmöglichkeit nationaler Identitätsbildung aufgrund deutscher Schuld, vor allem aber aufgrund der Unantastbarkeit des jüdischen Opferstatus zum Ausdruck bringt.

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In seiner Auschwitz-Essayistik wie in Unser Auschwitz etabliert Walser ebenfalls ein exklusives »wir«, das sich gegen die jüdische Memorialpraxis absetzt, gegen die »Sondererinnerungen« der Opfer immunisiert, für die allein Auschwitz »wirklich« sei. In Auschwitz und kein Ende wird der Holocaust gar zu einem identitätsbildenden Erlebnis stilisiert, denn die gemeinsame Scham, die gemeinsame Tragödie der Vergangenheit, vermöge einen nationalen Konsens herzustellen, ermögliche die Nation als homogenes Gebilde – eine ähnliche Richtung schlägt Botho Strauß auf seiner Suche nach einem gemeinschaftsstiftenden Pathos ein, das er in seinem umstrittenen Essay Anschwellender Bocksgesang in der nicht abzuarbeitenden »Tragödie« des Holocaust findet. Die nationale Gemeinschaft wird in Walsers Texten – so zeigt Lorenz in seiner stringenten Lektüre – zunehmend autonomisiert und vor »Vorschriften«, vor Reglements, geschützt, die bestimmte Formen der Erinnerung normativ vorgeben. In der Friedenspreisrede ist es die kleinere Einheit des autonomen Ich, das über seine Memoria souverän und unwidersprochen verfügen will. Weder das nationale Kollektiv noch das Ich sollen sich verantworten müssen beziehungsweise nur sich selbst, nicht jedoch den Opfern Rechenschaft ablegen. Vor dem Hintergrund seiner detaillierten Analysen, die das Argumentationsmuster Walsers akribisch am Text entfalten, ist Lorenz’ Fazit nicht von der Hand zu weisen: Der Autor Walser versucht, nationale Identität zu stiften – über Auschwitz und gegen Juden, denen ein exklusiver Raum der Erinnerung jenseits deutscher Geschichtskonstruktionen zugewiesen wird.

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Fazit

Die Darstellung von Matthias Lorenz ist in hohem Maße überzeugend und bringt genau diejenige philologische Sorgfalt auf, die ein solch konfrontatives Projekt verlangt. Seine Dissertation, die sich überaus flüssig lesen lässt, vielleicht an manchen Stellen etwas breit angelegt ist, liefert nicht nur einen überaus gewichtigen Beitrag zur Walser-Forschung, sondern auch zur aktuellen Debatte über Nationalität und Kanon. Denn Lorenz hinterfragt in seiner Auseinandersetzung mit Martin Walser zugleich die (ästhetische) Konstruktion von Nation, wie sie auch in den postkolonialen Ansätzen und der interkulturellen Germanistik auf dem Prüfstand steht – in diesem Feld hätte sich der Verfasser durchaus situieren können. Lorenz problematisiert den exkludierenden Entwurf nationaler Identität sowie eine spezifische Funktion von Kultur und Kanon, von Philologie, die gemeinsam dem Nationalgedanken zuarbeiten. Wichtig ist seine Untersuchung über Martin Walser jedoch auch deshalb, weil sie die aufklärerische Arbeit am deutsch-jüdischen Verhältnis fortsetzt, weil sie ästhetisch dissimulierte Ressentiments aufspürt und für verschleierte Rassismen in literarischen Texten sensibilisiert.