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Orientalismus als multifunktionaler Diskurs

  • Michael Bernsen / Martin Neumann (Hg.): Die französische Literatur des 19. Jahrhunderts und der Orientalismus. Tübingen: Max Niemeyer 2006. VI, 258 S. Kartoniert. EUR (D) 68,00.
    ISBN: 3-484-50718-7.
[1] 

Zentraler Bezugspunkt der Einleitung und nahezu aller dreizehn Beiträge des vorliegenden Bandes ist Edward W. Saïds 1978 erschienenes Buch Orientalism, dessen französische Fassung, mit leichten Adaptationen an das neue Zielpublikum, 1 bereits 1980 erschien. In Saïds Darstellung kam Bonapartes Ägyptenfeldzug entscheidende Bedeutung zu. Saïd machte nachdrücklich auf dessen textuelle Ermöglichungsgründe aufmerksam, zumal Volneys 1787 erschienenes Werk Voyage en Égypte et en Syrie, insbesondere aber die in 23 großformatigen Bänden zwischen 1809 und 1828 erschienene Description de l’Égypte, ou Recueil des observations et des recherches qui ont été faites en Égypte pendant l’expédition de l’armée française, publié par les ordres de sa majesté l’empereur Napoléon le Grand. Diese »grande appropriation collective d’un pays par un autre« 2 sah er am Ursprung auch einer Reihe spezifisch literarischer Werke der französischen Literatur, von Chateaubriands Itinéraire de Paris à Jérusalem über Lamartines Voyage en Orient bis zu Flauberts Salammbô; ungeachtet ihrer extremen Stilisierungen und imaginären Zuspitzungen arbeiteten auch sie der »maîtrise de l’Europe sur l’Orient« zu. 3 Der differenzierenden Widerlegung dieser These gilt das hier anzuzeigende Sammelwerk. »Der Orientalismus«, resümieren die Herausgeber in ihrer einleitenden Synopse, lasse sich nicht als »eine geschlossene Rede« begreifen, vielmehr handle es sich »um einen multifunktionalen Diskurs, in den vielfältige Projektionen des Betrachters einfließen, die mehr der Selbstfindung als der Beherrschung einer fremden Welt dienen« (S. 5).

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Pluralismus des französischen Orient-Diskurses –
das Spektrum der Beiträge

[3] 

An die Stelle des von Saïd konstruierten einheitlichen europäischen Kollektivsubjekts, das sich den Orient gleichermaßen in Reiseberichten, Wissenschaft und Literatur, in Wort wie in Bild – mehr oder weniger offen imperialistisch-kolonialistisch – zurechtlege, ist hier eine Fülle individueller Stimmen getreten, in denen er sich je unterschiedlich bricht. Der dabei behandelte Zeitraum reicht, entgegen der Titelankündigung, vom 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. In den Blick genommen werden vorzugsweise herausragende Autoren, häufig mit der Konzentration auf ein einzelnes Werk, im Grenzfall ein einziges Gedicht. Vier dieser großen Autoren, Chateaubriand, Lamartine, Nerval und Flaubert, hatten auch bei Saïd besondere Beachtung gefunden. Daneben gibt es aber auch Beiträge zu Nicolas Fromaget, einem Vergessenen des 18. Jahrhunderts, und zu imaginären Zuschreibungen –»Despotisme, luxure et cruauté« –, die, obwohl mit einzelnen Namen verbindbar, relativ frei im abendländischen Bewusstsein flottieren. Das Spektrum der behandelten Gattungen umfasst Lyrik, Roman, Reiseliteratur, weniger den Essay und staats- bzw. gesellschaftstheoretisches Schrifttum, mit ihren je unterschiedlichen Möglichkeiten, Imaginäres zur Geltung zu bringen oder auch in Frage zu stellen. Die nach der Entstehungs- und Veröffentlichungszeit der behandelten Texte sich richtende Abfolge der Beiträge trägt deren vielfältigen intertextuellen Verbindungen und der fortschreitenden Pluralisierung des französischen Orient-Diskurses Rechnung, wobei mit der chronologischen Ordnung nicht der Anspruch verbunden wird, eine lineare Entwicklung zu rekonstruieren.

[4] 

Die Zwiespältigkeit des
abendländischen Bildes vom Orient

[5] 

Michel Delon stellt in seinem einleitenden Beitrag die Zwiespältigkeit des abendländischen Bildes vom Orient heraus. Dieser stehe einerseits für eine ursprüngliche Weisheit, andererseits für einen grausamen, sexualisierten Despotismus. Unter dem Titel »Despotisme, luxure et cruauté« wird eine Linie von Montesquieu bis Bataille gezogen, an der abzulesen sei, wie die schon im 18. Jahrhundert aufkommende Überzeugung von der Universalität menschlicher Grausamkeit im 20. Jahrhundert zur Einsicht in spezifisch abendländische Verdrängungsleistungen vertieft worden sei, die erstmals der zwischen »constat« und »complicité« schwankende de Sade ausfabuliert habe (S. 13).

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»Le Cousin de Mahomet de Nicolas Fromaget: un cousin du Candide de Voltaire« ist Jacques Domenechs Beitrag überschrieben. Fromagets als »ouvrage inclassable« der Vergessenheit anheim gefallenes »petit chef d’œuvre« (S. 19) partizipiere an den unterschiedlichsten Romantraditionen des 18. Jahrhunderts und stelle – wie schon der in Konstantinopel endende »Candide« – mit der moralischen Positivierung der Türken und der Kritik an der in Frankreich praktizierten religiösen Intoleranz die kategoriale Trennung zwischen Orient und Okzident vom Standpunkt eines aufklärerischen Kosmopolitismus aus in Frage.

[7] 

Der Orient als Ursprung der biblischen Poesie

[8] 

Bernhard Huss, »Die Grenze zum Orient in Chateaubriands Itinéraire de Paris à Jérusalem und Lamartines Voyage en Orient«, behandelt zwei der von Saïd ausführlicher herangezogenen Texte. 4 Diesem sei entgangen, dass bei Chateaubriand Griechenland als orientalisch durchsetzt inszeniert und dem »Misoturkismus« (S. 48) mit den Mauren und Arabern ein positives Bild gegenübergestellt werde, weswegen von einer axiologischen Opposition Orient-Okzident und einem »einlinigen« [sic!] Anti-Islamismus nicht die Rede sein könne. Auch und stärker noch bei Lamartine, der sich vielfältig mit Chateaubriand auseinandersetze und dessen Türkenbild positiviere, sei die starre Grenze u.a. in einem neuen Bild Griechenlands aufgehoben. Der Orient als Ursprung der biblischen Poesie und die Muslime als »le seul peuple tolérant« erführen eine entschieden positive Bewertung.

[9] 

Peter Ihring stützt sich in seiner Interpretation der Orientales, »Orientalistische Poesie – Victor Hugo, das Morgenland und die Elementarsymbolik«, auf Bachelards tiefenpsychologische Analyse der Naturelemente Wasser, Luft, Erde und Feuer. Hugo mache sich »nur sehr selten« wirklich frei von der »orientalistischen Vorurteilsstruktur« (S. 70); dies zeige sich nicht nur in der diskursiv entwickelten Axiologie, in der dem Orient aus der Sicht okzidentaler Geschichtsphilosophie eine historische Entwicklung abgesprochen werde, sondern auch in der elementarpsychologischen Bildlichkeit: Erde und Luft würden in ihr antithetisch gegenübergestellt, jene als charakteristisches Element des Orients, welches verhindere, »dass die orientalischen Sprecher, die in den einzelnen Gedichten zu Wort kommen, [...] dem offenen Horizont dichterischer Kreativität entgegenfliegen können«, die Luft hingegen als Element des Okzidents, als grenzenloser Raum, »den das okzidentale Genie braucht, um seiner schöpferischen Phantasie freien Lauf zu lassen« (S. 74) – daher könne, dies ausdrücklich gegen Saïd, dessen genereller Tendenz Ihring im übrigen folgt, Hugos literarische Beschäftigung mit dem Orient nur in einem sehr oberflächlichen Sinne als »forme de libération« 5 bestimmt werden.

[10] 

Orient in Paris –
Zu Balzacs Roman La Peau de Chagrin

[11] 

Franziska Meier widmet sich unter dem Titel »Orient in Paris – Zu Balzacs Roman La Peau de Chagrin von 1830« einem in der Balzac-Forschung vernachlässigten Thema. Balzac habe nicht nur der zeitgenössischen Orientmode in einer Reihe »orientalischer Geschichten« Rechnung getragen, zu denen unter anderem »La Fille aux yeux d’or« und »La Duchesse de Langeais« zählten, sondern in einem frühen Grundriss der »Comédie humaine« sogar eine eigene Abteilung »Scènes de la vie militaire – Les Français en Égypte« vorgesehen (S. 82 f.). La Peau de Chagrin sei mit dem Antiquitätenladen, in dem die Beute des eroberten Orients verschleudert werde, und dem aus ihm stammenden unheilvollen Chagrinleder, das es Raphaël de Valentin erlaubt, um den Preis der Lebensverkürzung ein exzessives Leben zu führen, einer »merkwürdige[n] Pervertierung des Talismans vom Glücksbringer zum Fluch«, eine bildlich spannende und weitreichende kritische »Reflexion über das gewandelte Verhältnis zwischen Orient und Okzident« gelungen. In solch feinfühliger Reaktion auf den französischen Kolonialismus sei Balzac »seiner Zeit sicher voraus gewesen« (S. 91).

[12] 

Identitätssuche im Medium der
Orientvergegenwärtigung

[13] 

Kirsten Dickhaut, »›Le vrai est ce qu’il peut‹ – Zur (De)Konstruktion des Orients in Gérard de Nervals Werk«, greift u.a. auf zwei in Reproduktionen beigegebene Gemälde Bellinis, Bildnis Mehmet II. und Predigt des heiligen Markus in Alexandria, zurück. Nervals Voyage en Orient stelle eine »Identitätssuche« im Medium der Orientvergegenwärtigung dar, die sich nicht als bloße Konstruktion des Anderen (S. 95), sondern nur als Zusammenspiel von Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion fassen lasse. Dies zeige sich in der metatextuellen Selbstbeobachtung der konstruktiven Tätigkeit, in assimilatorischen Tendenzen und in nachgeschobenen Berichtigungen vorausgehender Grenzbestimmungen ebenso wie in der Zurückweisung des Klischees vom türkischen Ikonoklasmus und in den zahlreichen durch Bellinis Gemälde inspirierten verbalen Porträts, in denen sich eine »auffällige Vermeidung der typisch westlichen«, dem Orient zugeschriebenen »Merkmale« feststellen lasse (S. 105).

[14] 

Fixierung auf Altägypten –
Effekte des Schönen, Fremden und Bizarren

[15] 

Gautier gelten nicht weniger als zwei Aufsätze. Im ersten, »Ästhetisierte Alterität – Théophile Gautiers Orientalismus im Spiegel seiner Frauengestalten«, geht Helmut Meter auf die weiblichen Figuren in den drei Erzähltexten Une nuit de Cléopâtre, Le Pied de momie und Le Roman de la momie ein. Worum es Gautier in auffälliger Fixierung auf Altägypten gehe, seien die Effekte des Schönen, Fremden, Bizarren, in denen sich nicht ein genuines Interesse am Anderen als solchem, sondern die Wendung gegen das »Hier und Jetzt einer missliebigen Gegenwart« zeige: »Die Alterität, zumal in ihrer höchsten ästhetischen Vollendung, [...] stellt den aufwendigen Versuch eines imaginativen Korrektivs dessen dar, was aktuellerweise der Fall ist.« (S. 122)

[16] 

Martin Neumann bestätigt diese These schon im Titel seines Beitrags »Le roman de la momie: Ägyptische Kunst und Kultur als Konkretisation eines ästhetischen Ideals«. Zwar habe sich Gautier bei seinen teilweise extensiven Beschreibungen streng an die von ihm benutzten Quellen wie Champollions Lettres écrites de l’Égypte und Ernest Feydeaus Hìstoire des usages funèbres et des sépultures des peuples anciens gehalten. Doch sei es ihm nicht um einen historischen Roman gegangen, sondern um »eine sinnfällig gemachte Konkretisierung« der eigenen »ästhetischen Ideen« (S. 136), den Aufbau eines »individuelle[n] künstlerische[n] Mikrokosmos« (S. 131). Dabei habe Altägypten nicht nur die künstlerisch transformierte Materialgrundlage geliefert, sondern sei auch, in seiner mehrtausendjährigen Präsenz, als Bestätigung der eigenen die Schönheit vergötternden Kunstvorstellungen geltend gemacht worden.

[17] 

Das Enigma des orientalischen Fremden –
undurchschaubares Geheimnis
des Selbst und des Anderen

[18] 

Dagmar Reichardt, »Voir L’Orient – Flauberts Tentation de Saint-Antoine und das Phantastische als Intermedialitätsphänomen«, knüpft an Foucaults Le ›fantastique de bibliothèque‹ von 1967 an. Mit Bezug auf Antonius-Darstellungen eines anonymen Bosch-Schülers des 16. Jahrhunderts, Callots und des älteren Nicolas Cochin – Abbildungen der drei Bilder sind beigefügt – stellt sie die hochgradig gesteigerte Intermedialität der dritten Tentation-Fassung neben die von Foucault hervorgehobenen intertextuellen Bezüge. Was Flaubert in seiner Umdeutung des Heiligen zum modernen, von seinen Bildern besessenen Künstler zur Geltung bringe, seien »Vieldeutig- und Vielschichtigkeit«; das »Enigma« des orientalisch Fremden werde so »als undurchschaubares Geheimnis des Selbst und des Anderen« verdichtet (S. 168).

[19] 

Michael Bernsen widmet sich unter dem Titel »Sprechende Hieroglyphen: Erinnerungsbilder Ägyptens bei Charles Baudelaire« dem zweiten »Spleen«-Gedicht der Fleurs du Mal, »J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans«, speziell der Schlussstrophe:

[20] 
Rien n’égale en longueur les boiteuses journées,
Quand sous les lourds flocons des neigeuses années
L’ennui, fruit de la morne incuriosité,
Prend les proportions de l’immortalité.
Désormais tu n’es plus, ô matière vivante!
Qu’un granit entouré d’une vague épouvante,
Assoupi dans le fond d’un Sahara brumeux;
Un vieux sphinx ignoré du monde insoucieux,
Oublié sur la carte, et dont l’humeur farouche
Ne chante qu’aux rayons du soleil qui se couche. 6
[21] 

Hegel habe die Hieroglyphen und die Mythen von Memnon und der Sphinx als Zeichen einer im Anschaulichen befangenen, stimmlosen, sich selbst undurchsichtigen Kultur gelesen, deren Rätsel erst der mythisch in Ödipus, historisch in Napoleon verkörperte abendländische Geist gelöst habe. Diese geschichtsphilosophische Konstruktion, die bestens zu Saïds Orientalismus-These passe, werde von Baudelaire widerrufen, indem er das Ich seines Gedichts im erinnerten ägyptischen Orient als Ursprung der Kultur nur mehr opaken sinnlichen Effekten begegnen lässt, womit zugleich die Ermächtigung des okzidentalen Subjekts – sinnfällig in Gérômes Gemälde Œdipe, das Napoleon in selbstbewusster Pose vor der maßstäblich verkleinerten Sphinx von Gizeh zeigt (als Abbildung beigegeben) – widerrufen sei.

[22] 

Von der Bilder- zur Orientsuche
im französischen Reisebericht des 19. Jahrhunderts

[23] 

Frank Estelmann, »›Aller chercher l’Orient en Égypte‹ – Von der Bilder- zur Orientsuche im französischen Reisebericht des 19. Jahrhunderts«, relativiert Saïds Orientalismus-These in diachroner wie in synchroner Hinsicht: diachron, indem er die Ablösung des vom Ideal des »bien voir« geleiteten aufklärerischen Reiseberichts durch die stark autobiographisch gefärbte, aufs Pittoreske ausgehende romantische Bildersuche wie deren spätere Kritik durch antiromantische Reisende herausstellt; synchron durch den Aufweis der zeitgleich konkurrierenden »gelehrte[n] Ägyptophilie« und des »pittoreske[n] Orientalismus« (S. 204) wie auch der Sonderstellung Ägyptens innerhalb des französischen Orient-Diskurses.

[24] 

Klaus-Dieter Ertler wartet schon in seinem Titel »Orientalismus als axologisches [!] System« mit einem Fehler auf und lädt auch durch seinen terminologisch aufgeblasenen Eröffnungssatz 7 nicht dazu ein, seiner »Darstellung und Funktion des Orients in Émile Zolas Roman L’Argent« – so der Untertitel – wohlwollend zu folgen. Nach Ertler bildet die mit Saïd kritisch verstandene »Diskursformation des Orientalismus auf allen narrativen Ebenen, [...] von implizitem Autor, Erzähler und Figuren, eine tragende Funktion« (S. 212). Den Nachweis dafür freilich bleibt er weitgehend schuldig, denn es gelingt ihm nicht, überzeugend nachzuweisen, dass die Metaerzählung eines auf die okzidentale Rationalität angewiesenen und märchenhaften Reichtum versprechenden Orients zugleich maßgeblicher Referenzrahmen des Autors ist. So heißt es etwa, in Verkennung der gewählten Distanzierungsstrategie, der Erzähler folge »[m]it markanten Passagen in erlebter Rede« Mme Carolines »Einschätzung des Orients« und erkenne in ihm »eine Grundlage, auf der der Reichtum wie auch der Humanismus zu seiner wahren Entfaltung« hätte kommen können (S. 217). Den Nachweis der »Verständnisinnigkeit zwischen Figuren, Erzähler und dem implizitem [!] Autor« (S. 218) vermag Ertlers literaturwissenschaftlich ungenaue Analyse jedenfalls nicht zu erbringen, weswegen denn auch, im Widerspruch dazu, von gelegentlicher, »kaum merkbar[er]« »Distanzierung des impliziten Autors« die Rede ist, »der das kolonialistische Unternehmen hin und wieder mit einer nuancierten Kritik beobachtet« (S. 218).

[25] 

Bekehrungsgeschichte der berühmten
Kurtisane und Katholizismuskritik

[26] 

Kian-Harald Karimi schließlich, »›Au temps où ils taillaient leurs idoles‹ – Die Wiederkehr des Gleichen und des Anderen im spätantiken-orientalischen Pasiche von Anatole Francé Thaïs«, untersucht, wie die Bekehrungsgeschichte der berühmten Kurtisane zu einer Kritik des zeitgenössischen Katholizismus genutzt wird. Mit der »Auflösung der Grenze von Orient und Okzident im topischen Übergangscharakter des spätantiken hellenistischen Alexandrias« [sic!] und der »des christlich-jüdischen Monotheismus im spätantiken-frühmodernen Polytheismus« (S. 229) mache France im Medium einer historisch transponierten Fiktion einen »Pluralismus der religiösen, philosophischen und kulturellen Äußerungen der Spätantike« geltend, der insofern Saïds Orientalismus-These widerspreche, als jene »notwendige historische Voraussetzungen des Morgen- wie Abendlandes ins Spiel bringen« (S. 249).

[27] 

Saïd – willkommener Stichwortgeber
und provozierender Aufhänger

[28] 

Zu Saïds mittlerweile über ein Vierteljahrhundert altem Orientalismus-Buch wie auch zu seinen späteren einschlägigen Stellungnahmen 8 gibt es umfängliche Literatur, ganz zu schweigen von den wesentlich durch Saïd angestoßenen (post-)colonial studies, u.a. Homi K. Bhabas und Gaytari Chakravorty Spivaks. Diese Diskussionen bleiben erstaunlicherweise nicht nur in den Einzelbeiträgen, sondern selbst in der Einleitung der Herausgeber weitgehend unberücksichtigt, obwohl Saïd regelmäßig als zentrale Referenz genannt wird. Tatsächlich handelt es sich, aufs Ganze gesehen, weniger um systematisch angelegte Überprüfungen Saïds an exemplarisch herangezogenen Quellen als vielmehr um Einzelstudien zum Orientbild vorzugsweise einzelner herausragender Autoren, wobei Saïds Kernthese der diskursiven Unterwerfung des Orients zum Zweck seiner (post-)imperialistischen Beherrschung, lediglich als willkommener Stichwortgeber bzw. provozierender Aufhänger dient. Ungeachtet dessen mag es sinnvoll erscheinen, die wichtigsten der gegen Saïds These angeführten Kritikpunkte in Erinnerung zu rufen 9 und auf die hier vorgelegten Ergebnisse zu beziehen.

[29] 

Saïd auf dem Prüfstand

[30] 

Hauptsächlich sind folgende, vielfach miteinander verbundene Einwände gegen Saïds Orientalismus-These vorgebracht worden:

[31] 

Saïd stelle den Okzident als einen monolithischen Block dar; er differenziere das jeweilige Orientbild weder historisch noch unter den Aspekten von »Rasse«, Klasse und gender oder den je unterschiedlichen Beiträgen einzelner Nationen, von denen etwa Deutschland, das weniger als Kolonialmacht hervortrat, auffällig vernachlässigt werde. Er ontologisiere geradezu den Okzident und verfalle damit in eben jenen Reduktionismus, den er zu Unrecht dem okzidentalen Orient-Diskurs zuspreche. Im Übrigen sei der Orient nicht der einzige Andere, in Bezug auf den der Okzident sich selbst begriffen habe.

[32] 

Er verstehe das Verhältnis Okzident-Orient als einseitig gerichtet, ziehe die Ein- bzw. Rückwirkungen des Orients auf den Okzident nicht in Betracht und vermöge daher nicht jenen produktiven Hybridisierungen Rechnung zu tragen, in denen die orientalische Fremde zum integralen Bestandteil des sich fortschreitend verändernden okzidental Eigenen würde.

[33] 

Er lasse die materiellen und institutionellen Bedingungen von Kolonialismus und Imperialismus zugunsten einer nahezu exklusiven Textzentrierung außer Acht. Dabei werde er nicht nur den genuin wissenschaftlichen Leistungen, sondern auch den herausragenden künstlerischen Zeugnissen des Okzidents nicht gerecht, die er beide umstandslos in die Nähe imperialistisch-kolonialistischer Propaganda rücke. Die große okzidentale Kunst des 19. Jahrhunderts aber, auf die er sich beziehe, sei durchweg (auch) eine innerokzidentale Gegenrede gegen den herrschenden imperialistisch-kolonialistischen Diskurs.

[34] 

Er kritisiere die wissenschaftskonstitutiven Notwendigkeiten der Begriffsbildung und Verallgemeinerung, indem er sie in unzulässiger Weise ethisch negativ als Indizien fehlender Empathie in Bezug auf den Orient belege, und übersehe vollständig, dass die okzidentale wissenschaftliche Orientalistik durch Bereitstellung sprachlichen und sonstigen kulturellen Differenzwissens allererst die Voraussetzungen für eine mögliche Begegnung von Okzident und Orient bereitgestellt habe.

[35] 

Die doppelte Berufung auf Foucaults subjektfeindliche Diskursanalyse und Gramscis marxistischen Humanismus sei theoretisch inkonsequent. In jener habe ein ethisch inspirierter Aktivismus, in diesem ein selbsttätiges, subjektfreies Geschehen keinen Platz. Gehe man überdies mit Foucault davon aus, dass Wirklichkeit keine selbstevidente Gegebenheit, sondern stets eine Leistung diskursiver Konstruktionen sei, so werde vollends unverständlich, im Namen welcher »Wirklichkeit« das orientalistische Versagen des Okzidents tribunalisiert werde.

[36] 

Der Orient komme nur als Objekt westlicher Wahrnehmung und Analyse bzw. nur als Opfer westlichen Handelns, nicht als tätiges Subjekt in den Blick. Saïds Orientalismus-These lasse sich daher »wohl auch [...] als eine [...] Projektion der traditionellen und mittlerweile wieder brandaktuellen islamischen Zweiteilung der Welt in Dār al-harb – das Kriegsgebiet, das durch den Dschihad gegen die Ungläubigen zu unterwerfen ist – und Dār al-islam« interpretieren. 10

[37] 

Saïds Orientalismus-These und die
Beiträge des vorliegenden Bandes

[38] 

Bezieht man diese Hauptpunkte der Kritik an Saïds Orientalismus-These auf die Beiträge des vorliegenden Bandes, so zeigt sich, dass in ihnen:

[39] 

die Zurückweisung des ethisch aufgeladenen Opfermythos keine Rolle spielt, was mit der post-nationalsozialistischen deutschen Tendenz zur entlastenden Identifizierung mit den Opfern historischen Unrechts und der vergleichsweise geringen kolonialgeschichtlichen Erfahrung der Deutschen zusammenhängen könnte; 11

[40] 

dass ebensowenig die theoretisch-methodologischen Bedenken gegen die ethische Abwertung wissenschaftlicher Verfahren und die Doppelberufung auf Foucault und Gramsci zur Sprache kommen;

[41] 

dass sie, hierin mit Saïd übereinstimmend, durchweg textzentriert sind und wie er nicht nach »Rasse«, Klasse oder gender unterscheiden, sich aber noch viel exklusiver als Saïd auf Zeugnisse der – französischen – literarischen Hochkultur stützen, die sie überwiegend gegen den Orientalismus-Vorwurf in Schutz nehmen.

[42] 

Mit anderen Worten: Saïds These steht nicht in ihrem existenziellen Impetus, nicht in ihren theoretisch-methodologischen Prämissen bzw. Implikationen, nicht in der problematischen Heterogenität ihrer materialen Grundlagen, sondern im Wesentlichen nur in ihrer pauschalisierenden Subsumption auch der französischen Hochliteratur zur Diskussion. 12 Das ist wenig bezogen auf die Breite der bereits vorliegenden Kritik an Saïd, zugleich aber der Preis für eine fast durchweg gediegene und gelegentlich subtile Profilierung der Orientvergegenwärtigungen als Ferment einer literarischen Gegenrede zum imperialistisch-kolonialistischen Diskurs der inneren wie äußeren Unterdrückung und Ausbeutung. Von dem okzidentalen Orientalismus im Sinne Saïds wird man nach Bernsens / Neumanns Sammelband noch weniger als vorher sprechen können.

 
 

Anmerkungen

»Le texte de l’Orientalisme publié ici diffère légèrement de l’original anglais, car il a été adapté en vue du public français: quelques développements (concernant notamment la scène américaine) sont supprimés, quelques explications ajoutées.« (Edward W. Saïd: L’orientalisme. L’orient crée par l’occident. Préface de Tzvetan Todorov. Troduit de l’américain par Catharine Malamoud. Paris: Seuil 1980, S. 10, Fußnote).   zurück
Ebd. S 102.   zurück
Ebd. S. 106.   zurück
»Pour un être aussi précieux que Chateaubriand, l’Orient était une toile abîmée attendant ses efforts de restauration. L’Arabe oriental était ›l’homme civilisé retombé dans l’état sauvage‹; il n’est donc pas étonnant que, tandis qu’il observait les Arabes essayant de parler français Chateaubriand se sentît comme Robinson Crusoé tout ému d’entendre son perroquet parler pour la première fois.« (Ebd., S. 198)
»Lamartine était un voyageur et un pèlerin dans le temps et l’espace véritables, il est devenu un moi transpersonnel qui s’identifie lui-même, en puissance et en conscience, avec l’Europe dans son ensemble. Ce qu’il voit devant lui, c’est l’Orient dans le processus de son futur et inévitable démembrement, conquis et consacré par la suzeraineté europénne.« (Ebd., S. 206)
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Ebd., S. 193.   zurück
Charles Baudelaire: Œuvres complètes. Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois. Bd. 1, Paris 1975, S. 73.   zurück
»Wenn man den konstruktivistischen Argumentationen zeitgenössischer Theorieentwürfe folgt, so wird der Prozess der Perzeption von Wirklichkeit nicht mehr über die Subjekt-Objekt-Differenzierung als ontologische Betrachtung interpretiert, sondern als ein System von Beschreibungen, das mit anderen Systemen in kommunikationeller Verbindung steht und die Wirklichkeit als interne Zuschreibung registriert und definiert.« (S. 209)
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U.a. »Covering Islam. How the Media and the Experts Determine How We see the World«, New York 1981. »Orientalism Reconsidered«, in: Cultural Critique no.1, Fall 1985, S. 89–197; »Culture and Imperialism«, London 1993.   zurück
Stellvertretend seien genannt: Günter H. Lenz: Edwart W. Saïd, in: Hartmut Heuermann, Bernd-Peter Lange (Hg.): Contemporaries in Cultural Criticism, Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris 1991, S. 443–470; Bryan S. Turner: Orientalism, postmodernism and globalism, London, New York 1994; John M. MacKenzie: Orientalism-History, Theory and the Arts, Manchester, New York 1995; Amia Loomba: Colonialism / Postcolonialism, London, New York 1998; Kramer, Martin: Ivory Towers On Sand. The Failure of Middle Eastern Studies in America, Washinton D.C. 2001; Siegfried Kohlhammer: Populistisch, antiwissenschaftlich, erfolgreich. Edward Saïds »Orientalismus«, in: Merkur 56/4, April 2002, S. 289–299.   zurück
10 
Kohlhammer, S. 289.   zurück
11 
Ich sehe hier davon ab, dass zwei der Beiträge von französischen Autoren stammen.   zurück
12 
Für den deutschsprachigen Bereich vgl. Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin, New York 2005.   zurück