IASLonline

Polyptotonisches Indexikalisierungs-Asyndeton,
oder: Die hippopotamischen Algorithmen der Dekonstruktion

Jörg Löffler über »Unlesbarkeit« bei Goethe

  • Jörg Löffler: Unlesbarkeit. Melancholie und Schrift bei Goethe. (Philologische Studien und Quellen 192) Berlin: Erich Schmidt 2005. 177 S. Kartoniert. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 3-503-07943-2.
[1] 

Heiterkeit und Melancholie

[2] 

Nachts, wenn schwarzsilbern die Wolken ziehen, räubergleich, sprengt ein junger Reiter mit wehendem Mantel durch die Wälder. Es ist Johann Wolfgang Goethe. Auf der Suche nach seltenen Mineralien steigt der Naturforscher in feuchtglitzernde Bergwerksstollen hinab. Vom Gewitter überrascht, wirft der Wanderer mit einem Stück Holzkohle den lyrischen Augenblick auf die grob gezimmerte Wand der Schutzhütte – so kennt man Goethe. Apathisch hingegen, das Kinn in die Hand gestützt, den schweren leeren Blick auf Uhrglas und Schädel gesenkt: so kennt man ihn nicht. Goethe ist kein Melancholiker. Er ist ein Mann der Tat. Und nicht nur das: Selbst mit Schillers Schädel in der Hand dichtet er von »freye[r] Luft« und »Sonnenlicht«: 1 Goethe ist, in Anlehnung an eine Formulierung von Harald Weinrich, ein Heiterkeitsideologe, 2 und in diesem Sinne wollte ihn die Forschung auch meist als großen Versöhner sehen (vgl. S. 154).

[3] 

So ungefähr kann man sich die Forschungstradition denken, gegen die sich Jörg Löffler zu Beginn seiner Dissertation Unlesbarkeit. Melancholie und Schrift bei Goethe wendet: die »Kontinuität eines Goethebildes, das in einseitiger Weise die harmonischen und versöhnlichen Züge betont« (S. 9). Dennoch geht es dem Verfasser nicht um jene Melancholie, die auch in der Goethe-Forschung schon als Kehrseite von Goethes Heiterkeit beschrieben worden ist. Ja, genau genommen ist es ihm gerade nicht um diese Melancholie zu tun, die in »psychologischen und soziologischen, existentialistischen und ideologiekritischen, geistes- und sozialgeschichtlichen Ansätzen […] als immer schon Gegebenes [figuriert], dessen sprachlich-literarische Gestaltung am Modell von Inhalt und Ausdruck gemessen wird. Solche Interpretationen«, heißt es weiter, »suchen unter oder hinter der Textoberfläche nach einem gleichsam ontologisierten Gefühl ›Melancholie‹ […]. Die literarische Form wird dabei entweder ganz ausgeblendet oder bestenfalls als Belegmaterial für die abgezogenen Thesen verwandt« (S. 10).

[4] 

Melancholie und Unlesbarkeit

[5] 

Damit ist das Signalwort gefallen: die ›Ontologisierung‹, und da es sich um einen der Lieblingsvorwürfe der Dekonstruktion handelt, ist klar, wie die vorliegende Arbeit verfährt: dekonstruktiv, und zwar in erster Linie im de Manschen Sinne. Es geht darum, »Melancholie mit dem Prozeß literarischer Darstellung selbst zusammen[zudenken]« und die »Melancholie als Index einer fundamentalen Krise der Bedeutungskonstitution« zu verstehen. Gewährsmänner dafür sind »Benjamin, Derrida und de Man«, die »[a]usgehend von Konzepten wie ›Schrift‹ und ›Allegorie‹ […] auf die aporetische Struktur sprachlich-literarischer Semiose aufmerksam gemacht« und damit »Lektürestrategien bereitgestellt [haben], die es erlauben, eine spezifisch melancholische Textualität in Goethes Werk herauszuarbeiten« (S. 10 f.).

[6] 

Zu diesem Zwecke will der Verfasser zunächst den »zentralen Begriff[ ] der ›Unlesbarkeit‹ aus einschlägigen Texten von Derrida und de Man [rekonstruieren]« (S. 11). »Das dekonstruktive Theorem der Unlesbarkeit«, schreibt er, sei »ein ›Kampfbegriff‹ gegen hermeneutische Totalisierungsversuche«, »Bezeichnung eines konstitutiven Mangels, einer nicht aufzufüllenden Leerstelle im Zentrum des Textes«, »[d]ie Unentscheidbarkeit […] zwischen ›fröhlicher‹ Kritik und ›trauriger‹ Suche nach dem verlorenen Sinn«, die »nicht etwa in einem neutralisierenden Ausgleich« resultiere (S. 12). Das alles klingt ein bisschen nach Nietzsche (vgl. S. 12) und sehr nach de Man, nämlich nach seiner klassischen Definition der »Allegorie des Lesens«. 3 Allerdings führt der Verfasser de Man mit einem ganz anderen Begriff ins Feld, nämlich »de Mans neu akzentuiertem Begriff der Ironie« (S. 12). Man erführe hier gerne genauer, worum es sich dabei handelt – zum Beispiel, inwiefern de Man an den frühromantischen Ironie-Begriff Friedrich Schlegels anknüpft, ihn »neu akzentuiert[ ]« und worin der Unterschied zur Allegorie in de Mans Sinne liegt. Doch es gibt hier keine Erläuterung und keine Fußnote, 4 sondern bloß die Feststellung, bei der erwähnten »Unentscheidbarkeit« handele es sich um eine »Radikalisierung der Melancholie«, die der Verfasser schließlich in einfacher Anführung »›Melancholie der Melancholie‹« nennt (S. 12).

[7] 

Mit Blick auf de Mans rhetorische, erklärtermaßen nicht-hermeneutische und damit angeblich nicht-›totalisierende‹ Lektürepraxis, so scheint es, bezeichnen die Begriffe ›Allegorie‹, ›Ironie‹, ›Melancholie‹ und auch noch ›Melancholie der Melancholie‹ für den Verfasser der vorliegenden Studie ungefähr dasselbe 5  – eben die für sich genommen doch schlichte und nicht gerade neue Einsicht, dass ein Text in sich widersprüchlich – dekonstruktiv: »aporetisch« – ist: dass etwa seine propositional-konstative »Predigt« und seine rhetorisch-performative »Praxis« einander widersprechen. 6 Um dies zu erkennen, bedarf es in der Tat der »Aufmerksamkeit auf die Performanz eines Textes« (S. 13) – das ist spätestens seit den suggestiven Sprachspielen der Sophisten, aber auch Platons bekannt, und die antike Rhetorik lehrt es ausdrücklich: Performativität ist der Sache nach keine Entdeckung des 20. Jahrhunderts. Was aber, bei allem gerechtfertigtem Interesse für die sprachmateriell-rhetorische Seite eines Textes, am eher inhaltlich orientierten »Zusammentragen von Thesen zu einem bestimmten Thema – wie etwa der Melancholie« (S. 13) so verboten 7 sein soll oder gar am ›Abziehen‹ von Thesen, wie es in schon zitierter wilhelminischer Diktion heißt (S. 10) – das bleibt das Geheimnis des Verfassers, zumal seine eigenen »close readings« (S. 11) natürlich genauso wenig ohne Thesen auskommen wie die von ihm pauschal als »relativ unergiebig« verurteilten »Untersuchungen zum Melancholieproblem« in Goethes »Werk« (S. 10 f.).

[8] 

Lektüre-Theorien, Theorie-Lektüren, Trockenblüten-Lese

[9] 

Obwohl sich die vorliegende Arbeit in der Einleitung einmal selbst als »semiologisch orientiert[ ]« bezeichnet (S. 11) – diese verwirrende Aussage wird nicht erklärt –, ist sie methodologisch der Dekonstruktion zuzuordnen. Und so kommt es, dass sie die von ihr zugrundegelegte »Theorie der Lektüre […] als Lektüre entfalt[en]« möchte (S. 13). Sie tut dies unter Rückgriff auf de Man und Derrida. Der Verfasser beginnt mit Derridas Aufsatz Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch, in dem er »eine experimentell-essayistische Darlegung jener Philosophie der Schrift« sieht, »wie sie Derrida in den Jahren danach so erfolgreich weiterentwickelte« (S. 14). Was man im Folgenden liest, ist eine Aufreihung von Derrida-Topoi und -Assoziationen: Es geht, wieder ohne jegliche Erläuterung, um die »›Stimme‹« als »das Versprechen des transparenten Sinns, der reinen Erkenntnis, der Identität mit sich selbst«, deren »Gegenmodell […] der ›Jude‹ […] als Trope, als ›Name-für-etwas-anderes‹« sein soll (S. 17) – aber was heißt das? Wäre die ›Stimme‹ also im Umkehrschluss keine ›Trope‹? Oder ein ›Name-für-etwas-das-nicht-anders-ist‹? Irgendwie schon, muss man sich denken, denn irgendwie sollen sich ja im ›phonozentrisch‹ gedachten Zeichen, Derrida zufolge, Signifikant und Signifikat näher sein als in anderen – aber das ist doch arg vage und müsste weiter geklärt werden: etwa, was den Zusammenhang von ›phonozentrischer‹ Stimme und der in einer optischen Metapher ausgedrückten Sinn-›Transparenz‹ angeht (vgl. S. 41).

[10] 

Doch statt Klärungen gibt es eine Begriffs-Blütenlese: Die »›Ur-Spur‹« wird genannt, das berühmte »›Text-Äußere[ ]‹«, das es nicht geben soll, natürlich auch die »negative (Onto-) Theo­logie« und die »›différance‹«, und, weil das ganz Große noch fehlt, »[d]as Sein«, das »selbst nur« – wieso »nur«? –»ein anderer Name für die Unlesbarkeit« sein soll. Das »Ereignis« darf hier ebenfalls nicht fehlen, genauso wenig die »›Zäsur‹«, die »condition juive« und der »›heilige[ ] Text‹« (S. 18–23) – der gesamte Derridasche Thesaurus wird aufgeboten, in dem ja irgendwie alle Begriffe miteinander und vor allem mit der »Schrift« (vgl. z.B. S. 18) zusammenhängen. Nur geklärt wird nichts; bis auf vage motivische Querverweise erschöpft sich die Darstellung in Zitat und Paraphrase. Ein theoretisch-distanzierter Zugriff von außen auf Derridas Schrift-Theorie fehlt völlig, die Arbeit verfährt vollkommen Derrida-immanent. Dabei ist zwar nichts falsch – wie ja bei der freien Assoziation nichts im strengen Sinne falsch sein kann –, 8 aber die Darstellung ist auch nicht richtig in dem Sinne, dass man etwas Neues über Derrida erführe, was nicht genau so bei ihm stünde.

[11] 

Etwas klarer ist die folgende Darstellung de Mans, die zumindest dann über die bloße Paraphrase hinausgeht, wenn sie – dem eigenen Anspruch gemäß – de Mans Textperformanz beschreibt (S. 29) und daraus interpretatorische Schlüsse zieht: zum Beispiel dass der »dekonstruktiv operierende[ ] Leser[ ]« dem »Melancholiker[ ]« »gleicht«, »wie ihn Benjamin charakterisiert« (S. 30). Es sollte zu denken geben, dass die vorliegende Arbeit da eine echte Einsicht liefert, wo sie hermeneutisch zu einer der ausdrücklich verpönten Thesen vordringt. Insgesamt jedoch bieten die Theorie-Lektüren wenig mehr als eine Sammlung von interessanten Stellen. Denn die Identifikation von Textum-Metaphern (S. 34) ist als solche nicht gerade originell – wo fände man sie auch nicht? –, und das tausendste Zitieren von Hegels ›unglücklichem Bewußtsein‹ (S. 36) verursacht dem Leser, wenn es gar nichts Neues bringt, allenfalls ein ebensolches.

[12] 

Leiden mit Werther. Mediengeschichts-Kittlerei

[13] 

Wenig aufgeklärter über die Dekonstruktion als knapp vierzig Seiten zuvor, macht man sich an die Lektüre des Kapitels über den Werther, einen Text, an dem »vor allem die selbstreferentiellen Strukturen interessant« sein sollen und der »unter der Ägide des permanenten Umschlagens von Stimme in Schrift steh[en]« soll (S. 39). In plausiblem Anschluss beginnt das Werther-Kapitel als Phonozentrismus-Kritik, es geht um einen »prosopopoietische[n] (Erd-)»Geist« […] und pneûma« als »semantische Energie« (S. 40) – da bricht plötzlich, jäh wie ein Gewitter aus heiterstem Himmel, die Medientheorie in die Lektüre ein. Von einem Augenblick auf den anderen ›kittlert‹ es überall: »Würde sie«, das ist die gerade erwähnte »semantische Energie«,

[14] 
abgeschaltet, wäre es in der Tat fraglich, was Apostrophen wie ›Natur‹ und Totalitätsvorstellungen wie ›Welt‹ dann noch zusammenhalten soll – und gar ›im Innersten‹. Damit das nicht geschieht, haben sich die stürmenden und drängenden ›Herzen‹ […] über Nachrichtenkanäle verdrahtet, um die Zirkulation der semantischen Energie in Gang zu halten. Aus solchen Kommunikationsverhältnissen emergieren Sätze wie der zitierte Aufschrei Fausts – Sätze, die Anschlusskommunikationen wie ›Ja, wo denn nur?‹ als erwartbar zurechnen, und nicht etwa ›Wer oder was ist das überhaupt, der / die / das hier angerufen wird?‹. (S. 40)
[15] 

Nun weiß man als Werther-Leser selbst bei der Bereitschaft zum closest reading nicht, wo die Nachrichtenkanal-Verdrahtungen zu suchen sind. Es muss sich wohl um eine Metapher handeln. Was man jedoch als Kittler-Leser weiß: Hier kann der Frauenmund nicht weit sein. Und so heißt es tatsächlich auf der folgenden Seite:

[16] 
Werther […] nimmt […] den Witz gleich wieder zurück: Was ihn »zu lachen machte«, war »wenig lächerlich« […]. »Natur« ist schließlich »heilig« […]. Deshalb muß man ihren Verlautbarungen mit Andacht lauschen, besonders wenn ihr Sprachrohr ein Frauenmund ist. Stimmen wollen vernommen sein, denn sie richten sich ohne signalverzerrende Umwege an das Ohr, das Organ der Interiorität und semantischen Transparenz. Was aber, wenn der Nachrichtenkanal nicht mehr direkt vom Mund zum Ohr, sondern über zwischengeschaltete Relais verläuft? Wenn Stimme in Schrift umschlägt und Hören in Sehen? (S. 41)
[17] 

Friedrich Kittler ist, keine Frage, einer der wichtigsten Medientheoretiker der Gegenwart, und nichts spricht dagegen, sich von ihm ›anregen‹ zu lassen, wie der Verfasser der vorliegenden Goethe-Studie von sich sagt (S. 39). Dabei ist es schwierig genug, verständlich zu bleiben, und dem Verfasser gelingt das allenfalls auf einer Abstraktionsstufe, wo sich konzeptionelle Cluster in ihrer breiten semantischen Streuung einem konkreten Verständnis doch wieder entziehen. Erschreckend aber ist es, wenn sich ausgerechnet eine Dissertation, die ihr Augenmerk auf die »Mimesis an die poetische Bildlichkeit« (S. 22) richtet, hemmungslos Kittlers apodiktischem und, vorsichtig gesagt, nonchalantem Stil hingibt – denn auch medientheoretisch gilt die Maxime: Quod licet Iovi, non licet bovi. Metasprachlich verwendete Formulierungen wie die vom »organisch-psychische[n] System (alteuropäisch: ein Mensch – natürlich eine Frau)« (S. 41) wirken im besten Falle unfreiwillig komisch und epigonal. Schon deshalb gehören sie nicht in eine Dissertation. Dass die übermütige Kittlerei so plötzlich endet, wie sie begonnen hat, macht die Sache nicht besser – im Gegenteil liefert sie einen weiteren Beleg für die fehlende Distanz, konzeptuell wie stilistisch, zur herangezogenen Theorie. Und mag der Verfasser auch Freude gehabt haben an der Formulierung von Stilblüten wie »Unter dem Druck der Eindrücke drängt es ihn zum Ausdruck« (S. 48) oder, grammatisch bedenklich, »Im Augenblick der Unterscheidung kann der Unterscheidende seine Unterscheidung nicht als solche unterscheiden« (S. 43) – dem Leser teilt sich diese Freude nicht mit.

[18] 

Kein »Originalgenie«.
Die immergleiche Goethe-Lektüre

[19] 

Ebensowenig teilt sich ihm viel Neues zum Werther mit. Dass Werther kein »Originalgenie« ist, sondern ein »Zitatenbündel«, ist mehr als bekannt – so ähnlich steht es schon im Goethe-Handbuch. Der Verfasser zitiert die Wendung von Werther als »›homme-copie‹« (S. 87) und vermag ihr kaum neue Aspekte hinzuzufügen. Dass, um ein zweites Beispiel zu nennen, »[d]er Name des Orts[ ] Wahlheim […] auf zwei Kategorien [verweist], die der postulierten Natürlichkeits-Ästhetik […] in den Rücken fallen […]: Kontingenz und Selektivität« (S. 49), ist auch keine Neuigkeit. Jedenfalls handelt es sich bei dem auch noch mit einem Sternchen markierten Namen »Wahlheim« um einen nicht zu übersehenden Wink mit dem hermeneutischen Zaunpfahl, und man fragt sich, ob man ähnlich »kontingente Zuschreibung[en]« wie diese als »Attributionsmuster« bezeichnen muss, die »in den black boxes der Aktanten« »semantisch opak« bleiben (S. 64). Ist das etwa eine der »metapoetisch-semiologisch[en]« Einsichten, wie sie die Arbeit liefern will? (S. 65) Man könnte meinen, hier gelte das vom Verfasser selbst zitierte Werther-Wort, dass seine »Kombinationsart manchmal an Radotage grenze« (S. 81).

[20] 

Was nun von de Man und anderen einmal auf den Werther »übertragen« worden ist (S. 63), wird in ähnlicher Form ein zweites Mal am Tasso durchdekliniert. Es gibt »Aporien der Kommunikation«, »radikale[ ] Sprachskepsis« und einen »selbstreferentiellen Kommentar« (S. 95). Was vom Werther bekannt ist, taucht wieder auf, so auch »die Metapher des Gewebes« (S. 124 und ein weiteres Mal S. 155, für den Werther S. 87). Nichts Neues in diesem Kapitel, und nichts Neues im nächsten über die Trilogie der Leidenschaft, in dem es zum Beispiel – wie im Werther – um »eine Inflation von einander ähnlichen Kopien« geht (S. 147). Man dachte es sich schon – wie auch, dass »Präsenzeffekte« »immer nur virtuell[ ]« sind »und sich als Supplemente der Abwesenheit zu erkennen geben« (S. 151).

[21] 

Einwände. Ahistorische Lektüre
unter dem Deckmantel falscher Bescheidenheit

[22] 

Als Leser wird man sich vermutlich über die schwachen Goethe-Einsichten ärgern, als Rezensent tut man es, zugegebenermaßen, gerade dann, wenn man sich selbst längere Zeit mit den verhandelten Themen beschäftigt hat. Anders gesagt: Nicht nur Goethe, sondern auch die Dekonstruktion hat eine solche Behandlung nicht verdient. Denn viel zu weit klaffen hochfahrender Anspruch und tatsächlich Geleistetes auseinander, zu viele Fehler und Ungereimtheiten durchsetzen den Text, der ja die Standarte der Dekonstruktion vor sich herträgt. Dafür ein paar Beispiele:

[23] 

Richtig ist, dass der Dekonstruktion häufig vorgeworfen worden ist, ahistorisch zu verfahren und unterschiedslos an allen Texten aus allen Zeiten irgendeine Art von Widersprüchlichkeit zu demonstrieren – deswegen ist es sinnvoll, diesen Vorwurf vorwegzunehmen und zu entkräften. Das will auch der Verfasser der vorliegenden Arbeit. Er schreibt über Derrida, speziell als Autor des Aufsatzes Platons Pharmazie:

[24] 
Indem er seine Kritik an den beiden Wurzeln abendländischen Denkens ansetzt, kann Derrida die Dekonstruktion der metaphysischen Tradition historisch fundieren und den Vorwurf, seine Methode sei ahistorisch, von vornherein entkräften. Die dekonstruktive Kritik trifft sowohl das lineare, jüdisch-christliche Geschichtsdenken als auch die griechischen Konzepte von arché und télos […]. (S. 18)
[25] 

Doch gerade, was hier als Argument für Derridas historische Spezifizität ins Feld geführt wird, lässt sich umgekehrt auch als Beleg für Derridas geringes historisches Bewusstsein verstehen. Die Analyse historischer Texte ist noch keine historische Analyse, das heißt eine historisch differenzierende und kontextualisierende Analyse dieser Texte. Eine Analyse also, die unterschiedliche Geschichten für unterschiedliche Zeiten erzählt – was wohl zumindest nicht Derridas und de Mans allererstes Interesse ist. Wie auch immer aber es sich mit dem historischen Bewusstsein dieser beiden Theoretiker verhält: Die hier besprochene Dissertation verfährt vollkommen ahistorisch. Nie wird beispielsweise geklärt, wie sich die immer wieder postulierte »radikale Sprachskepsis« (S. 31, S. 95) zu derjenigen des Barock oder des Chandos-Briefes verhält 9  – und eine solche Klärung wäre um so dringender, als der Sturm und Drang ja gemeinhin gerade als diejenige Epoche gilt, die großes Vertrauen in die Sprache und ihre Fähigkeit zum Symbolisieren, nicht bloß Allegorisieren setzt. Dieses Vertrauen mag ja falsch sein, und seine Kehrseite mag sich auch zeigen lassen – dazu aber müssten die vom Verfasser immer wieder beschworene »fundamentale[ ] Krise der Bedeutungskonstitution« (S. 10) und »radikale Sprachskepsis« (z.B. S. 31, S. 95) wenigstens in Ansätzen historisch skizziert und ins Verhältnis zur so genannten »Krise der Repräsentation« gesetzt werden. 10

[26] 

Eine solche Skizze bietet die Arbeit jedoch nicht, und so scheint es, als finde sich »radikale Sprachskepsis« unterschiedslos und überall da, wo man nach ihr sucht. »[D]rei signifikante – und heterogene – Texte« sollen, so der Verfasser, »ausreichen, um eine Struktur herauszuarbeiten, deren Validität sich nicht in der Anzahl der Belege ausdrücken läßt« (S. 11). Heißt das: eine einzige, immergleiche Struktur? Dann wüsste man gern, wozu die vollkommen traditionelle Auswahl von drei »epochenübergreifenden« Texten dienen soll, wie es in der Einleitung heißt (S. 11) – soll sie zeigen, dass es bei Goethe – gerade bei Goethe! – keine Entwicklung gibt? Oder will der Verfasser sagen, dass historisch-spezifizierende Aussagen grundsätzlich nicht möglich seien? So klingt seine Behauptung im »Schluß«-Abschnitt, dass es »nicht das Ziel dieser Untersuchung war, das Thema Melancholie bei Goethe ›nach Epochen seines Schaffens‹ abzuhandeln«, sondern die Untersuchung »Rückschlüsse auf bestimmte Textkonstellationen zu[lassen soll], die freilich als kontingent und diskontinuierlich zu denken sind« (S. 157). Soll das heißen, sie ließen sich nicht historisch differenziert analysieren oder erklären? Das wäre, ließe sich einwenden, ein historisches Desinteresse, das sich unter dem Deckmantel falscher historischer Bescheidenheit verbirgt.

[27] 

Probleme mit der wissenschaftlichen Form

[28] 

Am deutlichsten zeigt sich vielleicht in der wissenschaftlichen Form der Arbeit jener »Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit« (S. 51), für den der Verfasser doch eigentlich einen Blick haben sollte, weil er ihn an anderen gerne beobachtet. Wie gesagt, er geht nicht zimperlich um mit seinen Vorgängern 11  – die Melancholieforschung zu Goethe wird, wie zitiert, insgesamt vernichtend benotet, und wenn Karl Eibl schreibt, »Goethe wäre freilich nicht Goethe, wenn im nächsten Gedicht nicht doch noch die Aussöhnung folgte«, dann wird er wie ein Schuljunge zurechtgewiesen: »Lassen wir doch Goethe lieber Goethe sein und werfen einen Blick in den Text.« (S. 154) Lawrence Ryan bescheinigt der Verfasser der hier besprochenen Arbeit einen »erlebnislyrischen Kurzschluß«, wenn Ryan schreibt: »[A]us Tasso ist gleichsam ein Goethe geworden.« (S. 127) – Man staunt, wenn man sieben Seiten später über das Gedicht An Werther liest, sein »lyrische[s] Ich« sei »ganz offensichtlich der Autor höchstpersönlich« (S. 134). Wo bei Ryan – wie ein Span im Auge des anderen – ein vorsichtiges ›gleichsam‹ steht, heißt es hier ›offensichtlich‹.

[29] 

Solche Ungehörigkeiten sind nicht charmant, die größte Zumutung – vorsichtig ausgedrückt – liegt jedoch in der Art der philologischen Nachweise. Ein Forschungsüberblick fehlt völlig; wo er zu erwarten wäre, stehen Fußnotenblöcke, die zum größten Teil aus der Nennung von Monographien mit Autornamen und Jahreszahl, aber ohne Titelangabe bestehen (S. 9 f.). Häufig gibt es keine Seitenangaben, wo exakte Stellennachweise erforderlich sind; immer wieder finden sich Nachweise wie »Busse 1952, Schings 1977 und Albert 1983« (S. 9) oder »Benjamin 1993, Derrida 1997b und de Man 1993b« (S. 10). Das ist philologisch noch weniger brauchbar als ein Nachweis nach der mittlerweile und glücklicherweise so gut wie ausgestorbenen ›Passim‹-Unsitte – und der Blick in einen beliebigen elektronischen Schlagwortkatalog bringt genauso viel. Kurios ist, dass es zweimal »Menke 1993« gibt, nämlich Christoph und Bettine, die der findige Leser allerdings auseinanderhalten kann, weil sich die Seitenzahlen ihrer Beiträge nicht überschneiden.

[30] 

Ein anderes Problem sind fehlende und unbrauchbare Nachweise. Nicht die Behauptung, dass etwas »›toposhaft‹« ist (S. 19), möchte man nachgewiesen sehen, sondern man möchte natürlich einen Nachweis des Topos haben – etwa, wie man sie bei Curtius oder Blumenberg findet. Solche topologischen Nachweise fehlen durchweg. 12 Stolpert man im Text über den im Folgenden wiederholt verwendeten Begriff »Bathos« (z.B. S. 68), gibt die Fußnote zu diesem Begriff nicht etwa eine knappe Definition, sondern empfiehlt schmallippig »[z]ur Einführung dieses ironischen Gegenbegriffs zum Pathos […] Alexander Popes Abhandlung Peri Bathous, or the Art of Sinking in Poetry (1728).« (S. 51) Wohlgemerkt: die Ausgabe von 1728. Muss man also zunächst eine gut ausgestattete Rara-Sammlung aufsuchen, bevor man über die nötigen Informationen verfügt, um die Lektüre fortzusetzen?

[31] 

Rhetorik der Analyse: die Ärzte der Buddenbrooks

[32] 

So sehr die Arbeit mit präzisen Nachweisen und Stellenangaben kargt, so gerne und ausführlich identifiziert sie rhetorische Figuren und andere Textphänomene. Ein »doppelte[s] Polyptoton« wird genauso benannt (S. 31) wie die »rhetorisch[e] [A]mplifizier[ung] durch Polyptoton und -syndeton« (S. 156). Eine Reihung ist »asyndetisch[ ]«oder »polysendetisch[ ]« (S. 73). Über »eine gewisse ›arme Leonore‹«erfährt man, dass es sich »übrigens« – man hat ja nicht danach gefragt – um »ein Hapaxlegomenon« handelt (S. 40). Was allerdings völlig offen bleibt, ist die Frage, wozu diese Benennungen dienen sollen. Argumentativ werden sie gar nicht benötigt, und so drängt sich der Gedanke auf, dass der Verfasser seine Fachtermini so benutzt wie die Ärzte der Buddenbrooks die ihren: als Ausweis einer Kompetenz, die nicht recht weiterhilft. 13

[33] 

Das zeigt sich deutlich an der Figura etymologica beziehungsweise am verwandten Polyptoton, die der Verfasser selbst verwendet, wenn er die »Radikalisierung der Melancholie« als »›Melancholie der Melancholie‹« bezeichnet oder die »Tropen« als »›Namen der Namen‹« (S. 12, S. 78). Man weiß nicht, was das heißen soll, aber es klingt bedeutsam, fast so wie das »Verschwinden des Verschwindens« in Hegels Phänomenologie 14 oder – natürlich: Luhmann. Die dem Polyptoton nahestehende »Figura etymologica ist […] eine […] manieristische Stilfigur«, schreibt Wolfram Groddeck dazu in seinem Buch Reden über Rhetorik. »Neuerdings hat die Figura etymologica wieder Karriere gemacht, indem sie sich aus der Rhetorik abgekoppelt und in Wendungen wie ›Beobachten von Beobachtungen und Beschreiben von Beschreibungen‹ als die eigentliche systemtheoretische Zauberformel etabliert hat.« 15 Das heißt aber: Wie alle Zauberformeln hat sie selbst gar keinen Sinn, und so deutet Heinrich Lausberg den Zweck der Figura etymologica als Versuch der »Intensivierung der semantischen Kraft« 16  – anders gesagt: eine rhetorische Kraftmeierei ohne propositionalen Gehalt.

[34] 

Man könnte also denken, das parallele Benennen und Produzieren von rhetorischen Figuren wie dem Polyptoton diene der Selbstreflexion des eigenen Textes oder zumindest seiner Inszenierung – und das mag auch so sein. Allerdings ist dieses Spiel mit der performativen Verwischung von Objekt- und Metasprache gefährlich, wenn es am Ende diese auch für dekonstruktive Arbeiten – für Dissertationen zumal – heuristisch unverzichtbaren Kategorien unkenntlich werden lässt: Und das passiert der vorliegenden Arbeit immer wieder – etwa, wenn von einer »immanent melancholische[n] Theorie der Lektüre« (S. 27) die Rede ist oder von der »Allegorie« als der »›melancholischen Trope an sich‹« (S. 32). Da helfen zur Distanzierung auch keine einfachen Anführungszeichen, die immer wieder verwendet werden (mehrfach z.B. S. 67), als wolle der Verfasser signalisieren, dass man die Begriffe, die er gebraucht, ja eigentlich so gar nicht verwenden könne. Das ist eine sprachskeptisch bemäntelte falsche Bescheidenheit gegenüber einer Metasprache, die Klarheit und nicht Ambiguitäten schaffen sollte.

[35] 

Dekonstruktion der Dekonstruktion
und ihre hippopotamischen Algorithmen

[36] 

Was bringt nun, abgesehen von einem Gang durch interessante Zitate aus der Dekonstruktion, die Lektüre der Arbeit? Die Antwort lautet wohl: Sie bringt Einblicke in die Mechanismen der dekonstruktiven Verwertungsketten oder, genauer: Sie führt jene dekonstruktiven Algorithmen vor Augen, mit denen heute immer noch dekonstruktiv orientierte Dissertationen generiert werden. So gesehen, eignet sich die hier besprochene Arbeit zum Studium der dekonstruktiven Rhetorik, ihrer Topoi, ihrer ideologischen Prämissen, rhetorischen Suggestionen, ihrer Einsichten und logisch wie methodologisch blinden Flecke, ihrer Schlüsse und Fehlschlüsse. So führt die Lektüre etwa sehr deutlich die logisch nur schwer nachvollziehbare Angst vor der »referentialisierend[en] […] [V]ereindeutig[ung]« (S. 15) vor Augen, derzufolge die Dekonstruktion glaubt, mit »thesenhafte[r] Verkürzung« (S. 11) Texten Gewalt anzutun – um dann im Falle der vorliegenden Arbeit – im selben Abschnitt! – selbst munter und apodiktisch anderen im schärfsten Adorno-Ton einen »falsch verstandenen […] Kunstbegriff[ ]« (S. 11) zu attestieren. Oder die Lektüre zeigt die beliebige Aufhängung einer Deutung an einem Einzelwort: So folgert der Verfasser aus der Phrase »Ein Luftgebild statt ihrer festzuhalten«: »›Statt ihrer‹ – das Zeichen ist immer nur der Stellvertreter der Abwesenheit, die es bezeichnet.« (S. 146) Das kann man natürlich aus jeder Verwendung des Wortes »statt« folgern, wie auch das Zeichen per definitionem etwas bezeichnet, was es nicht ist. Man wusste das schon vor der Goethe-Dekonstruktion.

[37] 

Genau diese Art von Hinweisen bilden den Kern der vorliegenden Arbeit, und so verwundert es nicht, dass der »Index« ihr Lieblingswort ist – als Name für ein diffuses Verweisungsverhältnis, das irgendwie besteht, aber nicht präzise benannt wird. »Melancholie« ist der »Index einer fundamentalen Krise der Bedeutungskonstitution« (S. 10, ähnlich S. 31, S. 47, S. 57, S. 87), es gibt »indexikalische Anzeichen« (S. 50), und so weiter. Bis zum Schluss bleibt dabei unklar, was genau die »spezifisch melancholische Textualität in Goethes Werk« ist, die der Verfasser »heraus[ ]arbeiten« wollte 17 (S. 11).

[38] 

»Indexikalisch« in diesem Sinne ist daher auch die hier besprochene Arbeit, und zwar nicht nur in ihrem Verhältnis zu Goethe, sondern vor allem zur Dekonstruktion: Sie ist, mit einem Polyptoton gesagt, die Dekonstruktion der Dekonstruktion. Aus diesem Blickwinkel steht die Arbeit über Unlesbarkeit. Melancholie und Schrift bei Goethe zur Dekonstruktion in einem ähnlichen Verhältnis wie T. S. Eliots Hippopotamus zur katholischen Kirche – und das Hippopotamus, man muss es zu seiner Verteidigung sagen, verrät seinem Leser viel über die organisierte Religion. 18 So gesehen, ist Jörg Löfflers Dissertation eine hippopotamische Lehrstunde über die institutionalisierte Dekonstruktion.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Goethes Gedicht Im ernsten Beinhaus, um das sich Albrecht Schönes Essay Schillers Schädel dreht. Albrecht Schöne: Schillers Schädel. München 2002. Das unbetitelte Gedicht ist ebd., S. 78 f., abgedruckt. Schönes Interpretation liegt ganz auf der Linie des ›heiteren Goethe‹ (vgl. das Zitat zur folgenden Fußnote), der mit seinen eigenen Worten »das Leben aus dem Tode betrachten« will, jedoch »nicht von der Nachtseite, sondern von der ewigen Tagseite her, wo der Tod immer vom Leben verschlungen wird.« Ebd., S. 76.   zurück
Harald Weinrich: Drei Thesen von der Heiterkeit der Kunst. In: Arcadia 3 (1968), S. 121–132, S. 127. Der Verfasser der hier besprochenen Dissertation verweist auf diese Stelle (S. 9).   zurück
»Was auf dem Spiel steht, ist die Möglichkeit, die Widersprüche der Lektüre in eine Erzählung einzuschließen, die fähig wäre, sie zu ertragen. Solch eine Erzählung hätte die universelle Bedeutung einer Allegorie des Lesens.« Paul de Man: Lesen (Proust). In: ders.: Allegorien des Lesens. Frankfurt / M. 1988, S. 91–117, S. 105.   zurück
Später verweist der Verfasser knapp auf Friedrich Schlegel: »Mit Schlegel und Baudelaire sieht er [de Man] in der Ironie einen ›endlose[n] Prozeß, der zu keiner Synthese führt‹.« (S. 35).   zurück
Die Überblendung von Allegorie und Ironie nimmt de Man selbst vor. Von Nietzsches Über Wahrheit und Lüge schreibt de Man sogar, der Text ließe sich »als ironische Allegorie bezeichnen – aber nur, wenn wir ›Ironie‹ mehr im Sinne von Friedrich Schlegel als in dem von Thomas Mann verstehen«. Vgl. Paul de Man: Rhetorik der Tropen (Nietzsche). In: ders.: Allegorien des Lesens (Anm. 3), S. 146–163, S. 159.   zurück
De Mans Formulierung ist die, »daß der Text nicht praktiziert, was er predigt.« Ders.: Semiologie und Rhetorik. Ebd., S. 30–51, S. 45.   zurück
Der Verfasser schreibt: »›Melancholie bei Goethe‹ ist […] der Faktur seiner Texte selbst eingeschrieben und entzieht sich der thesenhaften Verkürzung«. (S. 11) Wer trotzdem Thesen bildet, macht sich des Versuchs der oben zitierten »Ontologisierung« schuldig beziehungsweise, marxistisch, der »[V]erdinglich[ung]« (S. 10, 39).   zurück
Bezeichnend sind Sätze wie: »Werthers Künstlertum [sieht sich] ein weiteres Mal unter das Paradigma der Schrift gestellt.« (S. 51) Das ist eine Aussage, die irgendwie richtig und unwiderlegbar ist, aber auch nicht mehr heißt als: Werthers Künstlertum hat etwas mit Schrift zu tun – wie auch nicht? Ähnlich verhält es sich mit der Aussage, Werthers Briefstil sei eine »Schreibweise, die auf Mündlichkeit abzielt und die Grenzen des Mediums doch nicht überwinden kann« (S. 82). Sicher, aufgeschriebene Dialoge sind keine gesprochenen, das ist richtig – aber wer hätte je diesen Unterschied nicht gesehen?   zurück
»Zur historischen Einordnung des Werther in der Sprachskepsistradition«, auch der des Chandos-Briefes, gibt eine Fußnote zwei Sekundärtexte an, sagt aber nichts zur Sache (S. 79).   zurück
10 
Vgl. hierzu z.B. Kerstin Behnke: Artikel »Krise der Repräsentation«. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8. Darmstadt 1992, Sp. 846–853.   zurück
11 
Mit Blick auf den Tasso schreibt der Verfasser: »Doch greift es zu kurz, die Figuren des Nicht- und Missverstehens, die der Text in so hoher Zahl aufweist, als Ausdruck ›verzerrter Kommunikation‹ […] zu verstehen. Die Aporien der Kommunikation, die der Text ausstellt, reichen tiefer. Sie reichen bis auf den Grund einer radikalen Sprachskepsis […].« (S. 95) Wer hier angeblich zu kurz greift und nur an der Oberfläche bleibt, tatsächlich aber dem Verfasser sein zentrales Theorem liefert, ist Jürgen Habermas. So sagt die zitierte Stelle wenig über Tasso und viel über das Phänomen in Aggression umgemünzter anxiety of influence.   zurück
12 
Ohne Beleg heißt es etwa: »Die Bewegung des Kreisens verweist […] auf ein typisches Attribut der Melancholie« (S. 36).   zurück
13 
»›[…] Kurz, lieber Senator, man muß sich wohl mit der vertrakten Thatsache abfinden, daß die Lunge ein bißchen affiziert ist…‹ ›Lungenentzündung also?‹ fragte der Senator und blickte von einem Arzte zum andern… ›Ja, Pneumonia‹, sagte Doktor Langhals mit ernster und korrekter Verbeugung. […] Das einzige klare Wort war ›Lungenentzündung‹ gewesen, und dieses Wort wurde nicht tröstlicher dadurch, daß Doktor Langhals es in die Sprache der Wissenschaft übersetzt hatte. […] Die Konsulin […] verschied.« Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Hg. und textkritisch durchgesehen von Eckhard Heftrich unter Mitarbeit von Stephan Stachorski und Herbert Lehnert. Frankfurt/M. 2002 (= GKFA, Bd. 1.1), S. 612, 614 und 625 f.   zurück
14 
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Neu hg. von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont. Mit einer Einleitung von Wolfgang Bonsiepen. Hamburg 1988, S. 269 (Abschnitt V.C.a.).   zurück
15 
Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel, Frankfurt / M. 1995, S. 136.   zurück
16 
Heinrich Lausberg: Die Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie. Ismaning 101990, S. 91 (§ 281).   zurück
17 
Ist es gar ein ›Unterton‹? Der Verfasser schreibt: »Was hier thematisch verhandelt wird (Krankheit, Selbstmord, zielloses Weglaufen – also der ganze topische Melancholiekomplex) wird von einem radikal sprachskeptischen Unterton begleitet, der die eigentliche ›Melancholie des Textes‹ ausmacht.«   zurück
18 
Thomas Stearns Eliot: The Hippopotamus. In: ders.: Selected Poems. London 2002, S. 30 f.   zurück