IASLonline

Transfusionen von himmlischem
und natürlichem Blut

  • Anja Lauper (Hg.): Transfusionen. Blut-Bilder und Bio-Politik in der Neuzeit. Zürich: Diaphanes 2005. 288 S. Paperback. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 3-935300-53-0.
[1] 

Himmlisches und natürliches Blut

[2] 

»Ich will die bedingungslose Einigkeit mit dir, die, nach der Aussage der Frommen, die Seele nur mit Gott haben kann. Aber ich will sie mit dir«, sagt Alfred Tutein zu Gustav Anias Horn in Hans Henny Jahnns Fluss ohne Ufer – und diese mystische Einheit, die er mit seinem Freund erreichen möchte, ist für ihn nichts anderes als der »gerade[] Weg zu unserer Blutsverwandtschaft«. Genauer gesagt handelt es sich bei dieser höchsten »Ausschweifung« (ein analoger Begriff zu Musils ›Anderem Zustand‹) um einen Blutrausch – »Er hatte mir die Finger in die Weichteile gestoßen und hielt sie umkrallt« – und, als dessen Fortsetzung, um einen Bluttausch: In einem medizinischen »Experiment[]«mit der Technik der Bluttransfusion »mischen« die beiden ihr Blut mit dem des jeweils anderen im exakten Verhältnis von 1:1. 1

[3] 

Mit dieser Gedankenfigur aus Jahnns Roman lässt sich die doppelte Bedeutung des Begriffs »Transfusion« exakt bestimmten, mit dem der – aus einer Weimarer Tagung aus dem Jahr 2002 hervorgegangene – Sammelband Transfusionen. Blut-Bilder und Bio-Politik in der Neuzeit, herausgegeben von Anja Lauper, arbeitet. Der Band verzichtet klug darauf, der nur allein in den letzten Jahren beträchtlich angewachsenen Flut von Publikationen zum Thema Blut 2 einfach eine weitere hinzufügen (S. 8), sondern konzentriert sich auf einen – im wahrsten Sinne des Wortes – Grenzbereich des Blutes, nämlich die Überschreitung der Grenze des Körpers, die in der Verwundung und seiner künstlichen Verlängerung, der Transfusion, stattfindet. Und das, wie gesagt, in einem doppelten Sinne: Es geht um die Möglichkeit der Übertragung des Blutes auf einem natürlichen – in diesem Falle: medizinischen, aber auch ökonomischen und politischen – und einem theologischen, genauer mystischen, Wege, auf dem das Blut eine Spur der Verbindung zeichnet, die vom Numinalen zum Sinnlichen führt.

[4] 

In beiden Fällen – und das kann als die leitende These des Bandes verstanden werden, die sich in vielen der Aufsätze wie ein (natürlich) roter Faden wiederfindet – ist die Spur des Blutes nicht als Repräsentation oder Zeichen zu verstehen, das in seinem Verweis auf etwas Externes eine Differenz aufbaut, sondern als metonymisch bzw. indexikalisch zu verstehender Kontakt; im Vokabular der Mystik oder des Neuplatonismus würde man sagen: als ›dynamische Identität‹. 3 Das gilt natürlich insbesondere für die zwei im Sammelband hervorgehobenen, sozusagen aus dem Fleisch und vor allem dem Blut des Körpers gewonnen Medien: die Schrift und das Bild.

[5] 

Das Blut der Schrift

[6] 

Am Bett der stigmatisierten Nonne Katharina Emmerick sitzen, wie im Beitrag von Gabriele Brandstetter (»›Gute Nacht du liebes Blut‹. Brentanos Poetik des Schreibstroms«) zu lesen ist, die Vertreter der drei oberen Fakultäten: der Theologe, der prüft, ob die Stigmata übernatürliche Zeichen der Präsenz Gottes sind, der Mediziner (in diesem Falle ist es Johann Christian Friedrich Bährens), der nachweisen möchte, dass es sich bei der Causa Emmerick um einen Anfall von Hysterie und Somnambulismus handelt, der Jurist bzw. eine ganze Kommission, die dem Verdacht der Simulation bzw. des Betrugs nachgehen (S. 164 ff.).

[7] 

Und natürlich sitzt dort auch – sozusagen an Stelle der vierten Fakultät – der gleichermaßen verklärte wie literarisch produktive Dichter Clemens Brentano, der die von ihm selbst »soufflierten[n] Visionen« (S. 177) der Nonne getreulich protokolliert. Seine Schreibtätigkeit reflektiert sowohl die, in diesem Falle vor allem durch die medizinischen Fakultät vertretene, natürliche Lesart des Blutes wie die theologische. Einerseits schreibt Brentano mit Katharina Emmerick die Tradition der Liebes-Mystik fort, die bekanntlich bei der Hohelied-Exegese ihren Anfang nahm und in der Beginenmystik sowie bei Angelus Silesius ihre stärkste Ausprägung fand, andererseits arbeitet er, wie Brandstetter ausführt, mit der zeitgleich (1818) durch James Blundell ›erfundenen‹ Technik der Bluttransfusion, indem er das Blut der Stigmata in die Schrift seiner Aufzeichnungen überführt.

[8] 

Eine ähnliche Bewegung vom Blut zur Schrift, in diesem Falle müsste man aber eher sagen: vom Blut- zum Schriftkörper, arbeitet Gerhard Neumann (»›Der Blutkreislauf der Familie‹. Genealogie und Geschichte bei Franz Kafka«) für Kafkas Tagebuchnotizen und kleinere Schriften heraus. Genauer gesagt kann man nach Neumann die literarischen Texte Kafkas als Protokoll eines Kampfes dieser Überführung (und natürlich auch deren Scheitern) ansehen. Von besonderem Interesse sind dabei, wie Neumann betont, die metonymischen Erweiterungen des empirischen Blutkörpers zum »Blutkreislauf« (S. 192) der Familie und zur »Blutsverwandtschaft der Volksmasse« (S. 194). Auch bei Kafka fungiert, so könnte man resümieren, die Schrift als transfusorisch verlängertes Blut, aber in der größtmöglichen Form der Verdünnung. Bei ihm wird das Blut durch das Wasser der Taufe gereinigt, um dadurch ein Gegenmodell zu dem gleichermaßen Aggression ausübenden wie ihr ausgesetzten Blutkörper herzustellen.

[9] 

Das Blut der Bilder

[10] 

Der Heilige Thomas ist bekanntlich immer für eine Überraschung gut, so auch in der Frage, wie es sein kann, dass Jesus einerseits mit Blut – und zwar mit allem Blut – zum Himmel aufgefahren sei, um dort zur Rechten Gottes zu sitzen, andererseits ›unzweifelhaft‹ mehrere Liter Reliquien-Blut, das kurz vor seinem Tod aus seinen Wunden geflossen ist, hier auf Erden an ausgesuchten Orten hinterlassen hat. Die Antwort ist so genial wie einfach: »Was das Blut anbelangt, das einige Kirchen als Reliquien aufbewahren, so lief dieses nicht aus Christus’ Seite heraus, sondern auf wunderbare Weise, wie man sagt, aus irgendeinem Christusbild«. 4

[11] 

Das Blut der Bilder – Georges Didi-Huberman rekonstruiert die Genealogie dieser lakonischen Behauptung des heiligen Thomas, indem er die Theorie der bis an die Teilhabe an Jesu Körper gesteigerten Imitatio Christi auf die Wundmale des heiligen Franziskus und von dort auf die Wundmale der Bilder anwendet. Das führt ihn zu der These von der dynamischen Identität des Blutes Christi mit der roten Farbe, ja mit Farbe überhaupt, die in seinen Augen weniger Besitz von der Oberfläche des Bildes nimmt, denn für deren Aufbrechen und das Sichtbar-Machen des unter ihr Verborgenen steht. Bei dieser Argumentation müsste man allerdings, so denke ich, die bei Brandstetter berücksichtige mystische Theorie stärker machen. Deren Gedankenfiguren erst stellen die Bedingung der Möglichkeit einer Steigerung der Imitatio Christi zur Teilhabe an seinem mystischen Körper (und daher auch an seinem Blut) dar.

[12] 

In dem Paradigma des »Blutes der Bilder« bewegen sich auch die weiteren Beiträge der ersten, zu einem großen Teil kunstgeschichtlich angelegten, Sektion, z.B. der Aufsatz von Claudia Blümle, »Dünne rote Linie. Verhandlungen zwischen Substanz und Täuschung«, in dem der Fall des Dominikaner-Novizen Hans Jetzer analysiert wird, in dessen Anwesenheit die Pietà in der Marienkapelle seines Berner Klosters zu bluten begann. Blümle lenkt allerdings den Blick weniger auf die Frage nach der Kontiguität des heiligen und des farblichen Blutes, denn auf die nach der Wahrheit der Bilder, die im Rahmen einer im Zusammenhang mit diesem Fall eingerichteten enquête, also einer juristischen Untersuchung, gestellt wurde (und natürlich bis heute keine befriedigende Antwort fand).

[13] 

Die verschiedenen Körper
des natürlichen Blutes

[14] 

Der Band hat jedoch nicht nur eine literatur- und bildwissenschaftliche Ausrichtung, sondern auch eine wissensgeschichtliche, deren Basis (nicht aber vollständige Extension), wie oben schon angedeutet, in der Medizin liegt. Der Beitrag von Joseph Vogl (»Kreisläufe«) thematisiert die Transfusionen – hier nun verstanden als Kommunikation verschiedener Diskurse – zwischen der durch Harvey angestoßenen Debatte über den geschlossenen und zweifachen Blutkreislauf und der Ökonomie. Dieser Aufsatz ist m. E. das überzeugendste Exempel für die von Foucault benannten »Figuren des Wissens«, die sich aufgrund ihrer mittleren Abstraktionshöhe in verschiedenen Bereichen des Wissens einer Zeit finden lassen. 5 So auch die Figur des doppelten und geschlossenen Kreislaufs, die in der Medizin ökonomisch und staatstheoretisch, in der Ökonomie und Staatstheorie medizinisch gedacht wird – und das mit Rückkoppelungen auf den je anderen Bereich, die schließlich, wie Vogel am Ende seines Aufsatzes andeutet, zur Entthronung des souveränen Herzens bzw. cordial gedachten Souveräns führen.

[15] 

Die metonymische Angrenzung verschiedener Wissensformationen wird nicht nur durch das Medium des Blutes, sondern durch die Medien, die das Blut und was in ihm ist, sichtbar machen, vorangetrieben. Anja Lauper rekonstruiert in ihrem Beitrag (»›Der Lebensprozeß im Blute‹ – Zu Carl Heinrich Schultz’ Mikroskop-Phantastik«) die wissensgeschichtlich alles andere als irrelevanten Phantasmagorien des Mediziners Carl Heinrich Schultz bei seiner Betrachtung des Blutes unter einem zusammengesetzten Mikroskop. Im Blut wird – in der Sicht Schultz’ durch das Mikroskop und unter hohem Lichteinfall – das Leben selbst sichtbar (vielleicht aber auch ›nur‹ die etwas später ›entdeckte‹ Molekularbewegung, beschrieben in einer ersten Annäherung).

[16] 

Fazit

[17] 

Wie sich schon aus der Rekonstruktion der Beiträge entnehmen lässt, ist der hier rezensierte Band vor der Gefahr der Heterogenität nicht vollkommen gefeit. Die Interessen der Bild- und Literaturwissenschaftler am Blut sind in diesem Buch weder unter sich, noch mit denen der Wissensgeschichte vollkommen zur Deckung zu bringen. Aber das ist wahrscheinlich auch gar nicht beabsichtigt. Man könnte sagen, dass das titelgebende ›epistemische Ding‹ der Transfusion auch als Methode dieses Bandes zu verstehen ist, innerhalb deren die verschiedenen Herangehensweisen durch eine metonymische und dynamische Identität miteinander verbunden sind.

[18] 

Was der Band ebenfalls nicht für sich beanspruchen kann, ist Vollständigkeit. Einige naheliegende Fragestellungen wurden nicht oder nur am Rande berührt. Es wäre z.B. nicht uninteressant gewesen, sich die Theologie des frühen 19. Jahrhunderts, also zur Zeit der ›Erfindung‹ der Transfusion, anzusehen, um festzustellen, ob hier ähnliche Figuren des Wissens zu finden sind wie in der zeitgenössischen Medizin. Genauso aufschlussreich wäre eine Untersuchung der zeitlichgleich bzw. leicht vorverlagert ›entdeckten‹ Bluterkrankheit durch John C. Otto gewesen. 6 Bei dieser Krankheit wird eine komplexe Form von Übertragung einer Krankheit über das Blut von Blutsverwandten thematisiert, die sich, sozusagen in einer Form von pathologischer Selbstreflexion, in diesem Medium selbst – im kranken Blut – äußert. Auch hier hätte sich eine Suche nach analogen theologischen Modellen anschließen können – und natürlich nach Aneignungen durch die Literatur und das Bild.

[19] 

Aber ich verstehe die von mir genannten Punkte weniger als Monita denn als Aufweis der Anregung der Phantasie durch die in dem Band versammelten Aufsätze. Dementsprechend ist abschließend hervorzuheben, dass mit dem Sammelband das Kunststück geleistet wurde, trotz hohem Forschungsaufkommen zum Thema Blut ein eigenes Feld diskursanalytischer Untersuchungen zu eröffnen und sehr ergiebig zu bearbeiten. Unabhängig davon kann gesagt werden, dass der Rezensent selten so viele gute Aufsätze zu einem Thema in einem Sammelband vereinigt fand – Aufsätze, die bei der Lektüre sein Blut vor wissenschaftlichem Vergnügen in Wallung brachten.



Anmerkungen

Hans Henny Jahnn: Fluss ohne Ufer. Die Niederschrift des Gustav Anias Horn I. In: H. H. J.: Jubiläumsausgabe in acht Bänden. Hg. von Ulrich Bitz und Uwe Schweikert. Hamburg: Campe 1994, ohne Angabe der Band-Nummer, S. 732 f.; 729; 741; 760.   zurück
Vgl. zuletzt Hendrik Blumentrath: Blutbilder. Mediale Zirkulationen einer Körperflüssigkeit. Bielefeld: Aisthesis 2004, und Gudrun Schury: Lebensflut. Eine Kulturgeschichte des Blutes. Leipzig: Reclam 2001.   zurück
Zu diesem Begriff vgl. Werner Beierwaltes: »Kommentar« zu Plotin: Über Ewigkeit und Zeit. Übers. und hg. von Werner Beierwaltes. 3. Aufl. Frankfurt / M.: Klostermann 1981, S. 36 f.   zurück
Thomas von Aquin: Summa theologiae, zitiert nach dem im Band enthaltenen Aufsatz von Georges Didi-Hubermann, »Blut der Bilder«, S. 42.   zurück
Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übers. von Ulrich Köppen. 14. Aufl. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1997, S. 46.   zurück
John C. Otto, »An account of an hemorrhagic disposition existing in certain families«. In: Medical Repository 6 (1903), S. 1–4.   zurück