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Diskursive Grenzgänger

Eine Magisterarbeit zum Figurenpersonal Fontanes
und Flauberts geht neue Wege

  • Simon Bunke: Figuren des Diskurses. Studien zum diskursiven Ort des unteren Figurenpersonals bei Fontane und Flaubert. (Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland 37) Frankfurt / Main u.a.: Peter Lang 2005. 203 S. Kartoniert. EUR (D) 39,00.
    ISBN: 3-631-51455-7.
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Zur Fontane-Forschung

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Über mehrere Jahrzehnte ist die Fontane-Forschung hermeneutisch, werk- und sozialhistorisch ausgerichtet gewesen. Das hat in vielerlei Hinsicht zu beachtlichen Ergebnissen geführt, und zwar noch zu Zeiten der Trennung Deutschlands in DDR und BRD. Nach der Wende wurde, mit enormem Zulauf und Medieninteresse, die Fontane-Gesellschaft mit Sitz in Neuruppin gegründet, die renommierte Zeitschrift Fontane-Blätter wurde auf neue Füße gestellt und nunmehr gemeinsam von Fontane-Archiv und Fontane-Gesellschaft verantwortet. Eine Vielzahl von Biographien erschien, sie konnten aus der Fülle der Ergebnisse findiger Forscherinnen und Forscher wählen und sich auf das eigene Interesse an der Biographie oder Teilen des Werks konzentrieren. Interpretationen setzten für alle Fontane-Leser neue Maßstäbe. 1 Um die Wende zum neuen Jahrtausend konnten Standardwerke erscheinen, die auf dem erreichten hohen Niveau eine umfassende Bilanz der Forschung zogen; dazu gehören Helmuth Nürnbergers Fontanes Welt 2 ebenso wie die Ergebnisse der Tagung in Potsdam zum 100. Todestag, die stolze drei Bände einnehmen, 3 die Forschungsbilanz von Helen Chambers 4 und das von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger herausgegebene Fontane-Handbuch im Kröner-Verlag. 5

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Der Autor und sein Werk sind auch nach der bisher üblichen Herangehensweise keineswegs ausgedeutet, überdies tauchen immer wieder Autographen und andere Quellen auf, die Einzelnes in ein etwas anderes Licht tauchen oder ergänzen. Doch ist es nach der Fülle der Arbeiten schwieriger geworden, wirklich Neues zutage zu fördern oder die Interpretationsangebote der Texte weiter aufzufächern. Dies mag mit dazu geführt haben, dass insbesondere in den Arbeiten junger Wissenschaftler zunehmend andere Fragen gestellt und Herangehensweisen erprobt werden, die bisher eher bei Autoren wie E.T.A. Hoffmann oder Franz Kafka zu neuen Forschungsperspektiven geführt hatten. Insbesondere eine lite­ra­tur­theoretisch oder kulturwissenschaftlich ausgerichtete Beschäftigung suchte man lange Zeit, von Ausnahmen abgesehen, vergebens.

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Solche Ausnahmen häufen sich seit Beginn der 1990er Jahre, Beispiele sind die Aufsätze von Michael Masanetz 6 oder die Dissertationen von Christine Renz und Harald Tanzer. 7 Mit dem Publikationsjahr 2005 ist die bei dem langjährigen Münchner Ordinarius Gerhard Neumann entstandene Magisterarbeit Figuren des Diskurses von Simon Bunke versehen, die sich auf kulturwissenschaftliche Weise vor allem mit den Nebenfiguren in Romanen Fontanes und Flauberts beschäftigt.

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Figur und Realität

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Ungewöhnlich ist nicht nur, dass eine Magisterarbeit veröffentlicht wird, sondern auch, dass der Doktorvater dazu ein längeres programmatisches Vorwort schreibt. Es macht deutlich, dass ›Vater‹ und ›Sohn‹ bei der Fragestellung der Arbeit mehr Gemeinsames als üblich haben, dass also beide die Frage des Fontaneschen Figuren-Konzepts umtreibt. Dies ist zugleich auch die Frage nach der Funktion konstruierter sozialer Realität, also nach den Implikationen des Fontaneschen Realismus-Konzepts. Neumann knüpft an Überlegungen von Erich Auerbach, Michel Foucault und Stephen Greenblatt an, wenn er feststellt: »Die Literatur übernimmt die Aufgabe, das, was sich im sozialen Diskurs nicht sagen läßt oder aus ihm ausgeschlossen ist, als das ›Niedrig-Reale‹ und Stumme in die Sprache zu heben und ihm damit den Index von Realität zu geben« (S. 9). Das von den Figuren Gesagte transportiert auch, was sie zu verbergen suchen. Diese Ambivalenz der Redeweise kann unterschiedlich eingesetzt werden – bei Fontane, indem der »Leitdiskurs« (S. 10) an der Oberfläche intakt bleibt und nur spielerisch unterlaufen wird, bei Flaubert durch eine »viel stärkere Auflösung der Diskursgrenzen« (S. 11).

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Bunke hat sich, wie er gleich eingangs zeigt, über wichtige Forschung zu Fontanes Erzählkonzept und Figurenpersonal informiert (S. 15 ff.) und es ist verständlich, dass dies nur selektiv geschehen konnte. 8 Er bewertet die Figuren mit diskursanalytischem Blick neu. Die für Fontane charakteristischen, Konventionen des Gesprächs entspringenden »inhaltsleere[n] Floskeln« werden so besonders aussagekräftig, weil sie »die faktische Schwere der Konversation relativieren und also vorantreiben« (S. 17). Bunke weist an den Romanen L’Adultera und Frau Jenny Treibel (mit Exkursen zu anderen Texten) nach, dass gerade jene Figuren Fontanes zum Scheitern verurteilt sind, die geltende Diskursregeln ignorieren. Möglich ist es hingegen den »unteren Figuren« bei Fontane, als »diskursive Grenzgänger« zu agieren (S. 21), indem sie die Regeln auf spielerische Weise außer Kraft setzen und so zeigen, dass sie den Diskursrahmen trotz allem anerkennen.

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Ritual und Diskurs

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In Die Ordnung des Diskurses hat Foucault festgestellt:

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Das Ritual definiert die Qualifikation, welche die sprechenden Individuen besitzen müssen (wobei diese Individuen im Dialog, in der Frage, im Vortrag bestimmte Positionen einnehmen und bestimmte Aussagen formulieren müssen); es definiert die Gesten, die Verhaltensweisen, die Umstände und alle Zeichen, welche den Diskurs begleiten müssen; es fixiert schließlich die vorausgesetzte oder erzwungene Wirksamkeit der Worte, ihre Wirkung auf ihre Adressaten und die Grenzen ihrer zwingenden Kräfte. 9
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Entsprechend gerät bei Fontane »nicht das, was gesagt wird, [...] sondern das Wie« in den Mittelpunkt des Interesses (S. 33). Van der Straaten in L’Adultera beachtet diese Grundregel nicht und scheitert, während Nebenfiguren des Romans wie Reiff und Duquede die Regel auf spielerische Weise unterlaufen und sie so als etwas nicht Naturgegebenes, sondern im gesellschaftlichen Diskurs Konstruiertes durchsichtig machen.

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Dennoch ist zu fragen, ob damit die Romanfiguren bündig charakterisiert sind. Van der Straaten bleibt auch zum Schluss noch ein Sympathieträger für Autor und Leser, gerade weil er sich außerhalb des Diskurses stellt. Foucaults Vorstellung vom »wilden Außen«, 10 in dem Diskursregeln nicht gelten, hat gerade in der Literatur eine hohe Attraktivität, wobei die Frage, wieweit dieses wilde Außen realisiert werden kann, vom Kontext der jeweiligen Zeit und Gesellschaft abhängt (und das wilde Außen möglicherweise gar kein solches mehr darstellt).

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Diskursives Figurenprofil
und Szenen der Agonalität

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Generell ist Bunke zweifellos zuzustimmen, wenn er feststellt: »Die Texte [Fontanes] erproben gerade keine Diskurspluralität, keine Vielfalt der diskursiven Perspektiven, sondern reduzieren sich auf ein monodiskursives Substrat: auf den großbürgerlich-altadeligen Diskurs. Er bildet als diskursiver Letzthorizont der beiden [hier untersuchten] Romane ihre diskursive Norm [...]« (S. 28). Dennoch ist zu fragen, ob das Unterlaufen der Diskursregeln nicht höher zu bewerten ist als Normerfüllung. Vielleicht wäre der Befund anders ausgefallen, wenn Bunke nicht nur zwei Romane Fontanes berücksichtigt hätte, die so etwas wie ein Happy-End haben. Wäre beispielsweise Effi Briest in den Blick geraten, dann hätte der Fokus auf dem Zerstörerischen der Diskurs-Normen liegen müssen. Auch in Cécile oder Irrungen, Wirrungen wie vielen anderen Fontane-Texten scheitern Figuren, gerade weil sie die Diskurs-Normen in Gespräch und Verhalten zu erfüllen suchen, selbst wenn sie, wie von Innstetten in Effi Briest, den Konstruktionscharakter dieser Regeln durchschauen. In diesem Sinne erscheint folgende Feststellung als ergänzbar: »Agonalität im Sinne eines vollen Ausagierens der Gegensätzlichkeit unterschiedlicher, unvereinbarer Standpunkte oder Themen fällt so aus, tiefgreifender Streit findet nicht statt« (S. 42). Gerade weil kein »tiefgreifender Streit« stattfindet, wirkt die Selbstverständlichkeit, mit der Effi wegen ihrer Regelverletzung aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird, umso brutaler.

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Bunke geht den halben Weg, darauf deuten Beobachtungen wie die folgende: »Die explizite, wiederholte Bezugnahme auf das Sprechen als dem eigentlichen Problem legt nahe, daß hier erneut die Differenz zwischen Floskelhaftigkeit und ›wahrer Rede‹ verhandelt wird« (S. 86). Die Beglaubigung des Diskurses wird »zum narrativen Problem« (S. 87). Allerdings wird einschränkend festgestellt: »Nicht nur die Unhintergehbarkeit von Diskursen steht dem entgegen; sondern auch der Text selbst zeigt deutlich, daß Melanie gegen Romanende keineswegs jenseits der Diskursgemeinschaft steht« (ebd.). »Transgressivität« als Überschreitung von Diskursgrenzen wird Randfiguren wie Kagelmann zugestanden (S. 101), aber nur unter der Prämisse, dass sie »narrative Verdichtungen einer relativen und kontrollierbaren Causerie-Ferne« darstellen (S. 110).

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Auf weiteren 20 Seiten wird der Befund an Frau Jenny Treibel noch einmal konkretisiert. Originell und wichtig sind zweifellos die Beobachtungen, die sich an scheinbar unwichtige Details knüpfen. Auch die »Schinkenstullen« (S. 133) sind nicht einfach nur Butterbrote, sondern lassen sich als kulturelle Marker in den Diskursraum des Romans einordnen. Den Fontane-Teil zusammenfassend lässt sich sagen: Bunkes diskursanalytischer Blick, der noch viel differenzierter ist, als ich es hier darstellen konnte, vermag es, ein neues Licht auf Fontanes Texte zu werfen; allerdings wäre der Ansatz gerade mit Blick auf das diskurskritische Potenzial weiterzuentwickeln.

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Die Beobachtungen zu Flaubert bleiben auf Fontane bezogen und fokussieren die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem französischen Realisten. Hier werden nun jene »Szenen der Agonalität« in den Blick genommen, die bei Fontane zumindest an der Textoberfläche fehlen. In Madame Bovary finden sich Sätze »von boshafter Schärfe und unverhüllter Aggression« (S. 145). Zu fragen ist allerdings, ob das deutlich markierte »agonale[n] Figurenverhalten« (S. 157) nicht nur auf den ersten Blick kritischer wirkt als Fontanes Stil der erzählerischen Zurückhaltung. Gerade durch die Differenz zwischen der Geschlossenheit des Oberflächendiskurses und den Konsequenzen der Handlung bei Fontane wirken die Brüche vielleicht ebenso drastisch und modern.

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Fazit

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Bunke hat mit seiner Beschreibung literarischer »Figuren des Diskurses« eine in vieler Hinsicht wegweisende Arbeit geschrieben, die – und das sollten die kritischen, allerdings immer als subjektiv markierten Bewertungen gezeigt haben – auch jenen Vorzug besitzt, zum Widerspruch anzuregen, also zur produktiven Auseinandersetzung mit Fragen der Konzeptionalisierung und Kontextualisierung von Literatur.



Anmerkungen

Vgl. v.a. den Band von Christian Grawe (Hg.): Fontanes Novellen und Romane. Interpretationen (RUB 8416) Stuttgart: Reclam 1991.   zurück
Helmuth Nürnberger: Fontanes Welt. Berlin: Siedler 1997.   zurück
Hanna Delf von Wolzogen / Helmuth Nürnberger (Hg.): Theodor Fontane: Am Ende des Jahrhunderts. 3 Bde. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000.   zurück
Helen Chambers: Theodor Fontanes Erzählwerk im Spiegel der Kritik: 120 Jahre Fontane-Rezeption. Aus dem Engl. übers. von Verena Jung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003; Originalausgabe: The Changing Image of Theodor Fontane (Literary Criticism in Perspective) Columbia: Cambden House 1997.   zurück
Christian Grawe / Helmuth Nürnberger (Hg.): Fontane-Handbuch. Tübingen: Kröner 2000.   zurück
Michael Masanetz: »Awer de Floth, de is dull!« Fontanes Unwiederbringlich – das Weltuntergangsspiel eines postmodernen Realisten (Teil 1). In: Fontane-Blätter, Heft 52 der Gesamtreihe (1991), S. 68–90; »In Splitter fällt der Erdenball / Einst gleich dem Glück von Edenhall«. Fontanes Unwiederbringlich – das Weltuntergangsspiel eines postmodernen Realisten (Teil 2). In: Fontane-Blätter, Heft 56 der Gesamtreihe (1993), S. 80–101.   zurück
Christine Renz: Geglückte Rede. Zu Erzählstrukturen in Theodor Fontanes Effi Briest, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin. München: Funk 1999; Harald Tanzer: Theodor Fontanes Berliner Doppelroman: Die Poggenpuhls und Mathilde Möhring. Ein Erzählkunstwerk zwischen Tradition und Moderne (Kasseler Studien zur deutschsprachigen Literaturgeschichte 9) Paderborn: Igel 1997.   zurück
So fehlen z.B. die erwähnte Studie von Tanzer, die grundlegende Arbeit von Loster-Schneider oder der spannende Aufsatz von Seibt, vgl. Gudrun Loster-Schneider: Der Erzähler Fontane. Seine politischen Positionen in den Jahren 1864–1898 und ihre ästhetische Vermittlung (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Band 11) Tübingen: Narr 1986; Wolfram Seibt: Kruses Grab. Die versteckten Nicht-Ehen in Th. Fontanes Gesellschaftsroman Unwiederbringlich. In: Fontane-Blätter, Heft 45 der Gesamtreihe (1988), S. 45–71.   zurück
Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (Fischer Wissenschaft) Aus dem Franz. von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Erw. Ausg. 7. Aufl. Frankfurt / Main: Fischer 2000, S. 27.   zurück
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Ebd., S. 25.   zurück