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Exquisites Zimmer-Theater

  • Ortrun Rehm: Er-lesene Bilder. Untersuchungen zum Text-Bild-Bezug zwischen Inger Christensens »Det malede vaerelse« und Andrea Mantegnas »Camera Picta«. (Nordica 9) Freiburg im Breisgau: Rombach 2005. 317 S. 16 s/w 2 farb. Abb. Paperback. EUR (D) 46,00.
    ISBN: 3-7930-9384-0.
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Inhalt des Bandes

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Erforschung des Bild-Text-Bezuges:

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• Einleitung, Inger Christensen und Andrea Mantegna, Korrespondenzen zwischen den Medien, Die Ordnung der Zahl, Die Ordnung der Figuren / Konvergenz und Divergenz zwischen Text und Bild, Figurenkonzepte

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Der Bilddiskurs im Text:

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• Das Bild als Metapher, Bildthemen / Textthemen, Die Mehrdimensionalität der Zeit

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Fragen der Ästhetik:

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• Im Labyrinth der Sprache, Die Ästhetik des Schulaufsatzes, Prämissen der Erneuerung

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Forschung zu Text-Bild-Bezügen

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Rehms Monographie ist der aktuelle Band einer Publikationsserie, die aus dem Forschungsprojekt »Nord-Bild-Text« des Instituts für Nordische Philologie an der LMU München hervorgegangen ist. Sie erfüllt den aus dem Projektzusammenhang erwachsenen Anspruch, Ergebnisse der ästhetisch-intermedialen und wissenschaftlich interdisziplinären Kooperation zu bündeln und zugleich eine exemplarische Vertiefung vorzunehmen. Rehm geht in ihrer dichten und sehr ausgereiften Arbeit deduktiv und induktiv vor, wobei die fein abgestufte Argumentation eine sukzessive Erkenntnissteigerung ermöglicht. Ihr Thema ist der Übertragungsvorgang malerischer Elemente in textliche Einheiten, wie an Inger Christensens Roman Det malede værelse (1976) 1 vorgeführt wird, der Andrea Mantegnas Fresken der Camera Picta (1474) im Palazzo Ducale in Mantua verarbeitet.

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Den Ansatzpunkt bietet die berüchtigte Ungenauigkeit des Bildbegriffs, die darauf beruht, dass sich ein ›Bild‹ auf einen materiell-konkreten Gegenstand beziehen, sowie sprachlicher oder imaginärer Art sein kann (vgl. S. 14). Rehm schlüsselt diese Bedeutungsbereiche in ihrer Untersuchung genau auf und gewinnt aus dem Dialog zwischen Mantegnas Fresken und Christensens Roman eine zusätzliche ästhetische und analytische Dimension. Durch die künsteübergreifende Reflexion entsteht ein einzigartiges ›Kombinationswerk‹.

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Während Christensen 1976 das Kunstwerk Camera Picta diskursübergreifend poetisch transzendierte, widmet sich Rehm der Aufgabe, die theoretisch und kunsthistorisch sensible Bild-Lektüre der dänischen Modernistin zu rekonstruieren, – die auch deshalb eine sprichwörtliche Lektüre ist, weil Christensens Arbeit auf Studien der Forschungsliteratur und nicht auf der so genannten konkreten Anschauung beruht. Christensens Prosa referiert auf ein Beispiel der Renaissance-Kunst, das seine Konstruktionsbedingungen bereits mitreflektiert.

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Inger Christensens Roman

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Det malede værelse steht in der Tradition der Ekphrase, verselbständigt sich aufgrund der pointiert dargebotenen Figurenrede aber zu einem szenisch anmutenden, komplexen Fragment, das zahlreiche intertextuelle Hinweise enthält. Die drei Romanabschnitte sind durch eine charakteristische Figurenperspektive und unterschiedliche Stil- und Textsortenmerkmale geprägt. Ihnen ist in der dänischen Ausgabe der entsprechende Ausschnitt des Freskos als fotographische Reproduktion vorangestellt, 2 so dass stets ein enger Text-Bild-Bezug gewahrt ist. Der erste Teil »Marsilio Andreasis Tagebücher« ist dem größten Fresko an der Nordwand der Camera Picta zuzuordnen: »Audienz am Hof der Gonzaga«. Der Verfasser des Tagebuchs ist Sekretär am Hof und zeichnet in lakonischem, mitunter missbilligendem Ton auf, wie sich das Verhältnis zu seinem Auftraggeber Mantegna entwickelt. Sie tauschen sich über Fragen der Kunst aus, nicht zuletzt über die Camera Picta, die mit dem Ausdruck »Gespensterzimmer« die Funktion eines ambivalenten Monuments der Familie Gonzaga erhält.

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Die Erzählperspektive des zweiten Teils, der sich auf das Himmelsauge (Okulus) im Deckengewölbe bezieht, lässt sich erst bestimmen, als sich die türkische Sklavin Farfalla schließlich als Urheberin des Berichts zu erkennen gibt. »Das Geheimnis der Pfaus« wird eingeleitet mit einer Ekphrase der Okulus-Szene, geht beispielsweise auf die Figurenkonstellation an der Balustrade, den Pfau auf dem Geländer, den Schmetterling und das (angeblich) in einen Waschzuber gepflanzte Orangenbäumchen ein. Sowohl die intrigenverstrickte Genealogie der Gonzagas als auch die beharrliche Identifizierungsarbeit der Kunsthistoriker (Who’s who?) scheinen von Christensen ironisiert.

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Für den dritten Teil »Meine Sommerferien« zeichnet Mantegnas zehnjähriger Sohn Bernardino verantwortlich: Er soll einen Erlebnisaufsatz verfassen, macht sich in die dargestellte Welt der Fresken auf und bewegt sich unbeschwert auf verschiedenen Zeit- und Erzählebenen. Er betont die ›Lebensnähe‹ der Fresken im Unterschied zum Effekt, die Gemälde auf Leinwänden üblicherweise hervorrufen. Gleichzeitig werden bei seiner Wanderung im Bild »Die Begegnung« (Westwand der Camera Picta) aber auch die Bedeutungen eines mythologisch-zeitlosen Universums und des Totenreichs ins Spiel gebracht, und der Ausflug findet im mythologisch umschriebenen Wiedersehen mit der verstorbenen Mutter seinen Höhepunkt (Eurydike kehrt zurück).

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Diese Inhaltsübersicht soll verdeutlichen, wie traditionelle ekphrastische Elemente bei Christensen innovativ ausdifferenziert sind und trotz des fortwährenden Blickwechsels zwischen den Fresken und dem Roman sowie trotz der theoretischen Verankerung ein eigenes ›fabulierendes Genre‹ geschaffen wurde, das präsentisch zur Geltung kommt.

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Intensiver Dialog

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Rehms widmet sich den Korrespondenzen beider Werke, die mittels eines semiotisch-strukturalistischen Begriffsinventars erfasst und im Rahmen einer hermeneutischen Deutung entfaltet werden. Sie führt gründlich in Christensens Gesamtwerk, den multiperspektivischen Roman Det malede værelse und den Stand der Forschung ein. Diesem stehen die Werkbiographie Mantegnas und die eingehende, sehr lesenswerte Beschreibung der Fresken (S. 46 – 50) komplementär gegenüber. Die Reflexion der Malerei ist für Christensen ein wichtiger Baustein ihrer Poetologie, wobei ihre Vertiefung in Gemälde der Renaissance von kunstwissenschaftlichen Recherchen untermauert ist, so dass dieser Roman auch als Beitrag zum kunsthistorischen Diskurs zu verstehen ist. Die Basisannahme der ›Übersetzbarkeit‹ von Malerei in Sprache wird plausibel gemacht (vgl. S. 60 u. 68), wobei ein Transfer von Zeichen gemeint ist. 3 Rehms Feststellung, dass Sprache ein symbolisches Zeichensystem ausmache, Malerei dagegen ein ikonisches (vgl. S. 67), könnte in seiner Generalisierung hinterfragt werden (siehe Umberto Ecos Problematisierung der Ikonizität 4 ), lässt sich indessen im Hinblick auf den Gegenstand der Camera Picta – eingedenk der Zentralperspektive oder der mimetischen Verführungsmanöver des trompe-d’œil – rechtfertigen.

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Christensens Roman bezieht sich jedoch nicht nur auf die Fresken, sondern auch auf andere Bilder und Texte, die die Camera Picta thematisieren oder im weiteren Sinne mit ihr verknüpft wurden (z.B. Motivanspielung, S. 121). Bemerkenswert ist der Umstand, dass beide Werke autoreflexiv angelegt sind: Bernardinos Schulaufsatz reflektiert die Bedingungen modernistischen Schreibens mit dem Hinweis auf den Untergang der ›großen Erzählungen‹, und der an die virtuelle Realität gemahnende malerische Illusionismus bei Mantegna lotet ebenfalls ein Deutungsvorrecht der Kunst aus: Indem Mantegna Erzeugnisse der Nachbarkünste (wie etwa Stuckaturen, architektonische Artefakte) malerisch ausdrückt, nimmt er Rehm zufolge selbst Übersetzungen von einer Kunstart in die andere vor (vgl. S. 83).

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Während die religiöse Thematik in der Camera Picta lediglich in einem Kirchengebäude motivisch repräsentiert ist, nimmt Christensen eine text-kompositionelle Ergänzung vor: Sie überblendet die Bildgattung der Fresken mit der des Triptychons, was wiederum die Dreiteilung ihres Romans begründet. Dem rationalen Modell der vita activa wird ein Entwurf der spiritualisierten vita contemplativa zur Seite gestellt. Das Himmelsauge erhält die wichtigste Funktion, als Coelum und als Fenster zum himmlischen Paradies oder, wie Rehm abschließend in ihrer Auseinandersetzung mit der Postmoderne anmerkt, als Durchblick auf ein leeres Zentrum. Dass sich Christensen dafür entscheidet, den Faktor der kirchlichen Macht anteilig zu ›vergrößern‹, führt Rehm auf das kritische Textstudium der Autorin zurück, da Christensen einen Gegenentwurf zu den vorherrschenden Epochenvorstellungen der Renaissance erarbeitet und sich dabei u.a. von Jacob Burckhardts Idealisierungen abgrenzt.

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Allgemeine Regeln, nach denen Christensen bestimmte Materialien, ästhetische Elemente oder Verfahren umsetzt, adaptiert, dementiert oder ins Gegenteil verkehrt, lassen sich nicht aufstellen. Wie Rehms minutiöse Ausführungen zur »Integration von Zahlensystemen in die Schrift« in Det malede værelse nachvollziehbar machen (vgl. S. 99), betreffen diese sowohl freie Bearbeitungen als auch von Christensen selbst aufgestellte Gestaltungsregeln auf Makro- und auf Mikroebene. Hierfür bietet z.B. die Übertragung der Wandmaße der Kammer auf die Abschnitteinteilung (8 x 8) des Romans ein anschauliches Beispiel. Christensens Beschäftigung mit Quellentexten der Renaissance findet weiterhin ihren Niederschlag in der Einführung der Figur Albertis, der auf Handlungsebene verhöhnt und als unterlegener Antagonist Mantegnas dargeboten wird. Im Gegenzug bildet die berühmte Renaissance-Maxime Albertis, dass Kunst es ermögliche, sich über Tod und Vergänglichkeit hinwegzusetzen, ein Fundament von Christensens Gesamtprojekt.

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Die verwirrenden Figurenkonstellationen und die karnevalistischen Elemente im zweiten Teil dienen dazu, eine einheitliche Epochenvorstellung aufzusprengen. Dem eindeutigen Raum im Zentrum des Geschehens (z.B. der Kammer als offiziellem Machtraum) wird sowohl ein Antiraum (z.B. das Gartenhaus, in dem der Fürst ein beschauliches Privatleben ›hinter den Kulissen‹ führt) als auch der labyrinthisch-ortlose Raum gegenübergestellt, an den sich zudem Texträumlichkeiten anschließen lassen. Auch die Auffassung des selbstbestimmten Renaissance-Künstlers, die Rehm ausgehend vom Signatur-Selbstbildnis Mantegnas in der Kammer erörtert, wird vieldeutig und brüchig gemacht, so dass der abhängige Berufskünstler deutlicher hervortritt als der souveräne Schöpfer. Burckhardts heldenhafte Stilisierung sowohl Albertis als auch des Papstes Pius II. wird in der Anti-Historiographie im zweiten Teil nachdrücklich, mal boshaft und mal humoristisch verworfen.

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Rehm konzentriert sich in ihrem letzten Großkapitel auf »metatheoretische und ästhetische Fragen«, wodurch der Schulaufsatz in den Mittelpunkt der Analyse gestellt wird. Dieser Romanabschnitt verwendet die Labyrinth-Struktur sowohl als ein Bild für eine instabile Bedeutungserzeugung als auch für die narrative Struktur. Die Denkbewegung mäandert und kann sowohl innerhalb oder außerhalb eines vorgestellten Systems (z.B. der Hierarchie der Erzählebenen) verortet werden. Das hierarchisch festgelegte Verhältnis von Peripherie und Zentrum ist veränderlich, so wie beispielsweise das einfache, versteckte Gartenhaus für den Fürsten zeitweilig wichtiger ist als die prächtige, offizielle Camera Picta. Rationale Erklärungsprinzipien werden mit dem Hinweis auf fortbestehende ›Unlesbarkeiten der Welt‹ abgewiesen. Hierbei führen Lektüre und Deutung der labyrinthischen Texte eine gewisse Verzögerung und aufgrund der integrierten Paradoxe auch eine semantische Widerständigkeit mit sich. Rehm schließt auch den Topos vom potentiell unendlichen semiotischen Regress der Zeichen an (vgl. S. 242).

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Die Figur Farfalla ist neben Bernardino diejenige Figur, die sich im Labyrinth besonders souverän bewegen kann: Sie kann zwischen Figuren- und Erzählerinnenstatus hin- und herschalten, sie verhält sich als Sklavin, als Herrin und als Schmetterling 5 zugleich. Bernardino wiederum fordert dazu auf, aus dem Tradierten eine neue Sprache und neue Schreibweisen zu gewinnen, im Sinne einer anti-epigonalen und anti-mimetischen Kunst – er führt den Lesenden den unbeschwerten Umgang mit dem untergegangenen Mythos vor (vgl. S. 274).

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Macht über Bilder und
Bild-Macht über die Betrachtenden

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Für die Deutung von Mantegnas Fresken wie auch von Christensens Kurzroman erweist sich Gottfried Boehms Bildbegriff einschließlich der von ihm geprägten Idee der »ikonischen Differenz« als fruchtbar, nach der das Bild

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[…] nicht mehr als Analogon der Welt begriffen [wird], sondern als Analogon einer differenzierten und höchst komplexen Relation des Subjekts zur Welt. [...] der Weltverweis des Bildes liegt [...] darin, daß das Bild die Struktur der Welt so zeigt, wie sie durch den Körper erfahrbar ist: durch den Vollzug des Sehens. (S. 20)
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Mantegnas Auseinandersetzung mit der Zentralperspektive in der Camera Picta und Christensens modernistische, antimimetische Sprachkritik in Det malede værelse beleuchten sich wechselseitig. Das Thema der Apperzeption und Perzeption bildet die sinnfälligste semantische, strukturelle und theoretische Analogie beider Werke, welches Rehm in ihrem Vergleich zum Anlass nimmt, »Isotopien« herauszuarbeiten. Sie stellt eine »Verschränkung wesentlicher konstitutioneller Faktoren für Bild und Text« fest, bei der beide Medien symmetrisch gewichtet seien (S. 250). Genau deshalb wird Christensens Roman in der Relation zwischen diesem Kunstwerk und dessen Kunstkritik zum tertium comparationis.

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Albertis Bildbegriff wirkt sich Rehm zufolge bis in die heutige Zeit aus, indem Bild und Erfahrungsraum anhand derselben Raumkoordinaten ermessen werden, weshalb in der Regel eine strikte Trennung zwischen Innen und Außen vorgenommen wird (Tradition des Fensterbildes, vgl. S. 164). Wahrnehmbare und gedachte Realität werden im Bild miteinander vereinbart, anders ausgedrückt: Konstruktion und Spekulation richten sich an ähnlichen Wahrscheinlichkeitsregeln aus, wie sie die konkrete räumliche Wahrnehmung nahelegt. Das Thema ›Fenster im Fenster‹ des Okulus ist demnach wie erwähnt autoreflexiv und kann von Mantegna auch als Aussage über das Deutungsvorrecht und die konkrete, zentrale Perspektive des Fürsten Lodovigo Gonzaga verwendet werden: Nur vom Sitzplatz des Fürsten am Kamin aus lässt sich der Okulus in seinem räumlichen Gesamtzusammenhang überblicken. Christensen führt dieses Spiel weiter, indem sie die doppelperspektivische Bildästhetik Cézannes einbringt und so einerseits die Historizität betont und andererseits die abstrahierende Konvention der Zentralperspektive problematisiert. Ebenso kann sie die Machtkritik vertiefen, die bei Mantegna bereits angelegt ist: Gelangweilte bis schläfrige Putti tragen die Schrifttafel mit dem Namenszug des Herrscherpaares und beziehen so das memento mori in das ›ewige Familiendenkmal‹ ein: Sie haben zum einen lichte Schmetterlingsflügel (fortlebende Seelen 6 ), zum anderen auch dunkle Eichelhäherflügel, die auf einen bedrohlichen Einbruch vergänglicher Natur in die beständige Artifizialität hinweisen.

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Doch auch in dem nuancierten Wissen um den visuellen Effekt der Fresken auf die Betrachter drückt sich Macht aus, nämlich die Macht Mantegnas, der ein anti-klassisches Kunstverständnis der Renaissance akzentuiert. In seiner Vereinbarung von Schönem und Hässlichen, Diesseitigem und Jenseitigem sieht Christensen die Vorankündigung einer ›modernen‹ Ästhetik (vgl. S. 191 f.). Auch das Menschenbild des Picco della Mirandola wird in entsprechender Weise von Christensen aktualisiert: Die Vorstellung einer Identitätskonstituierung, die dem Selbst überantwortet wird, verarbeitet sie zu einem eigenen humanistisch-spirituellen Existenzmodell. Mantegnas Staatsentwurf deutet die Autorin als zukunftsweisende Demokratieform, mit emanzipativen Entwicklungsmöglichkeiten, was durch den Entstehungszeitpunkt des Romans in den 1970er Jahren begründet scheint. 7

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Die heutige Vormacht der Bilder

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Mit dem Thema des Illusionsraumes wird der Komplex der virtuellen Realität anvisiert, der unter Umständen für weiterführende mediengeschichtliche Studien ergiebig wäre. Da die Wahrnehmenden der Camera Picta von Bildern umgeben sind (wie auch die räumliche Bewegung der Figuren in Christensens Text hervorhebt), ließen sich wohl auch Diorama, Rundum-Kino oder Cyberspace assoziieren, die dem Publikum jeweils eine eigene Bildmacht entgegenstellen.

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In dieser Hinsicht ist gerade ein Detail in Christensens Gebrauch ihres Fotomaterials zur Camera Picta aufschlussreich, was die manipulativen Möglichkeiten in der Kombination von Bildern betrifft: Der im Roman erwähnte Schmetterling im Himmelsauge der Deckenbemalung erweist sich in der materiellen Realität als Rest eines Hakens, der nach Restaurierungsarbeiten in den 1960er Jahren verschwand und lediglich auf bestimmten fotographischen Reproduktionen erkennbar ist. Der rudimentäre Haken verwies einst als indexikalisches Zeichen auf die Hängevorrichtung eines Baldachins für ein Prunkbett. Auf dem Foto des Bildbandes von Paolo Lecaldano 8 verweist der Fleck entweder auf einen gemalten Schmetterling – so Christensens Deutung – oder aber, wie Rehm übrigens nicht erwähnt, möglicherweise auf einen lebendigen Schmetterling, der sich auf dem Fresko niedergelassen hat. Oder es handelt sich bei der Verfärbung um einen versehentlich im Fotolabor entstandenen graphischen Effekt. Eben dieser Fleck betont die Historizität der Materialität von Bildern und infolgedessen die Ereignishaftigkeit der Wahrnehmung. Auch fotographische Bilder sind Fiktionsträger.

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Gerade das Himmelsauge der Camera Picta regt dazu an, spekulative Verbindungen zwischen der tromp-d’œil-Malerei und dem Cyberspace herzustellen, aufgrund seines Spiels mit der suggestiven Vogelperspektive der Figuren (u.a. des Pfaus!) in Richtung auf die Betrachtenden und scherzhaft variiert in der Darstellung eines unzureichend abgestützten Blumenkübels, der vom Rande der Balustrade auf die Betrachter herabzufallen droht. Auf diese Weise könnte auch der Himmel über dem vorgesehenen Sitzplatz des Fürsten einstürzen, dem mit scherzhafter Geste die Rolle eines Betrachters aufgezwungen wird: Sogar der »Fürst aller Sehstrahlen« (S. 166) ist vor dem angriffslustigen Blick des Deckenfreskos nicht gefeit. Da das Bild eine alternative, visuelle Hierarchie begründet, sind unter dem Okulus die sozialen Distinktionen der Betrachtenden bedeutungslos.

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Dynamische Vexierbilder

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Die fortgesetzte Deutungsaktivität sorgt dafür, dass die Bedeutungszuweisungen – nicht nur infolge malerischer Verfahren, sondern auch begründet durch sprachliche Konnotationen – nicht fixiert werden können (vgl. S. 242). Hierzu trägt die Historizität des Sehens und der Repräsentation in entscheidendem Maße bei. Einem »Modell wechselnder Kontaktaufnahmen« entsprechend findet laut Rehm ein »Transfer von Zeichen« statt (S. 68), der die Konvergenz inhaltlicher Elemente ermöglicht, während die Darstellungsweise spezifisch für das jeweilige ästhetische System verbleibe. Die Kontaktstellen lassen sich Rehm zufolge wiederum anhand der Isotopien als den Resultaten des Zeichentransfers identifizieren. Die nachgewiesenen »Isotopien zwischen Bild und Text« (S. 258) sind stets plausibel, die Transferierung von Malerei in Text wird im Detail überzeugend nachvollzogen. Trotz der ausgereiften Gliederung der Arbeit wäre außerdem denkbar, die semantischen Äquivalenzen und die strukturellen Isotopien noch systematischer aufzuschlüsseln und den jeweiligen medialen Verfahren in einzelnen Teilschritten zuzuordnen. Dieser Wunsch entsteht angesichts des enormen Bedeutungsspektrums der Grundbegriffe »Perspektive«, »Labyrinth« oder »Blick«, die neugierig auf den direkten Vergleich von literarisch und malerisch dargestellten Phänomenen machen. 9 Da die Arbeit mit einem anregenden Repertoire an »Isotopien« erzähltechnischer und kunstanalytischer Terminologie aufwartet, werden gleichsam strukturalistische Erwartungen bei den Lesenden geweckt. 10

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Die von Rehm analysierten Labyrinth-Strukturen beziehen sich auf das Anti-Perspektivische, auf die Entmachtung des Subjekts im Prozess der Bedeutungserzeugung und auf die Polysemie als ästhetische Maxime. Laut Rehm ist das Labyrinth »Metapher ständig wechselnder Bedeutungen« und »Struktur und Prinzip« von Christensens Schreiben (S. 235). Übertragen auf die Fresken heißt dies, dass die vorgetäuschten Perspektiven die Ausdehnung der Camera picta undeutlich werden lassen – in die Weite der Landschaft hinaus, 11 in den Himmel hinauf oder auf die sich illusionistisch vorwölbenden plastischen Details zu.

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Texträumlich wird diese Dynamisierung der bemalten Wände über ein mise-en-abîme-Verfahren realisiert, womit sich übrigens inhaltliche und formalästhetische Konvergenzen unauflösbar verbinden. Der Illusionseffekt der Camera Picta, der heutigen Betrachtern als kulturelle Konvention selbstverständlich erscheinen mag, wird eigentlich erst im Roman zur Gänze entfaltet, beispielsweise anhand des erwähnten Environment-Effekts (vgl. S. 252). In Det malede værelse wird Mantegnas Auseinandersetzung mit der konkreten, metaphorischen und philosophischen Ebene der Bilder expliziert, um im aktualisierenden Nachvollzug Christensens eigene sprachphilosophische Bildtheorie plausibel zu machen. Faszinierenderweise ist ihr Metakommentar nicht auf einer Ebene ›oberhalb‹ des Kunstwerks angesiedelt, wie es in kunsthistorischen Essays zu erwarten wäre, sondern die Reflexion erwächst aus dem Universum der Fresken selbst. Die Camera Picta wird bei Christensen zum Fiktionsraum und zum texträumlichen Ort, der im Zuge der Problematisierung des Sehens Welthaltigkeit erlangt.

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Im Vergleich zu den Fresken kommt es in Det malede værelse auf eine andersartige, medienspezifische Illusionswirkung an, nämlich die desillusionierte Lesererwartung, d.h. die aufgeschobene Deutung, von der man sich eine schlüssige Lösung erhofft. So findet die Widerständigkeit der sich in Camera Picta zur Wehr setzenden Bilder ihre literarische Umsetzung.

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Resümee

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Die metaphorische Grundannahme von ›Kunst als Text‹ kann sich in Rehms Analyse ohne Einschränkung behaupten, weil sie von Christensen selbst vorausgesetzt und zur Anwendung gebracht wird. Darüber hinaus verdeutlichen die kunsthistorischen Recherchearbeiten der dänischen Autorin, dass Christensen Primär- und Sekundärtexte sowie Bildreproduktionen als gleichberechtigte kulturelle Äußerungen liest. Die von ihr dargestellte Welt ist textuell fundiert, aber sie erzeugt ein präsentisches Erlebnis von Lektüren. Indem aus einem künstlerischen Erzeugnis ereignishaft neue Kunst gewonnen wird, eröffnen sich neue Erzählungen, auch unabhängig von den mythologisch zu nennenden narrativen Großeinheiten (vgl. S. 274 f.).

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Besonders hervorzuheben ist Rehms kunsthistorische Leistung, denn das »bildwissenschaftliche« Vorhaben, die »theoriefeindliche« Kunstgeschichte methodisch zu aktualisieren ist ihr in der Tat hervorragend gelungen. Zu einer solchen Aktualisierung trug seinerzeit bereits der viel zu wenig beachtete Roman Det malede værelse 12 selbst bei, wie Rehm überzeugend darlegt. Ihr exemplarisches Er-Lesen ist für Kunsthistoriker wie Literaturwissenschaftler gleichermaßen aufschlussreich.

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Sowohl Bild als auch Text stehen bei Christensen in erster Linie für Texte als Sprachwelten und Texträumlichkeiten ein. Gerade von der produktiven Rezeption des heterogenen Ausgangsmaterials in Det malede værelse – jenseits der ego-zentrischen Auffassung eines direkt involvierten, hegemonialen Subjekts – geht ein eindringlicher Appell aus, den Rehm in ihrer Arbeit auf sehr inspirierende Weise umgesetzt hat.



Anmerkungen

Inger Christensen: Det malede værelse. En fortælling fra Mantua. København 1995 [1976].   zurück
In der deutschen Ausgabe sind jedem Teil drei Graphiken von Per Kirkeby vorangestellt (vgl. Inger Christensen: Das gemalte Zimmer. Eine Erzählung aus Mantua. Übs. v. Hanns Grössel. Münster, 1993).   zurück
Der Begriff Übertragung, Transfer oder Transformation scheint mir günstiger, da er im Vorfeld keine Erwartungen an eine 1:1-Entsprechung weckt. Der Terminus Übersetzung scheint im Zusammenhang der ›Kultur als Text‹-Metaphorik ohnehin inzwischen etwas überstrapaziert.   zurück
Vgl. Umberto Eco: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. München 1986.   zurück
Zur Symbolik des Schmetterlings siehe Inger Christensen: Sommerfugledalen. København 1991.   zurück
Vgl. Christensen: Sommerfugledalen.   zurück
Die »Demokratisierung des Olymps« (S. 152) bei Mantegna wie Christensen ist auch ein wichtiges Thema der Studie von Kirsten Wechsel »Det malede værelse in Grenzüberschreitungen zwischen Realität und Funktion. Engagierte Ästhetik bei Inger Christensen und Kjartan Fløgstad« (2001, zum Text-Bild-Bezug bes. S. 229 – 238). Von dieser Untersuchung setzt sich Rehm deutlich ab. Indem man die Autorität von Bildern und die Autorität über Bilder fokussiert, treten dennoch gemeinsame Aufmerksamkeitsfelder beider Studien hervor. Auch mit der Idee eines »Übergangsraums« (Wechsel, S. 231) und eines »Intervalls« zwischen den beiden Werken (Rehm, S. 284) ergeben sich konzeptuelle Überschneidungen.    zurück
Paolo Lecaldano (Hg.): Das Gesamtwerk von Andrea Mantegna. Mailand / Luzern 1967.   zurück
Mitunter erweist es sich als kleiner Nachteil, dass die wichtigen Abbildungen (aus verlagstechnischen Gründen?) in einem Anhang präsentiert und nicht in den Haupttext integriert werden.   zurück
10 
Siehe Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Braunschweig 1971 [1966], bes. S. 60 – 92.   zurück
11 
Vgl. Christensen: Det malede værelse, S. 103.   zurück
12 
Inger Christensen: Det malede værelse. En fortælling fra Mantua. København 1995 [1976].   zurück