IASLonline

Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren

  • Jan-Henrik Witthaus: Fernrohr und Rhetorik. Strategien der Evidenz von Fontenelle bis La Bruyère. (Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 28) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2005. 273 S. 5 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 45,00.
    ISBN: 3-8253-5053-3.
[1] 

Worum es geht:
Medium und Rhetorik

[2] 

Der Titel dieses Buches verspricht große Aktualität: Indem sich sein Verfasser einerseits dem optischen Medium Fernrohr, andererseits der Rhetorik wissenschaftlicher und wissensvermittelnder Texte widmet, führt er zwei zur Zeit beliebte Forschungsgebiete, nämlich Medien- und Wissensgeschichte zusammen. Das ›und‹, welches im Titel beide Seiten verbindet, lässt sich auf zwei Arten lesen: Einerseits musste die Verwendung des Fernrohrs als wissenschaftliches Instrument vor der skeptischen Gelehrtengemeinschaft im 17. Jahrhundert rhetorisch legitimiert werden, andererseits greifen gleichzeitig viele bedeutende Texte der französischen Literatur auf die durch das Teleskop gewonnenen Bilder fremder Himmelskörper zurück, um sie in ihre Argumentation einzubauen.

[3] 

In beiden Fällen werden die teleskopischen Bilder für Zwecke der Persuasion in Anspruch genommen, dienen sie doch der Herstellung von Evidenz, die das dritte, verbindende Glied in Witthaus’ Argumentation bildet. Die neuen Bilder sollen nicht nur die Leistungsfähigkeit und Bedeutung des Fernrohrs für die Astronomie evident machen, sondern werden besonders auch für zwei weitere Diskurse der Epoche in Anspruch genommen, nämlich für die wissenschaftsgläubige Rede von der ›Pluralität der Welten‹ bei Borel, Fontenelle und Huygens, die von der Existenz weiterer Welten im unendlichen Universum ausgingen, 1 sowie für die ›Apologie des Christentums‹ bei Pascal und La Bruyère.

[4] 

Im Kontext dieser beiden Diskurse gewinnt eine These Hans Blumenbergs für die Ausführungen von Witthaus große Bedeutung. Die Eigenart des Teleskops besteht Blumenberg zufolge nicht nur darin, bislang Unsichtbares sichtbar gemacht zu haben, sondern es stellt sich zugleich ein Bewusstsein dafür ein, dass trotz der Ausweitung des Sichtbaren weiterhin Unsichtbares existiert. Das teleskopische Bild wird so zum ›teleskopischen Argument‹, das sowohl die Existenz weiterer Welten belegen als auch das Scheitern der menschlichen Wissenschaft demonstrieren kann.

[5] 

Nachrichten von den Sternen:
Galileis Bilder

[6] 

Im Mittelpunkt der Studie stehen also die neuen Bilder von Himmelskörpern, die zum ersten Mal in Galileis Sidereus Nuntius von 1610 veröffentlicht wurden. Witthaus macht plausibel, dass es sich bei diesem Werk um ein Medien-Ereignis im doppelten Sinn handelt. Erstens organisierte Galilei darin einen Medienverbund, da es ihm gelang, die durchs Fernrohr gesehenen Bilder mit Hilfe von Kupferstichen zu speichern, sie durch seinen Text zu kommentieren und sie durch das Medium des gedruckten Buchs in einer Gemeinschaft von Lesern zirkulieren zu lassen, wodurch sie zum festen Bestand des kollektiven Gedächtnisses werden konnten. Zweitens ist es ein Medien-Ereignis auch durch die Art, wie die Abbildungen im Text inszeniert werden. In seiner Interpretation des Werkes widmet sich Witthaus dieser Inszenierung am Beispiel der Mondabbildungen. An diesen könne die Macht des Fernrohrs am sinnfälligsten gemacht werden: Durch die Mondbeobachtung werde nämlich die strukturelle Verwandtschaft von Mond und Erde deutlich, so dass es zu einem Wiedererkennungseffekt habe kommen können, der einerseits bei den Betrachtern Staunen hervorrief, andererseits aber als Beleg für die neue antiaristotelische Kosmologie diente.

[7] 

Galileis Bilder sind demnach nicht nur wissenschaftliche Daten, sondern vor allem daraufhin kalkuliert, bei den Betrachtern den Effekt der ›admiratio‹ angesichts des Neuen und Wunderbaren hervorzurufen, welches der Sternenbote zu berichten weiß. Die Bilder besitzen eine Funktion, welche in der Rhetorik üblicherweise von Verfahren des ›Vor-Augen-Stellens‹ erfüllt wird, zielen sie doch darauf, den Sachverhalt, den sie belegen sollen, mit größtmöglicher Evidenz zu verdeutlichen.

[8] 

Zur Erzielung der intendierten Wirkung legte Galilei nicht nur größten Wert auf die sorgfältige Herstellung der Kupfer, sondern er verdoppelte das Verfahren des Vor-Augen-Stellens durch den erläuternden Text, in dem die Bilder durch ihre Beschreibung animiert und in eine Sequenz überführt werden. Eine weitere Aufgabe des geschriebenen Texts besteht darin, die Phänomene der Mondoberfläche durch Vergleiche mit der Erde verständlich zu machen.

[9] 

Wie Witthaus im Galilei-Kapitel herausarbeitet, kodifiziert dieser seine Bilder ganz nach der Maßgabe der Zentralperspektive, was einer Zähmung des Blickes gleichkommt, da das neue Objekt immer auf den Standpunkt des Betrachters hin ausgerichtet wird. Galileis Nachfolger folgten dieser Interpretation, so dass sich von einem optisch-literarischen Dispositiv sprechen ließe, welches die Wahrnehmung und Interpretation teleskopischer Daten wirkungsvoll diszipliniert. Witthaus jedoch vermeidet den Begriff des Dispositivs und bezieht sich statt dessen in ziemlich überraschender Weise auf Heideggers Konzept des ›Ge-stells‹, das Heidegger zur Charakterisierung des Wesens der Technik gebrauchte, wobei das Gestell, gerade weil es das Wesen der Technik bezeichnet, selbst nichts Technisches ist und auch nicht sein kann. 2

[10] 

Witthaus’ Versuch, das ›Ge-stell‹ zu aktualisieren, liest sich so:

[11] 
Die an dieser Stelle erfolgende Adaption der Wortprägung ›Ge-stell‹, die sich historisch gesehen auf den gleichen epochalen Zeitraum bezieht, verlagert indes den Akzent. Was Heidegger in monumentaler Perspektive von der frühmodernen Physik bis hin zur zeitgenössischen Technik als ›schickendes‹ Prinzip neuzeitlicher Seins-Entbergung aufweist, wird zu einer Detailbetrachtung, welche die medialen Anteile des Gestells zurück ins Spiel bringt. (S. 25)
[12] 

Dieser Vermittlungsversuch überzeugt wenig, da er Heideggers Begrifflichkeit die Schärfe nimmt, ohne dass dadurch etwas wirklich Neues gewonnen würde.

[13] 

Was nun Galilei betrifft, so steht für Witthaus fest, dass er kein Empirist, sondern vielmehr ein Rationalist gewesen sei, weil er die Sinnesdaten durch die zentralperspektivische Überformung gebändigt habe. Jedoch sollte man hier wohl besser von ›Proto-Rationalisierung‹ sprechen, da die Bändigung der Bilddaten bei Galilei nicht ausdrücklich theoretisiert, sondern nach dem Vorbild der Renaissance modelliert wird.

[14] 

Das theoretische Rüstzeug, mit dem die Rationalisierung des Blicks in Einklang mit einer neuen Optik gebracht wurde, lieferte schließlich Descartes’ Dioptrique, in der das Sehen als eine rationalistische Rekonstruktion des Netzhautbildes verstanden wird: Dieses gehorcht Gesetzen der Brechung, welche von der Vernunft korrigiert werden. Das Fernrohr konnte nun funktionell in Analogie zur Netzhaut verstanden werden. Die geometrische Optik Descartes’ legitimierte also die Bilder des Fernrohrs und sicherte ihm die Aufnahme in den Kanon der Wissenschaft.

[15] 

Mit seiner ausführlichen Analyse und Kommentierung des Sidereus Nuntius kann Witthaus zeigen, dass die Verbindung von medialer und rhetorischer Perspektive sinnvoll ist. Sein Ergebnis, dass Galilei das Teleskop rhetorisch aufwertet und zugleich die Bilder nutzt, um mit ihrer Hilfe die ›Rhetorik‹ der neuen Wissenschaft zu unterstützen, überzeugt. Zugleich liefert die Analyse des Sidereus nuncius das Fundament für die Untersuchungen zur französischen Literatur im zweiten Teil der Arbeit.

[16] 

Die Existenz neuer Welten

[17] 

Dort geht es um den Stellenwert des ›teleskopischen Arguments‹ für den Diskurs der ›Pluralität der Welten‹. Witthaus unterstreicht zunächst, dass dieser Diskurs nicht erst im Zuge der neuen Wissenschaft aufkam. Bereits Demokrit und Lukian, vor allem aber Giordano Bruno vertraten diese These bzw. nutzten sie wie Lukian zu satirischen Zwecken. Jedoch verändert sich die Argumentation zugunsten der Existenz anderer Welten nach Galilei dahingehend, dass es jetzt die teleskopisch gerüsteten Sinne sind, welche diese Welten zu entdecken vermögen, während für Bruno noch feststeht, dass nur die philosophische Spekulation, die von den Sinnen gereinigte Ratio, sich zur Höhe dieser Annahme aufschwingen kann. Ein (von Witthaus unterlassener) Seitenblick auf die Präferenz Brunos für den sich von den Sinnen freiwissenden Verstand hätte die Differenz zwischen der Naturphilosophie des 16. und der etablierten Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts und damit die Eigenart der Ära nach Galilei verdeutlichen können. Diese wertet nämlich die Sinnesdaten zu Ausgangspunkten der Hypothesenbildung auf.

[18] 

Anhand dreier Schlüsseltexte untersucht Witthaus nun, wie die neuen Informationen und das kulturelle ›Imaginäre‹ in den Rahmen der Rede von der ›Pluralität der Welten‹ integriert wird: Es handelt sich um Pierre Borels Discours nouveau prouvant la pluralité des Mondes (1657), um Jean-Bertrand de Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes (1686) und schließlich um Christiaan Huygens’ 1698 posthum veröffentlichten Cosmotheoros. Die drei Werke unterscheiden sich nicht nur in ihren rhetorischen Verfahren und der Verwendung teleskopischer Bilder, sondern zunächst einmal grundlegend in ihrem Wissenschaftsverständnis, in welches das ›teleskopische Argument‹ jeweils einzuordnen ist. Ihre Differenzen arbeitet Witthaus gründlich heraus, ohne dabei allerdings seinen roten Faden aus den Augen zu verlieren.

[19] 

Was Borel betrifft, so folgt sein Traktat einer Poetik der curiosité, die nicht nur auf die Befriedigung des Wissensdrangs seines Publikums abzielt, sondern vor allem auf den Affekt des Staunens über das noch Neue und Unbekannte, welches der Autor unterbreitet. Ihren Ausdruck findet diese Poetik in der Diversität des Textes, dem Wechsel der Argumente und der Autoritäten, zu denen mittlerweile die zahlreichen teleskopisch bebilderten Werke der Astronomie aufgerückt sind. Das Teleskop wird also über die Autorität der Bücher eingeführt und die Quelle des Neuen ist für Borel weniger die sinnliche Erfahrung als vielmehr die Bibliothek, womit der Autor weiterhin in der Tradition der humanistischen Gelehrsamkeit steht.

[20] 

Das zeigt sich auch an der Argumentationsweise, die nicht streng methodisch verfährt, sondern die verschiedensten Topoi des zeitgenössischen Wissens abschreitet. Aufgrund dieser Tatsache ist es nicht immer leicht, die Bedeutung des ›teleskopischen Arguments‹ sicher einzuschätzen. So zitiert Witthaus als Beleg für dessen argumentatives Gewicht einige Stellen des Traktats, in denen Borel den alten Topos des Aufstiegs der Seele in den Kosmos aufruft, wo sie dessen wahre Struktur zu erkennen vermag.

[21] 

Diese aus der Antike stammende Vorstellung – so beginnt z.B. die pseudo-aristotelische Schrift De mundu mit ebendiesem Gemeinplatz – besitzt gerade auch in der Renaissance große Beliebtheit, etwa in Ronsards Hymne des Astres. Daher wünschte man sich eine Erläuterung von Seiten des Autors, was es bedeutet, dass das Fernrohr »zum Emblem der kosmischen Reise und der philosophischen Meditation« werde (S. 123). Denn die durch Meditation herbeigeführte Schau der Seele und der vom neugierigen Blick erzeugte Affekt des Staunens gehören zu ganz verschiedenen Ordnungen des Wissens, deren Verhältnis durchaus hätte untersucht werden müssen.

[22] 

Ganz anders stellt sich das Problem bei Fontenelle dar: Dreißig Jahre nach dem Erscheinen von Borels Traktat hat sich der wissenschaftliche Diskurs konsolidiert, und es geht jetzt darum, eine esoterisch zu werden drohende Wissenschaft gesellschaftsfähig zu machen. Der Adressat der Gespräche ist nicht mehr der curieux, sondern der honnête homme. Im Anschluss an neuere Studien zu Fontenelles Werk erläutert Witthaus zunächst die Grundzüge der Entretiens: Die Gesprächssituation ermöglicht die Einbettung des Expertenwissens in die Salonkultur des späten 17. Jahrhunderts und verleiht ihr damit kommunikative Anschlussfähigkeit. Das rhetorische Rahmenprogramm besteht also, wie Witthaus betont, in der »Verlebendigung« von Expertenwissen (S. 143), und daher rücken »die Mittel der Bildfindung: hypotypose, evidentia und Metaphorik« in den Mittelpunkt (ebd.).

[23] 

Damit aber ist – man ahnt es schon – das Fernrohr nicht mehr weit. Witthaus erörtert überzeugend die Stellung des Teleskops innerhalb der argumentativen Bewegung des Textes als eine ambivalente. Einerseits leitet es das Auffinden von Analogien zwischen den Himmelskörpern und der Erde durch die Imagination an, andererseits aber wird die Imagination auch gezähmt, denn die wissenschaftliche Genauigkeit besteht auf den Differenzen der Himmelskörper, muss also die Imagination methodisch kontrollieren und die teleskopischen Daten theoriegeleitet interpretieren. Hier bewahrheitet sich Witthaus’ Metapher vom ›Gestell‹, das Sichtbarkeit herstellt, aber immer auch beschränkt oder diszipliniert.

[24] 

Die Ambivalenz der Imagination resultiert aus dem Anliegen Fontenelles, das Expertenwissen gesellschaftlich zu erschließen. Während nämlich der Astronom die Teleskopbilder lediglich zum Zweck des Berechnens benötigt, verwendet sie der Autor, um damit die Öffentlichkeit zu erreichen und ihr die wissenschaftlichen Erkenntnisse in einer angemessenen Form zu evidenzieren. Am Beispiel von Christiaan Huygens’ Cosmotheoros schließlich zeigt sich, dass die teleskopische Evidenz am Ende des Jahrhunderts überschritten wird: Die Ausmaße des Kosmos entziehen sich letztlich der Anschauung und sind nur noch in Zahlen auszudrücken.

[25] 

Daher benutzt Huygens in seinen späten Werken die optischen Instrumente weniger, um Oberflächenstrukturen der Planeten zu entdecken, sondern verwendet sie vielmehr zur Berechnung der Rotation. Hier setzen sich Messdaten gegen das Paradigma der Anschaulichkeit durch. Die drei gewählten Beispiele, anhand derer Witthaus die Funktion des ›teleskopischen Arguments‹ für die Rede von der Pluralität der Welten untersucht, ergeben somit eine kleine Geschichte der fortschreitenden Überwindung der Imagination und der Anschauung im Prozess der mathematischen Wissenschaften. Dieser Anschauungsverlust wird im Abschlusskapitel der Dissertation aus einer weiteren Perspektive erneut thematisiert, nämlich ausgehend von Pascals und La Bruyères Kritik der theoretischen Neugierde.

[26] 

Die Unsichtbarkeit der Welt

[27] 

Aus Pascals Pensées stammt der berühmte Satz:»Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie.« 3 Dieses Verstummen des Himmels ist für Witthaus das Ergebnis der Wissenschaftsgeschichte: Das Vorherrschen des Gesichtssinnes bei der Gewinnung astronomischer Daten und deren quantifizierende Auswertung löscht ihm zufolge die eigenständige Bedeutsamkeit des Himmels aus. Und doch ist die Stummheit des Himmels eine Option, die nicht unbedingt gewählt werden musste, bedenkt man die Bedeutung der Physikotheologie für das späte 17. und das 18. Jahrhundert. Pascals Auffassung vom Schweigen des Alls wurzelt doch wohl stark in der von Witthaus übergangenen jansenistischen Theologie des ›verborgenen Gottes‹, der nicht durch seine Schöpfung, sondern höchstens in der Innerlichkeit des ›Herzens‹ vernommen werden kann.

[28] 

Witthaus legt zu recht Wert darauf, dass für Pascal das Fernrohr nicht in einem physikotheologischen Sinn in die Apologie des Christentum zu integrieren war. Gegen diese von Voltaire und Blumenberg vertretene Interpretation stellt Witthaus die These auf, dass für Pascal die natürliche Welt kein unmittelbarer Ausdruck ihres Schöpfers sein konnte. Vielmehr versinnbildliche die Natur nach Pascals Auffassung die göttliche Ordnung nur uneigentlich und unvollkommen, womit er die mittelalterliche Figuraldeutung wieder aufgreife: Die Unendlichkeit der Welten werde zur Figur der Unendlichkeit Gottes. Das Fernrohr – und auch das Mikroskop – erhält bei Pascal seine Bedeutung als »Emblem der Unsichtbarkeit« (S. 227), wie Witthaus insbesondere an zwei wichtigen Texten des Philosophen demonstriert, nämlich an Esprit géometrique und an Disproportion de l’homme.

[29] 

Im Esprit géometrique überlagern sich zwei Begriffe der Evidenz. Einerseits soll die Tatsache der unendlichen Teilbarkeit aller Punkte eine Evidenz im Sinne Descartes’ sein, also eine intuitive Gewissheit; andererseits wird diese Evidenz am Ende des Essays unter Rekurs auf das Teleskop evident gemacht – also im alten rhetorischen Sinne ›vor Augen gestellt‹, da der Einsatz des Teleskops bewiesen habe, dass die scheinbar begrenzten Himmelsphänomene nur einen Bruchteil der wirklich existierenden darstelle. Daraus lässt sich leicht die Folgerung ableiten, dass auch das in seiner Auflösungsfähigkeit eingeschränkte Teleskop noch unendlich viele weitere Punkte übersieht.

[30] 

Dasselbe Argument kann auch für das unendlich Kleine geltend gemacht werden, mit Hilfe des Mikroskops, das seit Robert Hookes Micrographia (1665) berühmt geworden war. Der zweite Text Pascals, Fragment P/L 199 (Disproportion de l’homme), in dem Pascal eindrucksvoll belegen möchte, dass die Bedeutsamkeit des Menschen gegenüber der Unendlichkeit der Schöpfung verschwindend gering ist, führt dieses Argument weiter aus und lässt den technologisch gerüsteten Blick an der Größe seines Gegenstandes scheitern: »Das Unsichtbare der Wissenschaft kann nur figura eines Unsichtbaren der göttlichen Ordnung sein.« (S. 227) Genau darin aber sind die optischen Medien von zentraler Bedeutung für Pascals ›Rhetorik des Herzens‹, verweisen sie doch den neugierig fragenden Blick des Menschen an sein eigenes Herz zurück, das zur Umkehr bewegt werden soll.

[31] 

An diese schlüssige und spannende Lektüre Pascals schließen sich noch einige Bemerkungen zum Kapitel über die »Esprits forts« aus La Bruyères Caractères (1688 – 96) an, in denen das teleskopische Argument zugunsten des mikroskopischen aufgegeben wird. La Bruyère schließt an Hookes Micrographia bzw. an dessen französische Übersetzung an und übernimmt seine physikotheologisches Argument, wonach die Welt des Kleinen eine unerwartete und dem Menschen unerreichbare Perfektion und Vollkommenheit aufweise, in der sich die Hand des Schöpfers offenbare.

[32] 

Der Rekurs auf das Mikroskop aber geht mit einer Absage an das Teleskop einher: Denn der ›esprit fort‹ Lucile, der die Unendlichkeit der Welten erforschen will, wird mit dem Argument abgewiesen, das neugierige Fragen nach dem Universum sei für den Menschen nutzlos, die irdische Schöpfung aber könne die Macht des Schöpfers demonstrieren. Damit gelangt Witthaus zufolge das ›teleskopische Argument‹ an das Ende seiner Beweiskraft.

[33] 

Fazit

[34] 

Das Verdienst der Studie besteht vor allem darin, die verborgene Bedeutung der teleskopischen Bilder aufgedeckt zu haben, die für die Literatur des 17. Jahrhunderts eine überaus wichtige metaphorische Funktion besitzen. Witthaus macht deutlich, dass die Erkenntnisse und Methoden der Naturwissenschaften in der Literatur nicht nur als Motive eine bedeutende Rolle spielen, sondern vor allem eine die rhetorische Gestaltung der Texte steuernde und herausfordernde Funktion übernehmen: Die Strategien literarischer Evidenz müssen sich an der Evidenz der neuen Bilder bewähren und suchen sie noch zu übertreffen oder sogar, wie im Falle Pascals, die Evidenz ins Paradox der Unsichtbarkeit zu stürzen. Das Teleskop erweist sich somit als äußerst fruchtbares ›Instrument‹ literarischer Bildfindung. Trotz der Einwände im Detail überzeugt das Buch durch seine Resultate, durch die stringente und vielschichtige Argumentation sowie nicht zuletzt durch den eleganten und pointierten Stil, der die Lektüre zu einem Vergnügen macht.



Anmerkungen

Der Begriff der ›Pluralität der Welten‹ bezieht sich bei Witthaus also auf eine wissenschaftliche Hypothese des 17. Jahrhunderts und ist nicht im Sinne der heutigen Renaissanceforschung als ein Charakteristikum der Epoche der Renaissance zu verstehen. (Zu letzterem s. Wolf-Dieter Stempel und Karlheinz Stierle (Hg.): Die Pluralität der Welten – Aspekte der Renaissance in der Romania, München 1987).   zurück
Heidegger verwendet den Begriff mehrfach:In seinem Vortrag Die Frage nach der Technik, in: M. H., Vorträge und Aufsätze. Frankfurt a. M. 92000 (GA 7); in: Die Technik und die Kehre, Stuttgart 91996 und in: Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, (GA I.5), Frankfurt a. M. 1975.   zurück
P 201 (Zählung von Lafuma).   zurück