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Von 'omnipotenten Genies' und
'parfümierten Halbweltdamen'

Zur Rolle von 'Geschlecht'
im literarischen Diskurs der Moderne

  • Urte Helduser: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900. (Literatur - Kultur - Geschlecht. Große Reihe 34) Köln, Weimar: Böhlau 2005. 386 S. Broschiert. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 3-412-17004-6.
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Geschlechterdiskurs um 1900

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Anknüpfend an die bereits von Michel Foucault konstatierte »diskursive Explosion« des Themas ›Geschlecht‹ für die Zeit um 1900 hat auch die literaturwissenschaftliche Genderforschung seit geraumer Zeit ein besonderes Augenmerk auf die Epoche der so genannten klassischen Moderne gelegt und dabei in zahlreichen Einzelanalysen wie auch hinsichtlich der theoretischen Protagonisten Nietzsche und Freud eine Fülle von Studien hervorgebracht, die die Bedeutung der Geschlechterdifferenz als kulturelles Deutungsmuster um 1900 herausstellen. Urte Helduser knüpft an diese Forschung an und beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit der »Konstruktion von Geschlecht im Diskurs der Moderne« (S. 4). Dabei bestätigt sie materialreich den in der Forschung bereits verschiedentlich formulierten Verdacht, dass die Kategorie Geschlecht in den ästhetischen Theorien und Konzepten der literarischen Moderne zur zentralen Kategorie der ästhetischen Selbstreflexion avanciert, die über die Konstruktion von Weiblichkeitsbildern weit hinausgeht: Moderne wird lesbar als äußerst aufwendiger und extrem widersprüchlicher Versuch, den im Laufe des 19. Jahrhunderts zerrütteten literarischen Code durch aggressives Engendering zu restabilisieren, so dass die dergestalt »männliche« Literatur am Ende auch wieder die hohe sei. 1

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Heldusers historische Diskursanalyse rekonstruiert den Geschlechterdiskurs in Philosophie, Psychoanalyse und vor allem in Literatur(programmatik) um 1900 entlang der bekannten Topoi. Diese werden daraufhin überprüft, wie sie »Männlichkeit und Weiblichkeit« herstellen und wie sie Moderne und Geschlecht verweben (S. 58). Helduser kann zeigen, dass bestimmte Argumentationsfiguren wie die der ›Feminisierung‹ in ihrer doppelten Semantik als ›Verweiblichung‹ und ›Verweichlichung‹ sich zitierend wechselseitig bestätigen, sich in diesem Prozess aber auch verschieben und verselbständigen. (S. 60) Sehr verdienstvoll ist dabei vor allem die Präsentation umfangreichen Materials, das sowohl dezidierte Programmschriften als auch poetologische Essays sowie die entsprechenden Zeitschriftenprojekte wie Die Gesellschaft, Freie Bühne, Die Moderne etc. auswertet, da die meisten der hier zitierten öden Gedichte und platten Satiren die Lesbarkeitsgrenze deutlich unterschreiten. 2 Denn gerade in den schier endlosen Klagen, im stereotyp wiederholten Gejammer wie auch in den bösartigen Rundumschlägen wird endgültig evident, dass man es hier nicht mit einem marginalen Phänomen zu tun hat, sondern dass die Geschlechterdifferenz im Zentrum der literarischen Moderne siedelt.

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In ihrer Thesenbildung folgt Helduser vor allem Rita Felskis Studie The Gender of Modernity (1995), in deren Perspektive sich literarische Moderne per se mit Männlichkeit, Rationalität, Fortschritt und hoher Literatur identifiziert, gegen die das Weibliche einerseits als Projektionsfläche der Erlösung erscheint, andererseits aber gleichgesetzt wird mit Trivialität und Massenkultur. Die diskursive Selbstkonstruktion einer männlichen Moderne vollzieht sich entlang der Unterscheidung ›überkommen‹ (weiblich) versus ›künftig‹ (männlich) in zwei Modi: durch Verwerfung des ›Weiblichen‹ und Ausschluss einerseits, durch Vereinnahmung und Aneignung des ›Weiblichen‹ andererseits. Die bereits seit 1800 bekannte Anlagerung der Geschlechterdifferenz an die zentralen Dichotomien von Hoch- und Unterhaltungskultur, von Avantgarde bzw. Moderne und Epigonalität bzw. Mode hatte neben der Stabilisierung des Literatursystems immer auch die literaturpolitische Funktion des Ausschlusses von konkurrierenden Autorinnen aus dem legitimen Diskurs um Literatur zur Folge. Da aber im Laufe des 19. Jahrhunderts Frauen trotz dieser Exklusion verstärkt und äußerst erfolgreich auf den literarischen Markt drängten – man denke nur an das absolute Feindbild der ›Modernen‹, an Eugenie Marlitt –, wird der Topos der Feminisierung zum Ausdruck der Marginalisierungserfahrung des männlichen Autors schlechthin.

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Im Vergleich zum 19. Jahrhundert vollziehe sich, so Helduser, ein »Wechsel im Reden über Geschlecht«: »Verkörperte bis hierhin das Weibliche stets das Geschlecht an sich, während der Mann getreu der Natur/Kultur-Dichotomie für den Menschen stand, so wird jetzt auch der Mann als ›Geschlechtswesen‹ wahrgenommen.« (S. 46) Darin aber liegt zugleich das Problem: Wenn nunmehr beide Geschlechter als Naturwesen wahrgenommen werden, kollabiert die systemkonstitutive Differenz Natur/Kultur, denn Differenzen entfalten ihr strukturierendes Potential nur in der Asymmetrie: indem immer nur eine Seite bezeichnet wird. Aus diesem Grund musste beispielsweise Otto Weininger auf einer »Statuierung der größtmöglichen Ungleichheit, die im Bereich des Denkbaren überhaupt zu erreichen ist«, 3 bestehen, da nur so die Geschlechterdifferenz als organisierendes und stabilisierendes Moment funktioniert. Allerdings bleibt, wenn ›männlich‹ auch Geschlechtliches bezeichnen kann, dieses Bemühen vergeblich. So führt das proliferierende Engendering in der Moderne gerade nicht zur Stabilisierung, sondern zur Auflösung von gender als bedeutungskonstitutiver Kategorie des literarischen/kulturellen Systems. Exzessiv werden deshalb von den Autoren (und teilweise auch Autorinnen) national-chauvinistische, rassistische und/oder politische Differenzen, flankiert von Unterscheidungen wie gesund/krank (vgl. die Hysterie-Debatten), sittlich/unsittlich etc. zur Absicherung der Distinktion von guter, kunstvoller, männlicher Literatur und schlechter, weiblicher Unterhaltung herangezogen.

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Naturalismus

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Besonders die ästhetische Programmatik des Naturalismus zeichnet sich durch eine stark gegenderte Sprache aus, das Geschlechterschema bildet einen festen rhetorischen Topos im ›Innovationspathos‹ des Naturalismus. Die Beschwörung einer ›männlichen Dichtung‹ verbindet sich dabei mit der Klage über die »geheiligte Backfisch-Litteratur« und eine »angestaubte phrasenselige Altweiber-Kritik«. Gegen die moralische und ästhetische Depravation des Literaturbetriebs und seiner Werte führt sich wie von selbst männliche Tiefe ins Feld. Der als Bedrohung der eigenen Produktivität empfundene, mit Kastrations- und Impotenzängsten belastete, literarische Markt wird automatisch weiblich konnotiert. Trivialität, Idyllisierung, Sentimentalität, Unterhaltung usw. werden mit dem Verweis auf ökonomische Literaturspekulantinnen und ein minderwertiges weibliches Publikum attackiert. Falschheit, Lüge, Trivialität, Privatheit, Schwäche, kurz ›Romantik‹, bilden den negativen Pol, dem die naturalistische Literatur Stärke, Kraft, Tapferkeit, Vitalität, Gesundheit, Virilität, Potenz, Echtheit, Wahrheit, Aktivität, kurz ›Realismus‹, entgegensetzen will. Das heroische Bild vom Mann soll zusammen mit dem des Dichters restituiert werden, wobei, bei Bleibtreu, Berg, Conrad u. a., zwischen modernen und nationalkonservativen Konzepten erhebliche »diskursive Überblendungen« zu beobachten sind (S. 96, FN 14): Männliche Literatur ist »ächt«, »natürlich« und vor allem »deutsch«, nur so gerät sie zur wirksamen Waffe im heroischen Kampf gegen die frustrierende Wirklichkeit, denn: »Unsere Literatur ist mit geringen Ausscheidungen zu einer bloßen Frauen-, ja vielleicht Mädchenliteratur geworden«. 4 Hatte Robert Prutz auf seine lapidare Diagnose aus der Mitte des Jahrhunderts, dass die Frauen eine Macht in der Literatur geworden seien, noch mit einer freundlichen Aufforderung an alle SchriftstellerInnen nach »guter Unterhaltung« reagiert, so wird nun das Distinktionsbedürfnis mit einer aggressiven Kampfansage und einem neuen Kult hoher Kunst verbunden.

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Bemerkenswert ist an den vielen von Helduser zusammengetragenen Textstellen die Aufbruchsemphase, die die Modernisten um 1900 in engste Verbindung zu denjenigen des 18. Jahrhunderts bringt: zum Dichterkult des Sturm und Drang, der bis in den Habitus hinein kopiert wird (S. 85). Doch für einen erfolgreichen Neuanfang, der ja in den zeitgenössischen Literaturgeschichten und bis heute in nichts weniger als der Klassik mündete, bedarf es zunächst einer »männlichen Leserwelt«, 5 denn »mit Literatur hatten sich von 70–84 außer alten Frauen und jungen Mädchen oder Gymnasiasten nur wenige reife ernste Männer beschäftigt.« 6 Entsprechend wird die Differenz Mode/Moderne entfaltet; eine bedeutende und insofern kanonische Moderne wird gegen ein ephemeres »Mode-Geschmier« in Stellung gebracht: »Der Begriff der ›Mode‹-Literatur wird zum Inbegriff der Unterwerfung und damit Entwertung der Literatur unter den Kapitalismus und dient als Chiffre für die weibliche Konnotation der Kulturindustrie.« (S. 72)

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Die ökonomische Komponente literarischer Produktion wird, auch dies keineswegs originell, im »Bild des Autors als Prostituierte« gefasst. (S. 93) »Prostitution wird zum Begriff für die Ökonomisierung literarischer Produktion« (S. 96). Der Rekurs aufs Genie dient dabei als »Strategie ästhetischer Legitimation«: 7 Das männliche Genie, das sich selbst gebiert, wahrt die Autonomie des echten Kunstwerks gegenüber der Korrumpierung durch den literarischen Markt und seiner Medien, wie den wütend attackierten Familienblättern; diese werden zusammen mit der Ökonomisierung des Schreibens zum ›Broterwerb‹ dem Weiblichen zugeschlagen. (S. 97) Damit tritt zugleich die Assoziation von Weiblichkeit und Masse auf den Plan, die im 20. Jahrhundert große Wirksamkeit entfalten wird. Weibliche Massenkultur wird zur notwendigen Folie, vor der sich männliche Hochkultur mit ihren Topoi von Autonomie, Rationalität, Distanz, Askese und Individualität abheben kann. Doch auch hier reicht, das zeigen die zitierten Texte eindrücklich, die Genderisierung für eine entsprechende Semantisierung gerade nicht aus, weshalb die dekadente Massenkultur wahlweise auch mit dem Jüdischen, dem Französischen, und hie und da bereits mit dem kulturlosen Amerikanischen identifiziert wird.

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Für den Naturalismus besonders bedeutsam ist neben dieser Sexualisierung der Aspekt der Biologisierung: Aus genialer Schöpfung wird nun Selbstzeugung. »Originale Fortentwicklungsfähigkeit – da steckt das Geheimnis genialer Begabung.« 8 Leo Berg implementiert v. a. die Topoi der Fruchtbarkeit bzw. Unfruchtbarkeit sowie die Vererbungslehre im literarischen Diskurs. Männliche Autorschaft wird so zur biologischen ›Vaterschaft‹, die in freier geistiger Hervorbringung und selbstverständlich ohne ›Mutter‹ ein Kunstwerk zeugt. Auch Max Nordau begründet den verderblichen Einfluss des Weiblichen auf die Kunst biologisch. Das ›Weib‹ sei Gattungswesen, dem die individuelle Entwicklung versagt sei. Nordaus »evolutionäres Fortschrittskonzept verweist Literatur und Weiblichkeit gleichermaßen aufgrund ihrer ›Emotivität‹ in den Rang des Rückständigen«, das dem männlichen Fortschritt zwangsläufig unterliegen müsse. (S. 196 f.) Zu Recht schlussfolgert deshalb Helduser, dass die Konstruktion von Geschlecht das Zentrum der ›biologistischen Ästhetik‹ des Naturalismus bildet. »Die hier entwickelten Geschlechterkonstruktionen werden schließlich in ein umfassendes Bild der kulturellen Moderne übersetzt, in dem die (ursprünglichen) Merkmale des ›Weiblichen‹ in eine allgemeine Diagnose münden.« (S. 202) Die hier als ›weiblich entartet‹ deklarierte Moderne spielt im 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle im antimodernen Diskurs.

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Die Auffassung von der Identität von biologisch-leiblicher und geistiger Zeugung und damit einhergehend die Verankerung des ›rezeptiven‹ bzw. zeugenden Prinzips im Bereich des Seelischen bildet einen Topos der Literaturtheorie und -kritik. Für die damit verbundenen Autorschafts- und Genie-Konzepte bieten sich unterschiedliche Präferenzen: Mal wird das Ideal der Ergänzung beider Geschlechter im androgynen Genie postuliert, mal das ›Männliche‹ oder aber das ›Weibliche‹ als ästhetische Kapazität des Subjekts hervorgehoben. In erster Linie handelt es sich dabei um einen Diskurs über das männliche Autorsubjekt, dem nun ›maskuline‹ oder (in Überwindung des biologischen Geschlechts) ›feminine‹ Eigenschaften zugesprochen werden, aber auch Frauen werden nach diesem Muster als ›männlich‹, d.h. konträr zu ihrem biologischen Geschlecht beurteilt. (S. 231)
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Wenn aber das Genie ein markiertes Geschlecht bekommt und man plötzlich nicht nur von ›männlichen‹, sondern eben auch von ›femininen‹ Genies sprechen kann, dann dekonstruiert sich die Ordnung des Ausschlusses gleichsam von selbst. Das zur eigenen Positionierung offenbar unverzichtbare Feindbild löst sich tendenziell auf. Da Helduser diese Dynamik im Rahmen ihres analytischen Ansatzes nicht sieht, kann sie auch die scheinbar rein affirmative Teilhabe einer Laura Marholm oder Lou Andreas-Salomé an diesem Diskurs nur beschreiben, während man darin durchaus einen (wenn auch nicht intentionalen) Akt der Subversion erblicken könnte.

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Insgesamt bemerkenswert sind die antagonistischen Feindbilder, die die selbsternannten Modernen zur Denunziation heranziehen: die ›Backfische‹ auf der einen Seite, die unwissend, unaufgeklärt und naiv schlechte Bücher verschlingen, und die ›Blaustrümpfe‹ auf der anderen, die pseudogelehrt, emanzipiert und dilettierend gemeinsam mit der ›effeminierten‹ Literaturkritik für den allgemeinen Verfall verantwortlich gemacht werden. Der Backfisch wird mithin als Rezeptionsmonster attackiert, das in absoluter Abhängigkeit und Unselbständigkeit verharre, während der Blaustrumpf als Produktionsmonster gezeichnet wird, das, ohne zu fragen, den literarischen Markt überschwemme. In beiden wird auf unterschiedliche Weise auch das Modell der Dilettantin aktualisiert – einmal im Sinne der Liebhaberin ohne allen Verstand, das andere Mal im Sinne des verschlingenden und nivellierenden Vamps. In dieses Spektrum von Imagines kann praktischerweise alles eingeschlossen werden, was ausgeschlossen werden soll. Sorgfältig wurde bei diesen Figuren darauf geachtet, dass sie nur auf weibliche Körper zurückgelesen werden können, dass es also nicht möglich ist, in diese Stereotypen einen männlichen Körper einzutragen, so dass selbst der von den Naturalisten massiv als effeminierter Modeschmierer beschimpfte Paul Heyse sich hier nicht angesprochen fühlen musste.

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Die eigentliche Komik dieses Literaturkampfs besteht nun darin, dass die Naturalisten am Ende vor allem untereinander mit dem Schimpfwort des Femininen um sich werfen (vgl. S. 144 ff.) und dass dem so genannten konsequenten Naturalismus und seinen Protagonisten Hauptmann, Schlaf und Holz von Kollegen wie Hans Landsberg, Paul Ernst oder Leo Berg schließlich die Männlichkeit überhaupt abgesprochen und statt dessen ein femininer, passiver Zug in ihrer Literatur konstatiert wird (S. 245 f.). 9

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Wiener Moderne

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Einen weiteren Schwerpunkt der aspektreichen Arbeit Heldusers, der hier herausgegriffen werden soll, bildet die so genannte Wiener Moderne, die die Abkehr von der »litterarischen Physik« des Naturalismus und die Aufwertung des femininen modernen Autors verkündet.

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Übertragen auf die Ästhetik bedeutet dies nicht nur die Annahme weiblicher Eigenschaften beim männlichen Autor, sondern sogar deren ästhetische Nobilitierung. Entgegen der kulturkritischen Zuschreibungen der ›Effeminierung‹ wird jetzt mit der ›Feminisierung‹ des männlichen Autors eine ästhetische Qualität verbunden. (S. 255)
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Unter der Annahme einer konstitutiven Bisexualität des wahren Künstlers macht man sich auf die Suche nach der ›Frau im Manne‹, denn, so beispielsweise das Interpretament Hermann Bahrs, während die männlichen Männer erschöpft und degeneriert seien, taugen gerade die künstlerisch noch unverbrauchten femininen Männer durch ihre besondere empfindsame Seite zur Kunst. Im Kampf um die ›richtige‹ Moderne wird der mit ihrer Virilität protzenden Münchner wie Berliner Moderne eine weibliche und wienerische gegenübergestellt. (S. 258) Ihre Vertreter heißen Hofmannsthal, Altenberg oder Beer-Hofmann, im Zentrum des Diskurses steht das Paradigma der Nervosität: »Die nervöse Frau fungiert nicht nur als literarisches Motiv und Metapher für ein ästhetisches Konzept, sondern dient auch der Umschreibung einer Rezeptionshaltung.« (S. 293) Den Mangel an großem Publikum kompensiert man durch die Betonung einer besonderen Exklusivität der Jung-Wiener Autoren, die sich nun ausgerechnet in einem kleinen Kreis weiblicher Leser realisiere: »schöne, kluge, empfängliche Frauen lauschen ihren Versen.« 10

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Damit wird Kittlers ›liebende Leserin‹ reanimiert, die bereits um 1800 durch ihre aufmerksame, sensible und phantasievolle Lektüre den männlichen Autor spiegelt. Das weibliche Publikum ist jetzt nicht mehr, wie im Naturalismus, Beweis für einen Verfall, sondern Ausweis für besonderes literarisches Niveau. Nervosität wird, das macht Helduser im Anschluss an die umfangreiche Forschung zum Thema deutlich, zum hart umkämpften Terrain der Geschlechterzuordnung: Die Rede von den ›Nerven‹ gipfelt in einer weit ausgreifenden Diskussion über Unterschiede der bzw. Grenzen zwischen den Geschlechtern, wobei die Merkmale des Nervösen bei der Frau auf innere Disposition, beim Mann auf äußere Einflüsse zurückgeführt werden. 11 Und während die nervösen Frauen als Objekte männlicher Wissenschaft in der Psychiatrie verschwinden, transformieren die Künstler das Stigma in Exklusivität.

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Nicht die bei Frauen qua Geschlecht gegebene nervöse Disposition ist hier das Ideal ästhetischer Produktion, sondern erst ihre Adaption und Transformation durch den männlichen Künstler macht sie zum ästhetischen Konzept. Dazu bedarf es neben dem ›femininen‹ Einfühlungsvermögen […] einer kontrollierenden Instanz der künstlerischen Beherrschung dieser Regungen der Nerven. (S. 312)
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Der moderne Künstler verwandelt also Nervosität aus einer biologischen Disposition in eine kulturelle Leistung – in ›Nervenkunst‹; zugleich geht mit »der Aneignung der weiblichen ›Empfänglichkeit‹ die Abgrenzung vom ›natürlich Weiblichen‹ einher.« (S. 314) Solchermaßen transformierte Feminität erscheint – z.B. bei Peter Altenberg – als »performatives Konzept der – ausschließlich männlichen – Selbstdarstellung« (S. 324). Es geht hier also, das macht Helduser deutlich, keineswegs um eine Neubewertung des ›Weiblichen‹, sondern um seine nachhaltige Aneignung. Das Feminine wird »entlang der Differenz Kunst/Natur als affirmativer Begriff vom nach wie vor negativ konnotierten Weiblichen ab[gelöst]. Dem Kult des Femininen steht [auch weiterhin, M.G.] eine Abgrenzung vom Weiblichen als ›trivial‹ und außerästhetisch gegenüber.« (S. 325)

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Dass es bei der Wiener Moderne mitnichten um eine weibliche Konstruktion von Autorschaft geht, zeigt auch die massive misogyne Rhetorik in den programmatischen Zeitschriften Moderne Dichtung oder Die Zeit, die mit ihren antifeministischen Ausfällen gegen Emanzen, Blaustrümpfe und höhere Töchter denen ihrer Münchner Kollegen nicht nachstehen. Zwar fällt auf, dass sich die führenden Vertreter oft sehr positiv über so genannte »Frauenliteratur« äußern – aber nur, wenn diese auch deutlich als solche gekennzeichnet ist. Während der Naturalismus Autorinnen immer nur als »Ausnahmefrauen« würdigt (wie etwa Maria Janitschek), wird hier das Schreiben von Frauen generell aufgewertet, um es desto deutlicher mit einer Sonderstellung zu versehen. 12

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Doch auch hier ist der rächende Engel nicht weit. So wird der Programmatiker der Wiener Moderne, Hermann Bahr, am Ende von seinem Antipoden Karl Kraus selbst als »parfumierte Halbweltsdame« beschimpft, die sich dem Massengeschmack prostituiere. 13 Kraus, für den ›Männlichkeit‹ gleichfalls als ästhetische Qualität figuriert, wertet mit dieser Vorgabe die gesamte Wiener Moderne zur klatschsüchtigen »Kaffeehausliteratur« ab. Auch dieser skurrile Distinktionsversuch zeigt aber vor allem eines: dass die Zuschreibung von Geschlecht auf Literatur um 1900 gerade nicht mehr zur Stabilisierung eines autonomen Literaturbegriffs führt, sondern zur Entdifferenzierung, zur Zerstreuung in die verschiedensten, sich gegenseitig mit denselben Kriterien bekämpfenden Strömungen und Ismen, an denen Frauen aller literarischen und ideologischen Couleur sich um so besser beteiligen können, als die Ausschlussmechanismen nicht mehr funktionieren. Die ›Modernen‹ überführen, das zeigt auch der Fall Kraus, den seit 1800 gegenderten kulturellen Prozess in einen Geschlechterkampf, der jedoch nicht mehr zu gewinnen ist.

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Fazit

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Wenn die hysterische »Nervenkunst« als Knotenpunkt zwischen medizinisch-psychiatrischem Geschlechterwissen und Kulturkritik im Naturalismus zur Denunziation weiblichen Schreibens, in der Wiener Moderne als avanciertes ästhetisches Konzept fungieren kann, dann zeugt diese Tatsache, das zeigt die vorliegende Studie, nicht für gegensätzliche Positionen, sondern vor allem für die unglaubliche Flexibilität des Codes männlich/weiblich. Der Titel »Geschlechterprogramme« ist deshalb missverständlich: Denn die Arbeit gibt gerade durch das sich Einlassen auf die unterschiedlichen literarischen Diskurse den Blick frei für das Unprogrammatische, Proliferierende der Kategorie Geschlecht, die zwar systematisch und in extenso zur Stabilisierung von Literaturprogrammen herangezogen wird, die selbst aber gerade keinen programmatischen Status erlangt. Geschlecht erscheint als (positiv oder negativ besetzte) ästhetische Qualität, die sich mit den verschiedensten literarischen Konzepten verbindet. Die vielfältige Verknüpfbarkeit des Codes ist aber mit festen Wertungen und Semantiken gerade nicht mehr zu vereinbaren.

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Während Helduser die verschiedenen argumentativen Funktionalisierungen durch die facettenreiche Darstellung der diversen ästhetischen Positionen präzise rekonstruiert, bringt sie damit die Vielstimmigkeit des Phänomens Moderne zum Vorschein. Sie kann zeigen, dass Geschlechterdifferenz in der Moderne nicht einen ›Wert‹ unter anderen, sondern eine zentrale Kategorie literarischer Selbstvergewisserung darstellt.

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Bedauerlich erscheint hingegen die unreflektierte Übernahme von Stereotypen und Wertungen, deren diskursive Entstehung doch gerade rekonstruiert werden soll, so etwa in der selbstverständlichen Rede von »der berühmt –berüchtigten Trivialautorin Marlitt« (S. 142) oder in Generalisierungen wie »epigonale Gründerzeitliteratur« (S. 103). Möglicherweise wäre durch einen Blick auf ihre Genese (auch in mediengeschichtlicher Hinsicht!) die hier reproduzierte Dichotomie von hoher und niederer Literatur, von Kunst und Trivialität, die seit 1800 für das Literatursystem konstitutiv mit den Geschlechtern verbunden wird, neu zu perspektivieren. Die diskursiven Eskapaden um 1900, verbunden mit ebenso wütenden wie lächerlichen männlichen Posen, wären dann nicht länger als ›Programme‹ oder ›Konzepte‹ zu verstehen, sondern als deren Unmöglichkeit, sofern die Geschlechterdifferenz zur Erzeugung kultureller Semantik und zur Stabilisierung des zerrütteten Literatursystems um 1900 gerade nicht mehr taugt: Wenn das Männliche geschlechtlich, also ›natürlich‹ wird, verliert es seine ausschließliche Bestimmtheit als Kultur und damit seine Kraft zur Distinktion.

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Auch die Ironie dieses Prozesses, seine bisweilen groteske Komik, könnte dann angemessen gewürdigt werden, wütet doch der Furor der Differenz umso stärker, je mehr das Literatursystem von Entdifferenzierung geplagt ist. Die bizarre Absurdität der Positionen, die partout einen essentiellen Unterschied zwischen Kunst und Unterhaltung, zwischen Literatursystem und Mediensystem behaupten müssen, droht bei Helduser jedoch in der Fülle des gebotenen Materials und seiner akribischen Deskription unterzugehen. Für die präzise beschriebene Fluktuation des Geschlechtercodes, für diese merkwürdige »Kontinuität in wechselnden Verbindungen« (S. 201) bietet sie leider keine Hypothese an. Doch gerade auf eine solche wäre man nach der überaus informativen Lektüre gespannt.

 
 

Anmerkungen

Zur Rolle der Geschlechterdifferenz im Literatursystem des 19. Jahrhunderts vgl. Manuela Günther: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2008.   zurück
Hier nur eine Stichprobe: »Zwar deine Reime sind nur selten weibliche, / doch was sie meinen ist das Ewig-Leibliche; / laß ab, du lockst uns doch nicht in den Sumpf, / durch deine Phrasen lugt der blaue Strumpf«. Arno Holz: Buch der Zeit. Lieder eines Modernen [1885]. Endgültige Ausgabe, Dresden o.J., S. 117.    zurück
Zit. nach Jacques LeRider: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus. Wien, München 1984, S. 43.   zurück
Heinrich Hart / Julius Hart: Kritische Waffengänge. Zweites Heft. Für und gegen Zola. Leipzig 1882, S. 53   zurück
Falk Schupp: Zu früh! Warnungstafeln für galoppierende Fortschrittsgeister [1891]. In: Gotthart Wunberg (Hg.): Das Junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887–1902. Bd. 1. Tübingen 1976, S. 173–181, hier: S. 178 (Hervorhebung im Original).    zurück
Conrad Alberti: Natur und Kunst. Beiträge zur Untersuchung ihres gegenseitigen Verhältnisses [1890]. Leipzig o.J., S. 98; vgl. C. A.: Die Frau und der Realismus. In: Die Gesellschaft 6 (1890), S. 1022–1030; vgl. C. A.: Paul Heyse als Novellist. In: Die Gesellschaft 5 (1889), S. 967–984; C. A.: Die zwölf Artikel des Realismus. In: Die Gesellschaft 5 (1889), S. 2–11.   zurück
Vgl. Jutta Kolckenbrock-Netz: Fabrikation, Experiment, Schöpfung. Strategien ästhetischer Legitimation im Naturalismus. Heidelberg 1981.   zurück
Karl Bleibtreu: Revolution der Literatur [1886]. Hg. von Johannes Braakenburg. Tübingen 1976, S. 68 f.   zurück
Vgl. Hans Landsberg: Die moderne Literatur. Berlin 1904, S. 21 ff.   zurück
10 
Hermann Bahr: Das junge Österreich [1893]. In: Wunberg, Die literarische Moderne, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 363–378, hier: S. 363.   zurück
11 
Vgl. Walter Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001, S. 261 f.   zurück
12 
Vgl. hierzu Brigitte Spreitzer: Texturen. Die österreichische Moderne der Frauen. Wien 1999. Zur prekären Nobilitierung der Ausnahmefrau vgl. auch das interessante Kapitel über die Autorin und Kritikerin Marie Herzfeld (S. 274 ff.).   zurück
13 
Karl Kraus: Zur Überwindung des Hermann Bahr [1893]. In: Wunberg, Die literarische Moderne, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 391–400, hier: S. 397, 399.   zurück