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»das Leben formend überwinden«

  • Claudia Öhlschläger: Abstraktionsdrang. Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne. München: Wilhelm Fink 2005. 262 S. 21 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 36,90.
    ISBN: 3-7705-4078-6.
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Objekt- und Metaebene

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Worringers Abstraktionstheorie, die in der Dissertation Abstraktion und Einfühlung (1908) entwickelt und in weiteren Arbeiten elaboriert wurde (bspw. in der Habilitationsschrift Formprobleme der Gotik (1911)), lag mitten in der klassischen Moderne, also um 1910/1920, in der Luft. Institutionell und fachspezifisch der Kunstgeschichte zugehörig, überschritt sie alsbald solche Grenzen und etablierte sich als Scharnierelement für verschiedenste Problemkonstellationen. Abstraktion und Worringer waren schnell in aller Munde, bei bildenden Künstlern (Marc, Kandinsky, Klee), bei Kunsttheoretikern (Hausenstein), bei Schriftstellern (Rilke, Benn), bei Soziologen (Simmel), bei Philosophen (Cassirer). Worringer selbst hat sich nicht umsonst als »Medium von Zeitnotwendigkeiten« 1 beschrieben und lässt sich somit leicht als »Schlüsselfigur im Diskurs der Moderne« bezeichnen, »die einerseits Tendenzen der Zeit seismographisch erkennt, andererseits für deren Fortwirken bis weit ins 20. Jahrhundert verantwortlich ist« (S. 48). Worringer war also nicht allein um 1910/1920 am Puls der Zeit, vielmehr hat er den Puls der Zeit so mitzudiktieren verstanden, dass Vieles um 1910/1920 auch im restlichen 20. Jahrhundert an Relevanz beibehalten hat. Worringers Denken erhält solchermaßen eine »Epochen übergreifende Bedeutung und Aktualität« (S. 49).

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Dadurch wird aber auch deutlich, dass mit Blick auf Worringer nicht allein markante Probleme der Moderne diskutiert werden können, sondern vor allem auch, dass die Moderne selbst als Problem verhandelbar wird. Anhand von Worringer eröffnet sich die Möglichkeit, die Moderne als komplexes und vielschichtiges und an Paradoxien, Ambivalenzen und Widersprüchen reiches Diskursphänomen beobachten zu können. Dies lässt sich freilich nur behaupten, wenn weder Worringers Abstraktionstheorie noch die Moderne als präformistische Beobachtungs-Objekte beschrieben werden, sondern wenn ein methodischer Zugriff gefunden wird, der Worringers Theorie und die Moderne als komplexe Beobachtungs-Objekte überhaupt erst konstituiert. Die Metaebene konstituiert die Objektebene bzw. die Metaebene konstituiert die Unterscheidung von Objekt- und Metaebene. Dies scheint selbstverständlich, es bedarf aber immer wieder besonderer Beobachtungsraffinessen, um diese Selbstverständlichkeit sichtbar werden zu lassen. Die äußerst lesenwerte Münchener Habilitationsschrift (2002) der mittlerweile in Paderborn als Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft und Intermedialität tätigen Claudia Öhlschläger lässt sich als solch eine Beobachtungsraffinesse lesen, freilich auch dann, wenn diese Raffinesse von der Arbeit selbst nicht immer reflektiert wird.

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Moderne als medienkulturwissenschaftliches
Diskursphänomen

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Im Fokus Öhlschlägers erscheint Worringers Theorie als Literatur-, Medien- und Kulturgeschichte verbindendes Moment (vgl. S. 11). Es handelt sich also um eine »Ästhetik, Soziologie und Geisteswissenschaft verbindende Form zeitgenössischer Kulturkritik« (S. 19). Nun ist es nicht so, dass Öhlschläger einfach aus einer nichtdefinierten literaturwissenschaftlichen Position heraus diese verbindende Form beschreibt, sondern vielmehr so, dass sie mithilfe eines synoptischen Ansatzes, der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft verbindet, Worringer als ein Literatur-, Kultur- und Mediengeschichte verbindendes Scharnier konstituiert. Um die »Koinzidenz von Worringers Abstraktionstheorie mit neuralgischen Problemen einer sich als kontingent erfahrenden Moderne« (S. 48) in den Blick zu bekommen, ist die Lektüre von verschiedenartigen Texten mithilfe eines »diskursanalytische[n] Verfahren[s]« (ebd.) notwendig,

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das es erlaubt, literarische Texte, kunsttheoretische Schriften und Dokumente der bildenden Kunst als Selbstthematisierungsmodelle der Moderne miteinander in Beziehung treten zu lassen. Die vorliegende Studie versucht auf diese Weise, Systematik und Inhalt, Diachronie und Synchronie zu verbinden. (ebd.)
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Die Stoßrichtung der Arbeit ist doppelt gelenkt, sie zielt, wie gesehen, auf die Selbstreflexion der Moderne einerseits und auf die Analyse von Konzepten, »die implizit oder explizit auf Theoreme dieser Abstraktionstheorie zurückgreifen und auf deren Folie epistemologische und repräsentationale Krisen der Moderne reflektieren« (S. 49), andererseits. Entscheidend ist nun, dass Öhlschläger weder eine polytextuell aufgeblähte Geisteswissenschaft betreibt, also die Abstraktion als ideengeschichtlich komplex verzweigtes Phänomen auffächert, noch versucht, eine für Kunst und Literatur verbindliche Definition von Abstraktion zu liefern, 2 sondern dass sie vielmehr explizit »Medienkulturwissenschaft« unter diskursanalytisch gepolten literaturwissenschaftlichen Vorzeichen betreibt. 3 Damit ist Vergleichbarkeit trotz Differenzialität gewährleistet.

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Abstraktion und Einfühlung

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Bekanntlich spannt Worringer eine Konstellation auf, die in der Auflösung der Individuation, in der Selbstentäußerung, das einheitliche Moment der Basisunterscheidung Abstraktion und Einfühlung sieht. Dem organisch, immanent, sensualistisch, naturalistisch, anthropomorphisch usw. gepolten Einfühlungsdrang wird der anorganisch, transzendent, absolut, wesensmäßig, geometrisch, gesetzmäßig usw. gefärbte Abstraktionsdrang entgegengestellt. Die Wirklichkeit und die Natur sind im Modus der Abstraktion unsichere, von Willkür und Chaos durchzogene Momente, die den Wahrnehmenden keine Sicherheit und keinen Schutz geben. Dem Sich-der-Natur-Hingeben in diesseitiger Harmonie, die immer revidieranfällig bleibt, wird eine 2-Welten-Ontologie 4 entgegengestellt, innerhalb der die abstrakte Erfassung des Dinges an sich als ursprüngliches Moment die Ewigkeit gegenüber der Revidieranfälligkeit der Erscheinungen immun macht. Die Kategorie des Stils ist es nun, die als Träger des Abstraktionsdranges gelten kann. Sie ist eine sowohl ästhetische als auch psychosoziale Kategorie, die als Schutz vor der Natur Ewigkeitspotenzial in sich trägt. 5 Und es ist die (nicht-dekorative) flächige Ornametik, die als Angst bannendes, Transzendenz sicherndes, geometrisch-abstraktes Moment das paradigmatische Medium für die lebensrettende Lebensausschließung und das Umstellen auf Ewigkeit ist. Das Ornament kann qua »sublimierte[r] Sinnlichkeit« eine »apotropäische Funktion« erfüllen (S. 44). Qua Ordnung werden ornamental der Natur ihre Dämonen des Chaos ausgetrieben.

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Des weiteren werden die Malsinnlichkeit durch eine Denksinnlichkeit und das Auge durch den Geist ersetzt (vgl. S. 35 ff.). Solchermaßen kommt es zur Fokussierung der psychischen Bedürfnisse, die aller erst das Schaffen von Kunst ermöglichen und damit zu einer »Entwerklichung« von Kunst. Es ist nur konsequent und schlüssig, wenn Öhlschläger hier von einem Ikonoklasmus spricht und den Weg von der »Loslösung von konkreten Wahrnehmungsparadigmen« über die »Entstofflichung und Auflösung von Materie« und dem »Ausbau spiritualistischer Lehrgebäude« hin zu einer »Epoche des großen Geistigen« (S. 46) nachzeichnet, in der Ströme und Strahlen an die Stelle der Objekthaftigkeit des Kunstwerks treten.

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Schließlich stellt Worringer im Zuge seiner Subvertierung der Dominanz des naturalistischen Nachahmungsparadigmas eine völkerpsychologische Trias auf, die am Anfang eben nicht die Naturnachahmung platziert, sondern die abstrakte Angstbewältigung. Worringer spricht den primitiven Naturvölkern die Fähigkeit zu, mithilfe des Instinkts die Angst vor der Natur qua Abstraktion bewältigt zu haben. Die orientalischen Kulturvölker haben dann statt der instinktiven eine reflexive Angstbewältigung realisiert. Demgegenüber gibt es das klassische Paradigma des diesseitigen Rationalismus und Sensualismus, das ohne Sinn für das Ding an sich eine mimetische Ästhetik der Naturnachahmung realisiert.

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Wichtig ist nun, dass Claudia Öhlschläger Worringers Überlegungen nicht (einfach) als kunstgeschichtliche Einteilungen liest, sondern sie vielmehr als paradigmatische Ausformungen moderner Problemlagen deutet:

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Worringers Abstraktionstheorie ist eine zivilisationskritische Theorie der Moderne, die im Gewand einer völkerpsychologischen und phylogenetischen Entwicklungsgeschichte der Kunst neuralgische Probleme der Zeit verhandelt: Das Schwinden der Dinge, die Ohnmacht des Menschen gegenüber einer ihm entfremdeten, sinnlich (hier vor allem optisch und haptisch) nicht mehr verfügbaren Objektwelt, und nicht zuletzt die Frage nach dem Stellenwert und der Funktion von Kunst in einem Zeitalter, dem durch einen neuen wissenschaftlichen Geist der Abstraktion des ›Wesen‹ bzw. die ›Natur der Dinge‹ und damit auch das Paradigma der Naturnachahmung abhanden gekommen ist. (S. 33)
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Entlang dieser Lesart kann Öhlschläger Worringers Abstraktionstheorie in eine umfassende Problemkonstellation der Moderne einbetten; entlang dieser Lesart wird Worringers Ästhetik somit nicht konkretistisch gedeutet, sondern in die Konstruktion der Moderne als Diskursphänomen eingeflochten. Solchermaßen entzünden sich an Worringers Theorie Momente, in denen unter anderem Spiritualismus, Magie, »Theomorphisierung der Welt« (S. 25), Geist, Un/Sichtbarkeit, Gegenstandslosigkeit, Denaturalisiation, Antimimesis u.ä.m. in den Blick kommen.

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Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass der Begriff des Primitivismus unterbelichtet bleibt. Zum einen operiert Worringer mit einer aus postkolonialer Perspektive sehr vagen und ideologischkritisch hinterfragbaren Konzeption von Primitivismus, zum anderen aber wäre eine genauere Klärung des Primitivismusbegriffs wichtig gewesen, da die Art und Weise, wie Worringer sich und der Moderne den Primitivismus konstruiert, konstitutiv die von Öhlschläger fokussierten Problemkonstellationen affiziert. Die Konstruktion des Primitivismus ist unmittelbar in die Bedingungen der Möglichkeit involviert, um so etwas wie bspw. Antimimesis oder Denksinnlichkeit denken und aufgrund dessen erklären zu können, wie sich an Worringers Abstraktion spirituell gefärbte Ästhetiken der Abstraktion entzünden konnten. Eine These könnte lauten: Ohne die Konstruktion von Primitivismus auch keine Moderne als Diskursphänomen anhand von Worringers Ästhetik. 6

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Medienkulturwissenschaft des Unsichtbaren

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Öhlschläger geht von der grundsätzlichen Prämisse aus, dass Worringers Theorie eine Theorie der Moderne ist (s.o.) und kann infolgedessen argumentieren, dass das basale Problem von Worringers Abstraktionsthese die radikale Kontingenzerfahrung (in) der Moderne (vgl. u.a. S. 12) und die damit zusammenhängende »zeitgenössische Sehnsucht nach allgemeingültigen und überzeitlichen Werten« (S. 21) ist. Diese Erfahrung wird in modernen Selbstbeschreibungsmodellen derart verarbeitet und konstituiert, dass Kontingenz als grundlegendes Strukturmerkmal der Moderne ausgewiesen werden kann. Öhlschläger gelingt es mit der Verschränkung dreier Komplexe, diese Modelle medienkulturwissenschaftlich einzuholen.

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Erstens ist da der geisteswissenschaftliche Komplex, es geht hier um »Synopsis und Transzendenz« (S. 48), indem in Bezug auf die »Tradition synthetischer Denkoperationen« (S. 39) (Simmel, Dilthey, Weber und Lukács) gezeigt wird, wie »an einer anthropologisch unterfütterten Theorie der Synthesebildung, die ein universales Erklärungsmodell zu liefern beansprucht« (S. 40), gearbeitet wird. Dabei versucht Worringer den grundlegenden Vorbehalt gegenüber der Natur mithilfe einer entlang von Entkörperlichung und Entsinnlichung geführten Denaturalisation in ein »transzendentes Ordnungsgefüge« (S. 40) zu überführen. Diese synthetisch gefärbte Transzendenz ist dann auch in der Lage, divergierende Konzepte wie eine antirationalistisch mystifizierende Lebensphilosophie oder Nietzsches Lebensbejahung mit Schopenhauers pessimistischer Verzichtphilosophie zusammenzudenken. Öhlschläger kann zeigen, dass Worringers asketischer Antisensualismus den polysensoriellen lebensphilosophischen Konzepten nicht entgegensteht, sondern mit ihnen auf sehr subtile und komplexe Weise verbunden ist. Indem also Worringer geisteswissenschaftlich auf Synthese und Transzendenz abgetastet wird, ergeben sich komplex verschränkte und auf den ersten Blick nicht sichtbare Konstellationen, die aufgrund eben dieser komplexen Verschränkung konstitutive Insignien der Moderne (als Diskursphänomen) sind.

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Zweitens setzt Öhlschläger eine kunsttheoretische Brille auf, die Worringers Konzeptualisierung von Ornament und Fläche in den Blick rückt. Entlang von Worringers Dekonstruktion von Naturnachahmung, Mimesis, Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Raum wird deutlich, dass das Ornament »den Rang einer Denkfigur einnimmt« (S. 43). Entscheidend ist hier, dass mit der kunsttheoretischen Brille wiederum das basale Problem der Kontingenzerfahrung (in) der Moderne in den Blick rückt. Nicht dekorativ ornamentale, sondern anthropologisch verankerte ornamentale Kunst zielt auf die Überwindung von Differenzialität und das »Ende der Unterscheidung« (S. 44) ab. Der willkürlich sich in Differenzen verlierenden Natur und Wirklichkeit sowie der »Unbehaustheit des Menschen in der Welt« (ebd.) setzt das Ornament eine Entdifferenzialisierung entgegen, die mithilfe einer »sublimierten Sinnlichkeit« (ebd.) und Geistigkeit nicht allein ewigdauernde »›Objektivität, Ruhe und Balance‹ schafft« (ebd.), sondern auch entlang der mit Transzendenz gefärbten Unterscheidung von Wesen / Erscheinung oder Ding an sich / Erscheinung unsichtbare Tiefendimensionen freizulegen erlaubt. Das ornamentale Paradies ist die Überführung der Differenz von Identität und Differenz in die Identität von Differenz und Identität, wobei eben die Unterscheidung von Identität und Differenz transzendent abgesichert zu sein hat. Öhlschläger kann dabei auch zeigen, wie dieses Paradies durch ein eigentlich paradiesfremdes Moment – Gewalt – kontaminiert ist. Um das Paradies des Differenzlosen denken und etablieren zu können, ist ein expliziter Gewaltakt notwendig, der die Willkürlichkeit und das Chaos der Welt bezwingt. Die Problemkonstellation von Anti-Mimesis, De-Naturalisation, Ent-Körperlichung, Anti-Sesualismus ist von der Rhetorik der Zerstörung, Tilgung und Bezwingung befallen (vgl. 45).

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Drittens fokussiert Öhlschläger den naturwissenschaftlichen, Wahrnehmung und Sichtbarkeit explizierenden Komplex. Es geht dabei um die Frage, wie die Unterscheidung Sichtbarkeit / Unsichtbarkeit im Hinblick auf die (Un-)Möglichkeitsbedingungen von sinnlicher Erfahrung prozessiert wird. Worringer versucht an rational-analytischen Zugriffen auf Welt, die alles auf dem ›Bildschirm‹ des Sichtbaren verfügbar machen wollen, eine »quasireligiöse, ›innere Notwendigkeiten« (S. 45) imaginierende Denksinnlichkeit vorbeizuschmuggeln. An Worringers Abstraktionstheorie kann beobachtbar werden, wie die Rettung von transzendenten Tiefendimensionen, die ein neues, nichtsinnliches, antioptisches und geistiges Sehen verlangt, mit Momenten von neuer Wahrnehmung, neuer Optik und neuer Sichtbarmachung korreliert. Die im Zuge von Atomphysik, Elektrizitätslehre, Aviatik und Mikroskopie »voranschreitende Loslösung von konkreten Wahrnehmungsparadigmen, die Entstofflichung und Auflösung von Materie, lief dem Ausbau spiritualistischer Lehrgebäude parallel« (S. 46). Dort, wo das Auge neu justiert und neu kalibriert wird, dort also, wo die Frage nach der (Un-)Sichtbarkeit der Welt neu konfiguriert wird, werden entlang von (natur-)wissenschaftlichen und technischen Parametern neue Kulturtechniken des Wahrnehmens initiiert. »Mit den neuen Techniken optischer Scharfstellung veränderte sich die Sichtbarkeit der Welt« (S. 47). Das Ende des organischen Auges im Zuge seiner Erweiterung zu Flugzeug- und Mikroskopblick – »zwei Modelle abstrakten Sehens« (S. 47) – führt sowohl zu einer Technisierung und Verwissenschaftlichung von Wahrnehmung als auch zu einer »Auflösung der sichtbaren Welt in materielose, entqualifizierte Bilder« (S. 47). Und diese Auflösung kann dann als Indiz für die Ungeordnetheit und Willkürlichkeit der Wirklichkeit dienen und moderne Selbstbeschreibungsmodelle im Kontext von Kontingenzerfahrung auf den Weg bringen. Auch hier wird Kontingenz zum zentralen Problemfeld, wobei es (wiederum) um die Frage geht, wie und ob etwas, das der Sichtbarkeit entzogen ist, zur Darstellung gebracht werden kann, ohne die dekonstruierte Mimesis und die dekonstruierte Repräsentation thematisieren zu müssen.

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Abstraktion als synthetisierendes Diskurselement

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Solchermaßen kann »Abstraktion [...] als ein historisches Diskurselement« beschrieben werden, »das auf verschiedene epistemische Umbrüche und Krisen der Repräsentation seit 1900 verweist«, dann ist »[i]n dieser Perspektive [...] die Diskursgeschichte der Abstraktion eng mit der Geschichte moderner Wahrnehmung und ihren Technologien verwoben« (S. 50) und die »Entstehung der Abstraktion in der Malerei« lässt sich sodann »im Zusammenhang naturwissenschaftlicher Formalisierungs- und Mechanisierungskonzepte« (S. 114) beobachten. Innerhalb dieser Konstellation kann Öhlschläger dann das Problem der Un/Sichtbarkeit als ein zentrales Medium moderner Selbstbeschreibungsmodelle konstituieren. Un/Sichtbarkeit wird entlang von 1) optischem und ästhetischem Sinn, 2) epistemologischen und repräsentationstheoretischen Reflexionen und 3) entlang einer mentalitätsgeschichtlichen Perspektive zu einem konstitutiven Element der Konstruktion von Moderne (vgl. S. 52). Moderne Abstraktionsverfahren laborieren an der »Lesbarkeit des Unsichtbaren« (S. 51), an der Unterscheidung Weltabblendung / Weltdurchleuchtung und somit an der Paradoxie, dass »die Sichtbarmachung von Welt [...] mit der Erzeugung unsichtbarer Evidenzen einher[geht]« (ebd.).

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Es sind nicht solche Beobachtungen, die in einem mittlerweile schon klassisch zu nennenden Sinne als kulturwissenschaftlich zu bezeichnen sind, die das medienkulturwissenschaftliche Potenzial von Öhlschlägers Studie ausmachen. Vielmehr ist es die Kombination von Geisteswissenschaft, Kunsttheorie und Naturwissenschaft einerseits und von Literatur-, Medien- und Kulturgeschichte andererseits, die dieses Potenzial illustriert. Auf diese Weise gelingt es Öhlschläger in dieser Kombination, Disparates zu vereinen und Kulturwissenschaftler und traditionelle Philologen gleichermaßen zu befriedigen.

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Strindberg, Marc, Rilke, Hausenstein, Klee

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Es ist bemerkenswert, wie Öhlschläger so an den Schrauben gedreht hat, dass in der Verschränkung von Geisteswissenschaft, Kunsttheorie und Naturwissenschaft medienkulturell relevante Isomorphien beobachtbar werden. Dies wird nicht zuletzt an den Einzelanalysen deutlich. In sechs interdisziplinär angelegten Kapiteln wird aus je zwei unterschiedlichen und mitunter konträren Positionen ein diesen Positionen gemeinsames systematisches Moment fokussiert.

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Zunächst geht es um spirituelle Mächte. Entlang von Strindbergs explizit gender-orientierter Literatur wird sichtbar, wie in der Moderne die deutliche Fokussierung auf Geschlechtertypologien die Justierung klarer Grenzen erschwert respektive verhindert und wie eine »epistemologische Krise der Unterscheidung, der Entdifferenzierung« (S. 61) sichtbar wird. Überhaupt legt Öhlschläger des öfteren den Finger auf die Geschlechterproblematik und kann somit zeigen, wie die Abstraktionstheorie Worringers verschlungene und subkutane Affekte beobachtbar macht und unter anderem mit dem prominenten Hysterie-Diskurs korrelierbar wird (siehe u.a. S. 31 f., 42, 53, 59 ff.). Insgesamt wird deutlich, dass anhand dieser epistemologischen Krise die »ambivalenten Topographien avantgardistischen Denkens« (S. 62) und die »für die klassische Moderne typische Ambivalenz von Möglichkeitsoffenheit und Ordnungserwartung« (S. 62) sichtbar werden. Ambivalenz zeichnet sich schon hier als konstitutives und maßgebliches Strukturmerkmal der Moderne ab. Weiter wird entlang des Geschlechterparadigmas bei Strindberg die bei Worringer sich abzeichnende Entkörperlichung virulent, indem »die Transmutation eines menschlichen Körpers in ein energetisches Medium« hervortritt. Wichtig ist schließlich der Rekurs auf das Grundproblem des Unsichtbaren und die Aktivierung der 2-Welten-Ontologie; auch Strindberg sucht das wahre Sein hinter der Arbitrarität der blendenden und täuschenden Erscheinungen (S. 67 ff.). Im Hinblick auf den Photographen (!) Strindberg wird dann deutlich, dass sich der antimimetische Impuls zu einer spirituellen »mystischen Weltdurchleuchtung« (S. 69) entwickelt, die in der Lage sei, dieses wahre Sein gegenüber der »physiologischen[n] Beschränkung des Auges« (S. 73) sichtbar werden zu lassen. Indem Strindberg als Literat und Photograph, also als Medienkulturschaffender, beobachtet wird, wird er mit Worringers Abstraktionstheorie korrelierbar.

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Franz Marc nimmt ebenfalls wie Worringer am modernen Primitivismusdiskurs teil und versucht eine metaphysische Kunst zu etablieren, die antimimetisch sich nicht der sichtbaren Natur, sondern ihrer »unsichtbaren ›anderen Seite‹« (S. 79) zuwendet und dabei »ihr absolutes Wesen, das hinter dem Schein lebt« (S. 80), hervorholen möchte. Indem solchermaßen bei Worringer und Marc Kunst als mystisch-geistige Größe gedacht wird, kann auch von konkreten Unterschieden abgesehen werden, bspw. dann, wenn Marc ein »›pantheistisches Sichhineinfühlen‹« (S. 80) fordert, wo Worringer für den Bereich des Geistigen genau dies ablehnt. Repräsentationstheoretisch bedeutet dies bei Marc, dass statt Naturnachahmung das »Ausdrucks-Paradigma« konstituiert wird, das die instinktive, »die kreatürliche, unsichtbare, die ›andere‹ Seite der Natur zum Ausdruck« (S. 84) bringt. Damit bewegt sich auch hier der Diskurs in die Richtung einer »spirituelle[n] Schau des Unsichtbaren« (S. 85).

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Die an Worringer bemerkte Gewaltdimension der Abstraktion erhält bei Marc eine konkrete Ausformulierung, indem der Erste Weltkrieg als spirituell-reinigender Sieg des Geistes auf dem Weg zur ersehnten Distinktionslosigkeit gefeiert wird (86 ff. und 96 f.). Indem sowohl Strindberg als auch Marc entlang der 2-Welten-Ontologie das Problem der Un/Sichtbarkeit spirituell-geistig entfalten, wird eine »strukturelle Vergleichbarkeit des Abstraktionsproblems über die Figur Worringers gestiftet« (S. 99). Schließlich weist Öhlschläger auf die Aporie hin, dass eine »Sichtbarmachung des Unsichtbaren [...] allein den Entzug des Sichtbaren zum Vorschein« (S. 100) bringt und dass damit Worringers Problem der Entwerklichung im Hinblick auf Imaginatives und Visionäres virulent wird.

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Rainer Maria Rilke fragt sich, wie die abstrakte Auflösung des Gegenstandes, wie das »Unsichtbarwerden der Dinge, ihr Schwinden, ihr sinnlicher Entzug« (S. 102) schöpferisch bewältigt werden können. Wiederum wird deutlich, dass man sich in der 2-Welten-Ontologie bewegt, wiederum geht es um die Erscheinungen und das dahinterliegende Sein der Dinge, wobei nun auch sprachreflexiv die Frage nach dem Referenzverlust der Zeichen gestellt wird. Auf die »Entsinnlichung« (S. 104) von Welt reagiert Rilke nun nicht mit der Hinwendung zur Gegenstandslosigkeit und einem »Verzicht auf das Sujet« (S. 104), sondern mit dem ambivalenten Versuch, entlang einer »Ästhetik des Fragmentarischen« die »Totalität des Ganzen« (S. 105) in den Blick zu bekommen. Auch hier ist das Ziel die poetische (!) Sichtbarmachung unsichtbarer innerer und wesenhafter Elemente jenseits der materiellen Beschaffenheit der Wirklichkeit (vgl. S. 107). Die poetische Kraft des Transformierens von Sichtbarem ins Unsichtbare, das sichtbar gemacht werden soll jenseits des oberflächlich und materiell Sichtbaren, ist das Rilkesche Moment, das trotz der Wandlungen zwischen den Werkphasen die basale Matrix seines Werks bildet. Freilich lebt das Spätwerk davon, das ganz im Sinne Worringers, Strindbergs und Marcs die Sinnlichkeit des Auges einer paradoxen Sichtbarmachung einer »Welt jenseits des Sichtbaren« (S. 107) geopfert wird.

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Der Kunsthistoriker Wilhelm Hausenstein hat mit seiner 1921 erschienen Kleestudie Kairuan einen »kulturtheoretische[n] und ideologiekritische[n] Essay« (S. 118) vorgelegt, der ebenso wie Worringers Arbeiten die Moderne als eine kontingente und substanzlose Größe beobachtet, der die ordnende Kraft der orientalisch-arabischen und magisch-primitiven Welt entgegengesetzt wird (vgl. S. 124 ff.). Beschrieben wird die uns schon bekannte Ersetzung der äußeren, oberflächlich-materiellen durch eine geistige Welt (vgl. S. 122). Dem naturalistischen Paradigma wird eine »›Denaturalisation der Kunst und des Lebens‹« und der »›Triumph der reinen und geistigen, gleichsam unempirischen, vorgreifenden Form‹« (S. 122) entgegengesetzt, die sich des Subjektivismus entledigt hat. Der Stil firmiert sodann als überzeitliches und absolutes Gegenmoment zur kontingenten Moderne. Wichtig ist auch, dass Klee im deformierenden Gewaltakt der Denaturalisation, der das »expressionistische Topos von der Subjektlosigkeit, der Nichtigkeit des physischen Daseins« markiert, eine konstruktive Bewegung sieht, die die Abstraktion als formende Kraft installiert (vgl. S. 128). Öhlschläger macht insgesamt deutlich, dass Rilke, Hausenstein und Klee solcherart an der Moderne leiden, dass ihnen die »Sehnsucht nach verbindlichen, überzeitlichen Werten, die nichts Zufälliges erschüttert« (S. 130) als gemeinsames Strukturmerkmal zugeschrieben werden kann.

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Klimt, Loos, Kraus, Hofmannsthal

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Entlang des Theorems der reinen Kunst wird die »Ordnung des Ornamentalen« im Lichte der »Denaturalisation« (S. 131) relevant. Zunächst kommt Gustav Klimt in den Blick. Klimts Frauengestalten realisieren ein Bündnis von Weiblichkeit und Ornament, das im antimimetischen Impetus entlang von Entgegenständlichung eine Abstraktion implementiert, die im Dekonstruieren des Repräsentationsparadigmas ihre apotropäische Funktion erfüllt. Ordnung und klare Grenzziehung bezwingen das Chaos (vgl. S. 138).

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Mit der Diskussion der Überlegungen von Adolf Loos und Karl Kraus kann Öhlschläger Isomorphien aufzeigen, auch wenn vordergründig Unterschiede zu dominieren scheinen. Loos und Kraus lehnen das Ornament als weibliche Dekorationskunst zwar ab, teilen aber mit Worringer den ikonoklastischen Impetus im Sinne eines »Abbau[s] von Sinnesdaten, ein[es] fading sinnlicher Realdaten« (S. 141). Es geht um »entsinnlichte Kunst« (S. 141). Und bei der Anwendung des Genderparadigmas wird deutlich, dass Klimts Ornamente und Kraus‹ Ornamentkritik die »Purifizierung, Denaturalisierung und Vergeistigung der Kunst als männlich codierte Überbietungsfigur von ›Natur‹ feiern« (S. 143).

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Hugo von Hofmannsthal entschärft den Konflikt von Ornamentalkünstlern und Ornamentkritikern, indem er das Ornament als »übergeordnetes Strukturprinzip kultureller Organisation« (S. 145) beobachtet. Spengler und Worringer sind Hofmannsthals Chiffren für die Kontinuität des Absoluten, Strengen, Abstrakten, Geistigen, Nichtsinnlichen, Antimimetischen, Formreinen, die in ein spirituelles Moment mündet (vgl. S. 145 f.). Konkret geht es Hofmannsthal darum, dass das Wort in seiner autonomen Existenz magisch wird und sich entlang der Grenzen von Darstell- und Sagbaren als Darstellung einer zweiten Natur realisiert (vgl. S. 148). Entlang der Paradoxie der »nichtsprachlichen Sprache« (S. 149) wird eine Purifizierungsbewegung versucht, die ikonoklastisch dem Sinnlichen ein ins Imaginäre verlagertes Kunstereignis entgegenstellt (vgl. S. 149). Wiederum geht es um das »Fading sinnlicher Realdaten« und das »Ende der Repräsentation« und nun auch um eine »Poetik des Visionären« (S. 150). In diesem Zusammenhang ist Öhlschlägers Vorschlag, den Chandos-Brief »als die poetische Realisation eines puristischen Ornamentkonzepts [...], als ein Versuch, die Wiedergeburt der Poesie von ihrem Nullpunkt, vom Ende des Referentiellen Bildes aus zu denken« (S. 152), zu lesen, eine höchst innovative These.

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Stein, Picasso, Moholy-Nagy, Musil, Jünger

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Als nächstes wendet sich die Studie entlang von Gertrude Stein, Pablo Picasso und seinem Kubismus der durch Fläche und Distanz vollführten Reorganisation des Raum- und Wahrnehmungsparadigmas zu. Genauer wird diese allerdings am Flugzeugblick des »[a]eronautische[n] Sehen[s]« (S. 158) deutlich. An diesem wird beobachtbar, wie in der »Erfahrung dissoziierter Wahrnehmung« (S. 164) das Auge und die mit ihm assoziierte Sichtbarkeit »zugunsten einer flächigen Kartographierung des Raumes« (S. 164) suspendiert wird. Die Entsinnlichung des Sehens formatiert den Raum in eine nur noch als flach wahrzunehmenden Matrize von Wahrnehmung. Das, was das Auge natürlicherweise (!) kann: dreidimensional Sehen, wird für die neue flache Wahrnehmung des Flugzeugblicks unwahrnehmbar.

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Anhand von Lászlò Moholy-Nagy und Ernst Jünger wird sichtbar, wie die Reorganisation von Raum und Wahrnehmung entlang des Flächigkeitsparadigmas beruhigende und ordnende Funktion erfüllen kann. Innerhalb eines »Kunstprogramm[s] der psychischen Entlastung« (S. 174) geht es um eine Heterogenstes umfassende Synthese, die die Welt neu formatiert, indem sie die beiden Kulturtechniken des mikro- und des makroskopischen Blicks korreliert. Des weiteren wird die Paradoxie der »oberflächlichen Tiefe« und der »tiefen Oberfläche« deutlich (S. 177). Dabei wird von Jünger das mystisch-magische Moment von Wahrnehmungstechniken belangt (S. 179). Entlang von Flugzeug- und Mikroskopblick wird die Welt ein flaches Ornament und somit werden auch Natur und Kultur einander ähnlich und beide gleichermaßen, weil sie als abstrakt-geometrisch-flache Ornamente erscheinen, kontrollier- und verfügbar (vgl. S. 182). Worringer und Jünger teilen die Vorstellung, dass die Moderne in ihrer Kontingenz eine untergangsgeweihte Welt ist, die im synthetisch-abstrahierenden Zugriff von dieser Kontingenz befreit und bei Jünger dann in einer technischen Beherrschung und Abstraktion gehandhabt werden kann (vgl. S. 184 f.).

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An Robert Musils Prosastück Das Fliegenpapier zeigt Öhlschläger, wie zum einen die Denaturalisation an den konkreten Wahrnehmungsakt gebunden wird und wie zum anderen die »prekäre Beziehung zwischen semantischer Reduktion und ästhetischer Erregung« (S. 186) beschreibbar wird, ohne das es zur Verfügbarmachung von Wirklichkeit kommt. Entlang der Momente Verfremdung, Verzerrung, Unähnlichkeit und Unschärfe sowie Isolierung und Abstraktion wird an Musil deutlich, dass ein Verfahren gesucht wird, das »neue ›ungewußte Erfahrungsräume‹ eröffnet« (S. 187). Anhand von verzerrter und verzerrender Wahrnehmung soll es möglich werden, »magische Verbindungen zwischen Menschen und Dingen hervortreten« (S. 187) zu lassen, »welche dem herkömmlichen Blick bisher entzogen waren« (ebd.). Wiederum wird eine Art 2-Welten-Ontologie bemüht, die entlang von davor / dahinter eine konventionalisierte sichtbare Erscheinungswelt von einer unsichtbaren und ungewöhnlichen, aber qua verfremdender Abstraktion sichtbar zu machenden magischen Welt unterscheidet. Mit dem Zusammenbruch gewohnter Wahrnehmung wird die Wirklichkeit neu und faszinierend wahrnehmbar, indem »ein neuer Zusammenhang zwischen den Dingen gestiftet wird« (S. 188). Weiterhin bemüht Musil noch ein zum primitivistischen Diskurs der Moderne gehörendes und u.a. auch von Hofmannsthal und Benn verwendetes Konzept: die »›mystische Partizipation‹« (S. 190), indem es um eine »›außerbegriffliche Korrespondenz des Menschen mit der Welt‹« (ebd.) geht, die an den Instinktdiskurs Worringers erinnert (s.o.).

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Ernst Jünger wird noch in einem eigenen Kapitel behandelt, da er sich am intensivsten der Paradoxie der »Verfügbarmachung des Unsichtbaren und Undarstellbaren« (S. 202) und der Umwandlung dieser Paradoxie in ein »Produkt des Ästhetischen« (S. 213) widmet. Mithilfe des mortifizierenden Einfrierens kontingent aufscheinender Dinge versucht Jünger das organische und verletzliche Leben mit einer »kosmologischen Seinsordnung« (S. 203) zu überdecken. Wichtig bei Jünger ist der Versuch, die »prinzipiell katastrophische Technik« (S. 207) nicht überwinden, sondern mit der Wahrnehmung verschmelzen lassen zu wollen. Mithilfe der schrecklichen Technik wird der Technik ihr Schrecken genommen (vgl. ebd.). Öhlschläger stellt Jünger als feinen Künstler von Paradoxien dar. Indem Sprache zum »Instrument einer magischen Weltdurchdringung« (S. 212) wird, wird die Rede von der tiefen Oberfläche und der oberflächlichen Tiefe relevant, ebenso wie die paradoxe Verfügbarmachung des Unverfügbaren die »Angst vor dem Inkommensurablen« (S. 214) bannen kann.

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Hier wird eine höchst faszinierender Aspekt deutlich. Öhlschläger beweist in ihrer Studie ein äußerst feines Gespür für Ambivalenzen und Paradoxien. Interessant ist, dass dieses Gespür solchermaßen eingesetzt wird, dass es Funken sprüht und dadurch die Lesenden affiziert. Mithilfe von Öhlschläger entwickeln sich die Lesenden selbst zu Paradoxieseismographen und dies sogar so gut, dass sie anfangen, Paradoxien zu beobachten, die entweder von Öhlschläger übersehen werden oder mit Blick auf die Ökonomie der Arbeit unerwähnt bleiben.

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Tarnung

[42] 

Im letzten Kapitel wird schließlich noch die Tarnung als Kulturtechnik der Verbergung beobachtet, wobei es wiederum um die Unterscheidungen sichtbar / unsichtbar, Absolutheit / Materialität der Erscheinungen usw. geht. Mithilfe des Kulturtheoretikers Volker Demuth wird die These aufgestellt, dass sich mit der »abstrakten Kunst geistiger Prägung eine spezifische Mentalität verbindet. Und zwar eine Mentalität moderner ›Weltabblendung‹, die zwei Aspekte betrifft; den Aspekt eines zivilisationsabgewandten Rückzugs ins Innere, Kontemplative und den Aspekt eines im Zeitalter technischer Medien neu zu bestimmenden Verhältnisses zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem« (S. 217). Hierzu passt nun auch, dass die Tarnung die Unterscheidung Sichtbares / Unsichtbares entlang einer Dekonstruktion der Mimesis vollzieht und Mimikry, Spiegeleffekte und rekursive Ähnlichkeitsverhältnisse einsetzt, um diese Dekonstruktion zu vollführen. 7 Anhand von Roger Callois und Eugène Minkowski wird dann deutlich, dass mit der tarnenden Mimikry die uns schon bekannte Bewegung des Auflösens von Grenzen und Unterscheidungen vollzogen sowie die Sehnsucht nach Totalität und Ganzheit via Subvertierung des Auges und seiner Sinnlichkeit formuliert wird (vgl. S. 226). 8 Tarnung ist somit gleichsam die geistige Tilgung von Sinnlichkeit, Materialität und Sozialität zugunsten einer absoluten inneren Welt. Medienkulturwissenschaftlich liest sich dies folgendermaßen:

[43] 
Tarnung erhält in der Perspektive ihrer [...] biologischen, philosophischen und anthropologischen Diskursivierung eine Bedeutung von kulturhistorischer und kulturtheoretischer Tragweite: Sie gibt dem Unsichtbaren, Unbestimmten und Bedeutungslosen jene Form, hinter die das handelnde Subjekt zurücktreten vermöchte. (S. 234)
[44] 

Diskursgeschichte der Abstraktion
als Dis/Kontinuität der Moderne

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Öhlschlägers Studie endet mit einem kurzen Ausblick. Ihre These ist, dass die von ihr beobachtete »Diskursgeschichte der Abstraktion« auf »epistemologische und repräsentationale Konflikte um 1900 verweist« und dass sich Worringers Denkmodell »bis in poststrukturalistische Konzepte hinein fort [setzt]«, und zwar einerseits im Sinne der »Frage nach den Tiefenrelationen« und andererseits des »Bruch[es] mit der mimetischen Tradition« (alle Zitate S. 235). Sehr schön wird solchermaßen sichtbar, wie Worringer in ein komplex-ambivalentes Netz verstrickt ist. Zum einen partizipiert Worringer an dem, was Foucault die »Tiefenmetaphysik des 19. Jahrhunderts genannt hat« (ebd.) und was wir mit Krämer als 2-Welten-Ontologie bezeichneten (s.o.), zum anderen de/konstruiert Worringer diese Metaphysik / Ontologie, indem er entlang des Paradigmas des flachen Ornaments Richtung »Selbstreflexivität von Kunst und [...] Tilgung von Referentialität« (ebd.) denkt, also »entscheidenden Paradigmen einer Ästhetik des 20. Jahrhunderts verpflichtet« (ebd.) ist. Öhlschläger belässt es bei dieser spannungsvollen Beobachtung. Meines Erachtens ließe sich hier jedoch auch eine stärkere These formulieren. Im Zuge der divergierenden und komplexen Beobachtungen der als ambivalent und komplex beobachteten Moderne stellte Gerhart von Graevenitz fest, dass die Einheit der Moderne in ihrer Ambivalenz und Diversifikation liegt. Weil sich die Moderne nicht auf einen kohärenten Nenner bringen lässt, ist sie modern; das ist das Moderne an der Moderne. 9

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Öhlschläger liefert nun genau zu dieser These eine passende Diskursgeschichte. Das Moderne der Moderne wird in den von Öhlschläger beobachteten Ambivalenzen, Paradoxien und Einerseits-Andererseits-Strukturen sichtbar und somit lässt sich sagen: Die Diskursgeschichte der Abstraktion ist die Konstitution der Modernität der Moderne. – Problematisch ist am Schluss nur noch Öhlschlägers Konzentration auf Deleuze und Guattari; sie liest in ihren Konzepten der »dekonstruktiven Figuralität«, des »tieferen Unsichtbarwerden«, der »asignifikanten Deformation« oder des »›organlosen Körpers‹« (alle Zitate S. 236 f.) Worringersche Nachbeben, die auf die »Erzeugung spiritueller Ausdrucksqualitäten« (S. 237) abzielen und somit meines Erachtens – zwar poststrukturalistisch gebrochen – an der Tiefenmetaphysik des 19. Jahrhunderts partizipieren. Hinweise etwa auf Derrida oder Luhmann hätten zeigen können, wie radikal diese Tiefenmetaphysik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dekonstruiert wurde und dass es neben den Kontinuitäten zwischen Moderne und ›Postmoderne‹ auch markante Brüche und Diskontinuitäten gibt. Worringer bebt nicht einfach in poststrukturalistischen Konzepten nach, sondern das Abstraktionsparadigma wird qua poststrukturalistischer und anderer Konzepte vielfältig gebrochen und vielfältig rejustiert.

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Fazit

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Öhlschlägers Studie ist ein Paradebeispiel für gelungene medienkulturwissenschaftliche Forschungen. Sicherlich finden sich im Detail hier und da Problemstellen, ich habe darauf hingewiesen. Aufgrund ihrer methodischen Ausrichtung ist es ihr ein Leichtes, verschieden Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Öhlschlägers Text leistet einen Beitrag 1) zur Worringerforschung, 2) zur Erforschung moderner Phänomene wie etwa Spiritualität, Ornamentalität, Un/Sichtbarkeit im Kontext der De/Konstruktion der tiefenmetaphysischen 2-Welten-Ontologie und mit expliziter Berücksichtigung der Aspekte Gender und Gewalt, 3) zur Strindberg-, Marc-, Rilke-, Klee-, Klimt-, Kraus-, Hofmannsthal-, Moholy-Nagy-, Jünger- und Musilforschung, 4) zur Moderneforschung im Allgemeinen, 5) zur Intermedialitätsforschung und schließlich 6) zur Diskursanalyse als Methode. Die Erträge sind nicht überall gleich ergiebig, aber dass sich überall Erträge beobachten lassen, ist imposant und anschlussfähig.



Anmerkungen

Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. Mit einem Nachwort von Sebastian Weber. Dresden: Verlag der Kunst 1996, S. 8.   zurück
Solch eine Definition versuchen bspw. Beda Allemann, Hans-Joachim Simm und Enno Stahl. Öhlschläger macht auf die »methodische Aporie« (S. 50) solcher Versuche aufmerksam, da »die eindeutige Bestimmbarkeit eines Phänomens [...] seine Kontur doch erst vor dem Hintergrund der skizzierten historischen Kontextualisierung« (ebd.) gewinnen kann.   zurück
Den Begriff »Medienkulturwissenschaft« entnehme ich Jäger und Jahraus, die ihrerseits versuchen, solch eine Wissenschaft unter systemtheoretischen Vorzeichen zu etablieren. Vgl. u.a. Oliver Jahraus: Theorieschleife. Systemtheorie, Dekonstruktion und Medientheorie. Wien: Passagen 2001, u.a. S. 225.   zurück
Dieser Begriff ist an Überlegungen Sybille Krämers orientiert. Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001.   zurück
Insbesondere Benn hat die analoge Position vertreten, dass die Natur mithilfe von Kunst als Form zu bewältigen sei, es ging ihm darum, »das Leben formend zu überwinden«. Gottfried Benn: Das Moderne Ich. In: G. B.: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Hg. von B. Hillebrand. Frankfurt/M.: Fischer, S. 29–46, hier S. 39.   zurück
Arbeiten diesbezüglich finden sich in der ansonsten sehr interessanten Bibliographie von Öhlschläger leider nicht. In denke hier bspw. an Mary Gluck: Interpreting Primitivism, Mass Culture and Modernism: The Making of Wilhelm Worringer’s Abstraction an Empathy. In: New German Critique 80 (2000), 149–169; oder an Andreas Michel: Our European Ignorance: Wilhelm Worringer and Carl Einstein on Non-European Art. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 56 (2004), 143–162. Deutlich wird bei beiden unter anderem, dass die Konstruktion der ästhetischen Moderne konstitutiv mit der Konstruktion eines Primitivismusdiskurses verknüpft ist. Dass es sich beim ›Primitivismus‹ um eine selbstreflexive Konstruktion der europäischen Moderne, also um konstitutive Elemente von modernen Selbstbeschreibungsmodellen handelt, weist Adam Kuper nach. Siehe Adam Kuper: The Invention of Primitive Society. Transformation if an Illusion. London / New York 1988.   zurück
Mit der Kulturtechnik des Tarnens ist auch das Motiv des Schleiers und die Strategie des Verschleierns verbunden. In letzter Zeit ist der Schleier als literatur- und kulturwissenschaftliches Phänomen entdeckt worden. Ich denke dabei an Patricia Oster: Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären. München: Wilhelm Fink 2002 und an Johannes Endres / Barbara Wittmann / Gerhard Wolf (Hg.): Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher (Bild und Text). München: Wilhelm Fink 2005.   zurück
Dass die Geschichte der Moderne nicht allein als Dekonstruktion, sondern auch als Herrschaft des Auges – freilich mitsamt allen Brüchen von Sichtbarkeit – geschrieben werden kann, zeigt Walter Benjamin in seiner Auseinadersetzung mit Baudelaire und Simmel. Siehe Walter Benjamin: Charles Baudelaire. 2. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980., S. 35 f.   zurück
Siehe Gerhart von Graevenitz: Einleitung. In: G. v. G. (Hg.): Konzepte der Moderne. Stuttgart / Weimar: Metzler 1999, S. 1–16.   zurück