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Literarische Forensik -
oder: Schweigen ist unmöglich

  • Anke van Kempen: Die Rede vor Gericht. Prozess, Tribunal, Ermittlung: Forensische Rede und Sprachreflexion bei Heinrich von Kleist, Georg Büchner und Peter Weiss. (Rombach Cultura 39) Freiburg: Rombach 2005. 290 S. Kartoniert. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 3-7930-9385-9.
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Die doppelte Rede vor Gericht

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Vor Gericht wird geredet. In der idealtypischen forensischen Situation streiten sich zwei Parteien, und eine dritte entscheidet. Aus dieser Konstellation entwickelt Anke van Kempen einen Modellfall poststrukturalistischer Zeichentheorie. Vor Gericht ist die Wahrheit erst der Effekt und nicht schon die Voraussetzung der Rede. Sie ergibt sich aus einem diskursiven Agon, nicht aus einem kommunikativen Konsens. Sie verdankt sich der Macht, nicht der Vernunft. Denn in der Rede vor Gericht dient die Rhetorik nicht einfach als Instrument, dank dem sich eine Wahrheit durchsetzen oder ermitteln ließe. Vielmehr zeigt sich in ihr paradigmatisch die rhetorische Struktur einer jeden Wahrheitsrede, die das, wovon sie handelt, überhaupt erst hervorbringt.

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Literarische Texte vermögen diese Eigenheiten der forensischen Rede sichtbar zu machen, indem sie sie verdoppeln. In ihnen wird nicht nur vor Gericht, sondern auch vom Gericht geredet. Mag dem Anspruch nach die agonale Rede vor Gericht noch einen Gegenstand haben, der außerhalb des gerichtlichen und d.h. auch sprachlichen Raums liegt, so präsentiert sich in der literarischen Rede vom Gericht zunächst einmal die Rede selbst als der zu verhandelnde Gegenstand. Deshalb kann literarische Forensik der gerichtlichen Rede darstellend folgen, sie zugleich auf ihre Konstitutionsbedingungen hin transparent machen und zudem als Medium einer allgemeinen Sprachreflexion nutzen.

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Im Doppelsinn einer Rede vor Gericht – also einer Rede, die vor Gericht gehalten und zugleich ihrerseits vor Gericht gestellt wird – unterscheidet und verbindet van Kempen Recht und Literatur. Sie sind miteinander verbunden, denn beiden eignet ein rhetorischer, performativer, poietischer Zug. Und sie sind voneinander unterschieden, denn was im Recht bisweilen nur wirkt, wird von der Literatur auch gezeigt. Kurz: Die Literatur weiß, was das Recht macht.

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Die Vermutung eines solchen reflexiven Vorsprungs der Literatur vor ihrem Gegenstand befeuert seit einiger Zeit die x-and-literature-Debatten einer kulturgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft (wie z.B. science and literature,medicine and literature oder eben law and literature), die auf diese Weise sowohl neue Lektüren literarischer Texte als auch neue Einsichten in die Geschichte und Systematik der in Frage stehenden Fachdiskurse gewonnen hat. In diesem Argumentationshorizont bewegt sich auch das auf jeder Seite lesenswerte und zudem gut zu lesende, an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität als Promotion geschriebene Buch Anke van Kempens.

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Kleist und der Prozess

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Van Kempen nutzt für ihre Analyse den reflexiven Vorsprung dreier literarischer Texte: Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug, Georg Büchners Dantons Tod und Peter Weiss’ Die Ermittlung. Kleist als sprachkritischer Denker der Differenz entwirft, so zeigt van Kempen, schon im Eingangsdialog des Zerbrochnen Krugs die konstitutive Verknüpfung von Rede und Macht, die in letzter Konsequenz zu einer Umkehrung des traditionellen rhetorischen Verhältnisses zwischen res und verba führt: Erst kommen die Worte, dann die Sachen.

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Während jedoch die Essays Kleists, etwa Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, die produktive Effizienz einer solchen auf den Kopf gestellten Rhetorik propagieren, demonstriert das Lustspiel umgekehrt die problematischen Implikationen, die sich daraus für den Vollzug der Rede wie für deren Referenzobjekt ergeben. Hinsichtlich des Vollzugs macht die Figur des Dorfrichters Adam deutlich, dass man, hat man einmal angefangen zu reden, nicht mehr so einfach aufhören kann. In der forensisch-rhetorischen Situation gibt es keinen außersprachlichen Gegenstand, von dem aus eine Stoppregel formuliert werden könnte. Deshalb gilt schon für Kleists Stück: »Schweigen ist unmöglich.« (S. 45)

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Hinsichtlich der Referenz macht die Figur der Marthe deutlich, dass und wie der gerichtliche Gegenstand in der forensischen Rede konstituiert wird. Diesem Zweck dient Marthes Beschreibung des zerbrochenen Kruges, die in einer »Art poetischer Töpferarbeit« das corpus delicti als wörtlichen »›Körper des Verbrechens‹« (S. 55) hervortreibt. Indem van Kempen diese Beschreibung sowohl mit Blick auf ihre Inhalte (eine problematische translatio imperii) als auch auf ihre Form (eine zwingend defiziente mediale translatio vom Bild ins Wort) analysiert, zeigt sie nochmals das reflexive Potential der literarischen Gerichtsrede. Denn die Konsistenz des corpus delicti wird hier genau in dem Maße, in dem seine Konstruktion gelingt, von der Zurschaustellung seiner rhetorischen Prämissen unterlaufen.

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Und noch ein letztes verweigert Kleists Lustspiel: den Abschluss des Verfahrens. Das gilt zunächst auf der Handlungsebene, insofern auch Walter weder den Bruch des Kruges heilen noch eine endgültige Entscheidung der Rechtssache herbeiführen kann. Das gilt sodann auf der Ebene des Textes, der für sein endloses Ende ein Variant zu bieten hat. Und das gilt, so van Kempen, deshalb schließlich auch in dem übergeordneten Sinn, dass eine literarische Rede, die ein abschließendes Urteil vorenthält, sich dem Konzept einer ›poetischen Gerechtigkeit‹ verweigert. Wenn Schiller die »Gerichtsbarkeit der Bühne« dort anfangen lässt, »wo das Gebiet der weltlichen Geseze sich endigt« (zit. auf S. 82), dann gibt Kleist dort, wo er die Bühnengerichtsbarkeit ergebnislos enden lässt, die Aporie eines unmöglichen Urteils an die Gerichtsbarkeit des Zuschauerraums weiter.

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Büchner und das Tribunal

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Wie in Kleists Lustspiel wird auch in Büchners Drama die Rede selbst vor Gericht gestellt. Dabei »gewinnt das Problem an Schrecken« (S. 97), denn im »Schatten der Guillotine ist die Entscheidung über die Rede eine Frage von Leben und Tod.« (S. 101) Die Rede erscheint »nicht als Humanität sicherndes Mittel, sondern als Instrument zur Durchsetzung von Gewalt« (S. 114). Das zeigt sich besonders deutlich dort, wo die Revolutionäre St. Just und Robespierre ihre Machtansprüche mit den Mitteln einer Mytho-Logik durchzusetzen versuchen.

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Die Rhetorik der Revolutionäre zielt auf die Naturalisierung sprachlicher Setzungen. Sie verwandeln, mit Barthes gesprochen, »Geschichte in Natur« (zit. auf S. 131). Vorsaussetzung für diese Naturalisierung ist es, dass jede Form von Reflexion unterbunden bleibt, denn Reflexion ist das Korrelat einer perspektivischen Differenz, und die Differenz ist der Urfeind eines jeden totalitären Anspruchs. In der Durchsetzung von Macht, die sich selbst als Natur behauptet, sind die Gegner Dantons deshalb »nicht revolutionär, sondern konservativ« (S. 134).

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So gelesen führt Danton nicht nur – und nicht einmal in erster Linie – eine Auseinandersetzung um politische Positionen. In Frage steht vielmehr der Sinn der Rhetorik selbst. Die Revolutionäre nutzen die Rhetorik als Machtinstrument, dessen Effizienz vor allem darin gründet, dass es selbst seinen instrumentellen Charakter zu verbergen vermag. Mit den Augen des Sprachskeptikers Danton gesehen erscheint Rhetorik hingegen als Erkenntniskategorie, mittels derer sich der Konstruktionscharakter einer jeden politischen Position aufdecken und dekonstruieren lässt.

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Dantons dekonstruierende Redetätigkeit, welche die rhetorische Effizienz mit diskursiver Disfunktionalität konfrontiert, nutzt zunächst zwei Strategien, die auf die Einführung eines reflexiven Elements bauen: Ironie und Melancholie. Entscheidend für die Frage der forensischen Rede ist indes Dantons Verteidigungsrede vor dem Tribunal. Indem diese sich allen Ansprüchen einer rhetorisch korrekten (und dadurch effizienten) Verteidigungsrede entzieht und die Verfahrensregeln des Tribunals durchbricht, kann sie eine reflexive Differenz zur naturalisierenden Mytho-Logik der anklagenden Revolutionäre aufbauen. Diese Strategie bleibt allerdings ambivalent: Sie ist effektiv, insofern sie die Möglichkeitsbedingungen der Sprach-Macht kritisch zur Schau stellt; sie ist ineffektiv, insofern sie sich dieser Sprach-Macht und dem von ihr gesprochenen Todesurteil nicht zu entziehen vermag: »Dantons Rede demontiert den Terror, aber sie beendet ihn nicht.« (S. 157)

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Wie Kleists Lustspiel, so unterläuft auch Büchners Drama die Vorstellung eines klaren Endes. Die Rede bleibt vor dem Gericht, zu dem der Text seine Leser macht. Denn Büchner endet sein Drama nicht mit dem auf Dantons Nacken fallenden Beil (geriete er damit doch in eine Komplizenschaft mit dem Terror der Revolution), sondern mit Lucile, deren letzter Satz (der auch wiederum nicht der letzte Satz des Dramas ist), nicht zwischen den Parolen der Parteien entscheidet, sondern auf die Absurdität einer jeden politischen Parole verweist.

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Weiss und die Ermittlung

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Die Ermittlung von Peter Weiss liest van Kempen »aufgrund ihres Anlasses als Steigerung« (S. 178) der sprachreflexiven Problematisierungen, die sich auch bei Kleist und Büchner herausarbeiten lassen. Nicht Auschwitz selbst, so die These van Kempens, sondern das Reden über Auschwitz ist Gegenstand von Weiss’ Oratorium. Die Risiken, aber auch die Berechtigung einer solchen These diskutiert van Kempen ausgehend von den Reaktionen, die das Stück bei den Zeitgenossen wie in der Literaturwissenschaft ausgelöst hat. Nur insofern die Rede und nicht ihr Inhalt die verhandelte Sache darstellt, kann Weiss – wie schon Kleist und Büchner – die Aporie zwischen Gericht und Gerechtigkeit an den Leser / Zuschauer weitergeben.

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Den Konflikt zwischen dem an Auschwitz gebundenen Darstellungsverbot und der Verpflichtung, von Auschwitz reden zu müssen, diskutiert van Kempen an der Gegenüberstellung dreier Filme: Nazi Concentration Camps (1945), Lanzmanns Shoa (1985) und Spielbergs Schindlers Liste (1994). Dabei zeigt sie, dass angesichts der Darstellung dessen, was sich in den Konzentrationslagern zugetragen hat, die Unterscheidung zwischen Fiktion und Dokumentation nicht zu halten ist; stets sind – und dies gilt auch für Weiss – beide Elemente ineinander verwoben. Die Frage, die an Filme wie an die Literatur zu stellen wäre, ist demnach vor allem, ob und wie dieses Verhältnis selbst sichtbar gemacht wird.

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Das von Weiss fragil gehaltene Verhältnis von Dokumentation und Fiktion gehört in eine für die forensische Rede charakteristische Serie von widerstreitenden Tendenzen. Deshalb plädiert van Kempen dafür, Die Ermittlung als literarische Inszenierung dessen zu lesen, was Lyotard einen ›Widerstreit‹ nennt, als Konflikt zwischen zwei Rechtssystemen, die einen Fall jeweils nur nach ihren eigenen Maßgaben zu beurteilen vermögen und dabei zugleich die Maßgaben des anderen Rechts verletzen müssen: »Auschwitz wird zum Modell dieses Falls, in dem der Verzicht auf ein Urteil ebenso unerträglich ist, wie jedes Urteil im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung nicht zufrieden stellt« (S. 233).

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Diesen Widerstreit – der sich auf formaler Ebene etwa in der Differenz von dokumentarischem Material und dessen Versifzierung zeigt – treibt Die Ermittlung so weit, dass er über die engagierte politische Position, die Weiss an anderen Orten explizit vertritt, hinausweist. Eine richtige, gerechte Haltung gegenüber Auschwitz kann es nicht geben; zugleich jedoch besteht ein kategorischer Imperativ, nach dieser Haltung zu suchen. Darauf zielt die – an Kleists Lustspiel und Büchners Drama erinnernde – Offenheit, mit der das Oratorium endet: Das letzte Wort haben die Angeklagten, und sie haben es in der Literatur, bevor es in der historischen Welt gesprochen wird, ist doch die Ermittlung, deren Rede Weiss auf die Bühne bringt, im realen Gerichtssaal von Frankfurt noch nicht abgeschlossen.

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»In eigener Sache«

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Van Kempen stellt die von ihr »exemplarisch untersuchten Texte« (S. 253) in eine gemeinsame Problemkonstellation: »Alle drei Kunstwerke nutzen den Rahmen des juridischen Verfahrens zur Inszenierung einer Untersuchung in eigener Sache, die in ihrem prozessualen Verlauf die Grenzen des Verfahrens sprengt« (S. 178). Die Literatur argumentiert in eigener Sache, stößt dabei auf den aporetischen Untergrund des Rechts, macht diese Aporie sichtbar und gibt zugleich zu erkennen, dass auch sie selbst deren Fängen nicht zu entkommen vermag. Nicht poetische Gerechtigkeit ist die Sache von Kleist, Büchner und Weiss, sondern die Poetizität der Gerechtigkeit.

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Das überzeugt und gibt Anlass, die forensische Konstellation in systematischer wie historischer Hinsicht weiter zu denken. Systematisch stellt sich vom Ende der vorliegenden Untersuchung her die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Literatur neu. Van Kempen verweist in ihrer Weiss-Analyse auf die Urteilsbegründung des vorsitzenden Richters im Auschwitz-Prozess, der Auschwitz mit Dantes Inferno, mit einem fiktionalen, literarischen Text vergleicht und damit ein reflexives Element im Inneren der juristischen Rede selbst verankert. In solchen Momenten schmilzt der reflexive Vorsprung, den literarische Texte vor realen Rechtsverhandlungen zu haben scheinen, dahin. Oder anders formuliert: Die reflexive Dimension ist nicht so sehr eine Sache des Gegenstandes (Literatur versus Recht), sondern eine Frage der Lektürehaltung. Richtig gelesen steckt schon im Recht selbst die reflexive Distanz zum eigenen Handeln, jedenfalls dessen Möglichkeit, zumindest manchmal. Diese Lektürehaltung lässt sich an literarischen Texten einüben; ihre analytische Kraft indes reicht über den Raum der Literatur weit hinaus.

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Auch die Frage nach der historischen Dimension des Problems ließe sich vertiefen. Van Kempen geht es, wie sie mit Blick auf Kleist formuliert, was aber für ihre Argumentation im allgemeinen gilt, »nicht um Details einer konkreten historischen Situation, sondern um das grundsätzliche Dilemma der sprachlich fundierten forensischen Situation« (S. 249). Historisch verändere sich lediglich das Ausmaß der in Frage stehenden Gewalt (von der Nötigung über den Terror zur Shoa) und damit die Dringlichkeit (vgl. z.B. S. 185) des unmöglichen Urteils; sprachreflexiv betrachtet erscheint ansonsten ein Stück als die »konsequente Fortschreibung« (S. 185), die »konsequente Fortführung« (S. 231) des vorhergehenden. Nicht in den Blick kommt so, dass auch die kritische Sprachreflexion eine Geschichte hat und dass in dieser Geschichte die Schnittmenge zwischen ästhetischem und juristischem Diskurs eine fundamentale Rolle spielt. Wer nach der Lektüre der Rede vor Gericht davon genauere Kenntnis haben will, der lese Michael Niehaus’ Studie über das Verhör. 1

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Anke van Kempen jedenfalls hat ein Buch geschrieben, das sowohl in der Analyse der drei Texte als auch mit Blick auf die übergeordnete Fragestellung überzeugt. Dass man nicht nur dann, wenn man sich in der forensischen Situation befindet, mit dem Reden nicht aufhören kann, sondern auch dann, wenn man sich analytisch über diese Situation erhebt, ist nur eine weitere konsequente Fortschreibung und Fortführung der literarischen Forensik. Schweigen ist eben unmöglich.



Anmerkungen

Michael Niehaus: Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion. München 2003.   zurück