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Was Mönche zwischen den Zeilen schrieben

  • Rolf Bergmann / Stefanie Stricker (Hg.): Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften. Hg. unter Mitarbeit von Yvonne Goldammer und Claudia Wich-Reif. 5 Textbde und 1 Tafelbd. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005. XIV, 3016 S. 254 s/w, 57 farb. Abb. Leinen. EUR (D) 898,00.
    ISBN: 3-11-018272-6.
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Was sind althochdeutsche und
altsächsische Glossenhandschriften?

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Das sind volkssprachliche Einzelwort-, gelegentlich auch Wortgruppenübersetzungen, die sich in früh- und hochmittelalterlichen lateinischen Handschriften finden. Gelegentlich wurden sie nachträglich exzerpiert und zu alphabetischen oder sachlich sortierten Glossaren verarbeitet. Die Bedeutung dieses inhaltlich vielleicht spröden Materials für die Sprachgeschichte (aber auch eine Kulturgeschichte im weiteren Sinne) kann kaum überschätzt werden. Denn der größte Teil des uns bekannten althochdeutschen und altsächsischen Wortschatzes ist nicht etwa aus zusammenhängenden literarischen Werken wie dem berühmten Hildebrandslied oder den Merseburger Zaubersprüchen bekannt, sondern eben aus solchen mehr oder minder zufälligen Eintragungen in lateinischen Texten, die Mönche im frühen Mittelalter (und auch noch später) zwischen den Zeilen, an den Blatträndern, gelegentlich auch gleich auf der Zeile mit dem lateinischen Text eingetragen haben. Überdies zeigen Glossen, mit welchen Texten der Antike oder der eigenen mittelalterlichen »Moderne« man sich in den klösterlichen Kulturzentren auseinandergesetzt hat.

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Die Katalogisierung

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Nach dem Verzeichnis der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften, Berlin – New York 1973, das trotz etlicher Nachträge und Ergänzungen eben nur ein Provisorium geblieben ist, hat Rolf Bergmann – umgeben und unterstützt von drei Damen – nun den reichen Ertrag jahrelanger Arbeit an den althochdeutschen und altsächsischen Glossen vorgelegt.

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Die Zahl der glossentragenden Handschriften ist erstaunlich: Bergmanns nun vorgelegtes Verzeichnis umfasst 1303 Nummern. Die dem scheinbar widersprechende Endnummer 1070 auf den Bandrücken ergibt sich dadurch, dass a- und b- (usw.) Nummern existieren. Im Falle der Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München reichte das ganze Alphabet zur ergänzenden Zählung nicht aus. Es gibt die Nummern 710a-710z, woran sich dann nochmals 710aa-710ae schließen. Mehrfach mussten ältere Fehlermeldungen und Signaturenverwechslungen korrigiert werden, waren Codices discissi, deren Teile heute in verschiedenen Bibliotheken aufbewahrt werden, unter einer einzigen Kennnummer, nachträglich zusammengebundene, ursprünglich aber disparate Handschriften gewissermaßen im Gegenzug getrennt zu behandeln. Entsprechendes galt auch für Fragmentenmappen, die in Bibliotheken unter ein und derselben Signatur Überreste unterschiedlicher Handschriften zusammenfassen.

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Auf eine konsequent lineare Nummerierung 1 bis 1303 wurde unter Hinweis auf die in der Forschung eingebürgerten Handschriften-Nummern in dem Verzeichnis von 1973 verzichtet. Da die Bände von Bergmann auf absehbare Zeit (wenn nicht für immer) das Bezugswerk für die germanistische Glossenforschung und angrenzende Wissenschaftsdisziplinen bleiben wird, wäre eine konsequente Neuzählung wohl dennoch zu rechtfertigen gewesen. Die alten Nummern hätten in Klammern beigegeben werden können. Inkonsequenzen wurden aber durch ausreichende Verweise und das bereits erwähnte Handschriftenverzeichnis gleich zu Beginn des ersten Bandes kompensiert.

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Über den Umfang des in den einzelnen Codices (und Fragmenten) enthaltenen Materials ist damit noch nichts ausgesagt, denn einige Handschriften enthalten nur ganz sporadische Einzeleinträge, andere sind dicht glossiert, und die Zahl geht in die Hunderte.

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Am Anfang des ersten Bandes steht ein alphabetisches Verzeichnis aller Bibliotheken, in deren Beständen sich Glossenhandschriften befinden, mit den Signaturen und der jeweiligen Ordnungsnummer im vorliegenden Werk.

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In einem umfassenden einleitenden Kapitel wird 1) »die Zielsetzung des Katalogs als eines quellenkundlichen Hilfsmittels zur Sprachgeschichtsforschung« beschrieben, 2) »die forschungsgeschichtliche Begründung des im Katalog erfaßten Handschriftenbestandes gegeben«, 3) die Artikelstruktur erläutert, 4) die Erscheinungsform der Glossen (interlinear? marginal?) erläutert, 5) der Glossenbestand sprachhistorisch und sprachgeographisch charakterisiert.

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Philologische Gäste –
und was bei ihnen zu beachten ist

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Da Glossen anderen Entstehungs- und Existenzbedingungen unterliegen als literarische Texte, muss die Forschung in jedem Fall von den Handschriften ausgehen. Glossen sind niemals »Texte« von eigenem Recht, sondern genießen sozusagen »Gastrecht« in einer »Wirtshandschrift«, ein Faktum, das die philologische Auswertung stets im Auge zu behalten hat. Zielsetzung des Bergmannschen Unternehmens war deshalb konsequenterweise die Erfassung aller bisher bekannten Handschriften mit althochdeutschen und altsächsischen Glossen, wodurch die »Voraussetzungen für die sprach- und kulturhistorische, grammatische und lexikalische Auswertung dieser Quellen« (S. 57) geschaffen wird.

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Während in dem eingangs genannten Verzeichnis von 1973 und in den Nachtragspublikationen nur minimale kultur- und sprachhistorische Angaben erfolgt sind, enthält jetzt jeder einzelne Katalogeintrag nach Möglichkeit folgende Punkte: 1) Codicologische Beschreibung, 2) Inhalt (bei punktueller Glossierung auch über die betreffenden Partien hinaus), 3) Art der Einträge, 4) Anzahl der Glossen, 5) Zeit und Ort der Glossierung, 6) Sprachgeographie, 7) Edition, 8) Literatur (die plausiblen Auswahlkriterien, nach denen Literatur zu den einzelnen Handschriften angegeben wird, sind S. 60–62 dargelegt). Das sind auch die speziell für das germanistische Interesse wesentlichen und relevanten Aspekte. Im Innendeckel und auf dem Vorsatzblatt der Bände 1 bis 4 ist jeweils eine Gebrauchsanweisung (»kurze Anleitung zur Benutzung«) eingeklebt, die die einzelnen Gliederungspunkte der Einträge und ihren Funktion knapp erläutert.

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Der ausführliche Katalogteil umfasst den größeren Teil des 1. Bandes sowie die Bände 2 bis 4. Band 5 schließlich enthält ein umfangreiches Literaturverzeichnis (S. 1979–2235) und die Register, in denen das im Katalogteil dokumentierte Material unter verschiedenen Gesichtspunkten erschlossen wird. Im einzelnen: Ein Werks- und Autorenregister (1) verzeichnet alle lateinischen Werke, die im Laufe der althochdeutschen Periode glossiert worden sind (von Abactor-Glossar bis Zinsregister). Dem folgt (2) ein Ortsregister, das »Klöster, Skriptorien, Bibliotheken, Wirkungsorte von Auftraggebern, Schreibern, Vorbesitzern (und so weiter)« (S. 86) enthält. Soweit Orte gesichert sind, an denen Glossierungen vorgenommen worden sind, ist dies eigens gekennzeichnet. Ein Personenregister (3) verzeichnet Persönlichkeiten, die in irgendeiner Beziehung zu glossierten Handschriften stehen, sei es als Vorbesitzer, direkter oder indirekter Initiator einer Glossierungstätigkeit, Schreiber oder wie auch immer. Ausgenommen sind die lateinischen Autoren, die bereits in Register 1 aufgeführt sind. Das »kodikologische Register« (4) fasst systematisch all jene Angaben des Katalogs zusammen, die entweder – um es anachronistisch auszudrücken – mit »Handschriftenhardware« und Layout zu tun haben (beispielsweise Besonderheiten von Einbänden, Material, Schriften, Buchschmuck) oder in irgendeiner anderen Hinsicht handschriftengeschichtlich von Interesse sind (wie zum Beispiel Besitzvermerke, Kolophone, Federproben). Das Register »Glossencharakteristik« (5) lässt bereits auf den ersten Blick deutlich erkennen, welche Glossengattung im frühen und hohen Mittelalter dominierte, denn der Großteil lässt sich als »Textglossierung« charakterisieren. Sach- und alphabetische Glossare treten demgegenüber zahlenmäßig zurück, sind aber insgesamt noch relativ häufig vertreten, während Einzelworteintragungen eher selten vorkommen. Die Hinweise auf Geheimschriften, Griffelglossen und dergleichen hätte man eher in Register 5 erwartet, wo beispielsweise die wenigen Handschriften genannt sind, die Runeneinträge enthalten.

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Ein weiteres Verzeichnis (6) registriert die Sprachen beziehungsweise Dialekte, soweit bisher tragfähige sprachgeographische Zuordnungen vorgenommen worden sind. Auch Glossen in nicht-deutschen Sprachen (Altirisch, Bretonisch, Polnisch, Slawisch, Altfranzösisch, Altenglisch, Altfriesisch) sind berücksichtigt. Das chronologische Verzeichnis (7) bietet einen Zugang zu den einzelnen Handschriften nach dem Zeitpunkt (oder ungefähren Zeitraum) ihrer Entstehung. Der Schwerpunkt – auch das zeigt bereits ein rascher Blick – liegt im 11. und 12. Jahrhundert, während für das 8. Jahrhundert »nur« 30 Einträge zu verzeichnen sind. Überraschend hoch ist die Zahl der bislang undatierten Handschriften. Hier wäre von paläographischer Seite noch viel Grundlagenarbeit zu leisten. Ein kurzes letztes Verzeichnis (8) verweist auf eine Reihe von Handschriften, die nachweislich noch bislang unedierte Glossen enthalten. Einiges davon war zum Redaktionsschluss allerdings bereits in Arbeit.

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Der voluminöse Band 6 bietet eine sehr großzügige und aufwendige Auswahl von 311 (teils farbigen) Abbildungen aus Glossenhandschriften. Es sollten »alle wichtigen Glossentypen auch durch Abbildungen repräsentiert werden« (S. 87).

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Was weiter...?

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Zukünftig wird mit weiteren Glossenfunden zu rechnen sein. Die Entdeckungsgeschichte wird erst an jenem fernen Tage abschlossen sein, an dem weltweit alle lateinischen Handschriften des Früh- und Hochmittelalters, die im deutschen Sprachraum entstanden oder irgendwann zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert dorthin gelangt sind, Seite für Seite sorgfältig durchgesehen sind. Das kann dauern. Die vorliegenden Bände dokumentieren den aktuellen Stand des Bekannten. Ergänzungen sind wohl kaum möglich.

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Hier sei nur darauf hingewiesen, dass einige Williram-Handschriften des 11. und 12. Jahrhunderts vereinzelt spätalthochdeutsche Einträge (Typus Textglossen) im Bereich lateinischer Textpartien enthalten: Leidener Williram = Leiden Rijksuniversiteit, M.S. B.P.L. 130, Kremsmünster, Stiftsbibliothek, Hs. 32, Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, theol 4° 140 (aus Lambach, Österreich) und Wien, ÖNB, cod. 2686. Die Kremsmünsterer Handschrift ist zwar als Nr. 257 (Band 2, S. 787 f.) verzeichnet, doch sind dort »7 Interlinearglossen ... zu Berchthold von Kremsmünster« registriert. Es dürfte ein Missverständnis vorliegen, denn Berchtholds Kurztext (»Notula«) ist auf fol. 117r eingetragen, während die Glossen für fol. 103r und 117r verzeichnet sind. Das ist der Williram-Bereich. Dann wäre also nur die Zuschreibung unrichtig. Die übrigen Handschriften sind nicht verzeichnet.

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Mit dem nun vorliegenden Monumentalwerk Rolf Bergmanns und seiner Mitarbeiterinnen sind die bisher ebenso veralteten wie dennoch unentbehrlichen Angaben im 4. und 5. Band der Ausgabe Elias von Steinmeyer 1 ergänzt, aktualisiert und damit ersetzt. Darüber hinaus ist die bisherige Glossenforschung, soweit sie sich auf einzelne Glossenhandschriften bezieht, optimal zusammengefasst. Speziell die Glossenforschung, aber auch die philologisch arbeitende historische Sprachwissenschaft insgesamt verfügen jetzt über ein hervorragendes Grundlagenwerk. Zu wünschen wären Glosseneditionen, die über die bloßen Wortauszüge, wie sie in der genannten Edition von Steinmeyer und Sievers geboten werden, hinausgehen. Die Standards sind gesetzt, etwa in der Monographie von Elvira Glaser 2 oder in der vorzüglichen Neuausgabe des Glossars Jc von Elke Krotz. 3

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Die Voraussetzungen für weitere solche Grundlagenforschungen haben sich nun ganz erheblich verbessert.



Anmerkungen

Eduard Sievers: Die althochdeutschen Glossen. 5 Bände. Berlin 1879–1922 (Nachdruck Dublin, Zürich 1968–69).   zurück
Elvira Glaser: Frühe Griffelglossierung aus Freising. Ein Beitrag zu den Anfängen althochdeutscher Schriftlichkeit. Göttingen 1996.   zurück
Elke Krotz: Auf den Spuren des althochdeutschen Isidor. Studien zur Pariser Handschrift, den Monseer Fragmenten und zum Codex Junius 25. Mit einer Neuedition des Glossars Jc. Heidelberg 2002.   zurück