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»der Enge etablierter Disziplinen durch Rösselsprünge in andere entweiche«

  • Penka Angelova: Elias Canetti. Spuren zum mythischen Denken. Wien: Paul Zsolnay 2005. 320 S. Gebunden. EUR (D) 25,90.
    ISBN: 3552053271.
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Von Jubiläumsjahren

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Jubiläumsjahre sind Publikationsjahre: Momentan häufen sich die Veröffentlichungen zu Heinrich Heine, der vor einhundertfünfzig Jahren gestorben ist; die Tische zu Thomas Bernhard, der 2006 seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag gefeiert hätte, finden sich in den Buchhandlungen direkt daneben. Bei Wolfgang Koeppen jährt sich beides: hundertster Geburtstag und zehnter Todestag. Ein großes Ereignis des letzten Jahres ist noch in Erinnerung, einer der bedeutendsten deutschen Dichter wurde gefeiert: Friedrich Schiller, dessen zweihundertster Todestag auf den 9. Mai 2005 fällt. Außerdem wieder ein Mann, diesmal Erika, 1905 geboren.

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2005 war auch Elias-Canetti-Jahr – der Literaturnobelpreisträger hätte seinen hundertsten Geburtstag gefeiert. Punktgenau präsentiert Canettis Hausverlag Hanser die Gesamtausgabe der Werke, vervollständigt durch den zehnten und letzten Band, in dem Aufsätze, Reden und Gespräche Canettis versammelt sind. 1 Hinzu kommt ein neuer Aufzeichnungsband, der Faksimiledruck einer handschriftlichen Zusammenstellung von Canetti an Marie-Louise von Motesiczky. 2 Außerdem ist eine erste große, offizielle Canetti-Biographie erschienen: Sven Hanuschek, der große Teile des Nachlasses erstmals eingesehen hat, legt eine umfassende Lebensbeschreibung des Dichters vor. 3 Ein Photographien-Band von Kristian Wachinger präsentiert Bilder aus Canettis Leben, 4 die Reihe Text und Kritik, die sich häufig an Jubiläen orientiert, gibt einen vollständig neu gefassten Elias-Canetti-Band heraus, 5 viele weitere Beispiele ließen sich leicht finden.

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Auch Penka Angelova, die Präsidentin der Internationalen Elias-Canetti-Gesellschaft mit Sitz in Rousse (Rustschuk), dem Geburtsort Canettis, hat 2005 die Gelegenheit ergriffen und eine Monographie zu Elias Canetti veröffentlicht. 6 Angelova ist kein no name der Canetti-Forschung, von ihr sind bereits einige Aufsätze zu dem Dichter erschienen, außerdem gibt sie die Schriftenreihe der Elias-Canetti-Gesellschaft heraus, die bislang drei Bände umfasst. 7

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Spuren zum mythischen Denken
Standortbestimmung, Zielsetzung, Methode

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In Elias Canetti. Spuren zum mythischen Denken versucht Angelova anhand verschiedener anthropologischer und philosophischer Elemente das Canettische Denken zu charakterisieren, als dessen Mittelpunkt sie Canettis »Mythos von der Verwandlung« (S. 7) herauskristallisiert. Hierbei stützt sie sich vornehmlich auf die eher theoretisch gefärbten Schriften des Dichters, auf die Aufzeichnungen und Masse und Macht.

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Der ›Mythos‹ Canettis, den Angelova in ihrer Untersuchung (re)konstruiert, ist durchweg positiv gefärbt und produktiv gedacht: Er stellt sich gegen Zerfall und Entzauberung der Welt, gegen das ›unrettbare Ich‹ und den Zweifel an Künsten und Wissenschaften, er lässt die verschiedensten Phänomene, Aspekte, Standpunkte nebeneinander bestehen auf der Suche nach dem Humanen, Allgemein-Menschlichen. Dieses ›mythische‹ Denken liegt nach Angelova dem gesamten Oeuvre Canettis zugrunde, das sich ansonsten durch eine ausgesprochene Vielfalt an Themen, Aspekten, Motiven und Gattungen auszeichnet.

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Dreh- und Angelpunkt des quasi humanitären Konzepts ist die ›Verwandlung‹, die Canetti als ureigentliche, menschliche Fähigkeit beschreibt, als das »menschliche Spezifikum schlechthin« (S. 131). Die Verwandlung auch in das Kleinste zu pflegen, auszuüben und zu vermitteln fällt bei Canetti als besondere Aufgabe der Verantwortung des Dichters zu. Als Träger und Akteur der Verwandlung steht hier der ›Mensch‹ im Mittelpunkt, er erscheint auch allgemein bei Canetti als wichtiger Begriff, er stellt eine zentrale Kategorie im gesamten Werk dar – für Angelova Grund genug, von einer »anthropologische[n] Wende« (S. 8) zu sprechen, die der Dichter vollzieht.

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Wie nun kann einem solch zugleich universalen als auch mannigfaltigen Denken am Besten begegnet werden? Angelova versucht dies, indem sie in Anlehnung an Canettis eigenen weitgefassten Ansatz den Untersuchungs­gegenstand von den verschiedensten Seiten beleuchtet. Ihr ausgesprochen facettenreiches Vorgehen (»synthetisches Interpretieren«, S. 13) erklärt Angelova als dem Untersuchungsgegenstand nicht nur angemessen, sondern vielmehr geschuldet:

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[Es ist] eine Untersuchungsmethode notwendig, die das für dieses Werk charakteristische Zusammenspiel von Künsten und Wissenschaften, von Politik und sozialem Leben, von geistigen Tendenzen und dem Ohngeist der Wirklichkeit berücksichtigen und das Werk nicht auf einzelne Wissenschaftssparten reduzieren würde. (S. 8)
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Sie charakterisiert Canettis Denkgebäude, indem sie dessen vielfältige Aspekte herausgreift und vorstellt. Ihre kulturwissenschaftlich geprägte, transdisziplinäre 8 Herangehensweise stützt sie hierbei durch Textnähe ab. Canettis ›Begriffsapparat‹ arbeitet sie in dessen eigenem Gebrauch an den theoretischen Schriften heraus, doch stellt sie auch immer wieder Verbindungen zu dem poetischen Werk her, wie dem Ohrenzeugen oder der Blendung. Zusätzlich deckt sie Anknüpfungspunkte wie auch Querverbindungen zu Dichtern und Theorien des 20. Jahrhunderts auf. Sie veranschaulicht den Canettischen Standpunkt durch den Vergleich beispielsweise mit Broch, Goethe, Hesse, Jaspers, Kafka, Kant, Platon, Schlegel, Schopenhauer, zu östlichen Denkern oder auch einzelnen geschichtlichen Ereignissen wie der Balkan-Problematik, der NS-Zeit oder dem medialen Umbruch der jüngsten Vergangenheit. Sie zieht Arbeiten aus dem Umkreis der Anthropologie, Mythos- und Gedächtnisforschung, der Politikwissenschaft, Psychologie, Psychoanalyse, Soziologie wie auch literatur- und textwissenschaftliche Überlegungen für ihre Studie heran, genaue Vergleichsstudien einzelner Texte oder Standpunkte reihen sich hier unter kurze Gedankenanalogien, auf die sie aufmerksam macht.

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Um in dieser thematischen Fülle nicht den roten Faden zu verlieren, siedelt Angelova die vielfältigen Blickwinkel und Episoden entlang verschiedener Leitlinien an, die Canettis eigenes Werk durchziehen. Im ersten Teil ihrer Arbeit untersucht sie das Motivgefüge der Aufzeichnungen, wobei sie im besonderen Todesfeindschaft, Geschichtsauffassung und Menschenbild Canettis in den Blick nimmt. Im zweiten Teil geht sie der erkenntnistheoretischen Struktur von Masse und Macht nach. In der Mikro- und Makrostruktur des Werkes, in seinem mnemotechnischen Verfahren und der Erzählperspektive arbeitet sie schließlich die Umrisse von Canettis ›Mythos der Verwandlung‹ heraus.

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Motivgefüge in den Aufzeichnungen Canettis

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Die Aufzeichnungen Canettis nehmen eine Schlüsselposition im Werk des Dichters ein. Sie lassen Aspekte der Begriffswelt wie auch des Gedankensystems Canettis aufscheinen und stellen insgesamt ein eigenständiges philosophisch-anthropologisch-poetisches Werk dar. Canetti, der sich vehement gegen Begriffssysteme stellt, kann mittels der Aufzeichnungen die Offenheit des Denkens bewahren: »In der zersplitterten Form der Aufzeichnungen findet Canetti die Möglichkeit für neue Überprüfungen und Korrekturen des Denkmodells, indem er sich vor der Einheitlichkeit eines geschlossenen Systems immer wieder hütet.« (S. 24) Dennoch finden sich gewisse Begriffe, die sein gesamtes Leben und Werk durchziehen, in Canettis Aufzeichnungen bereits mit Beginn der Niederschrift 1942. Auflistungen dieser Begriffe finden sich in der Forschungsliteratur immer wieder; so auch bei Angelova. Sie identifiziert ›Todesfeindschaft‹, kritische ›Geschichtsauffassung‹, ›Mythos‹ und ›Menschenbild‹ als die gewichtigsten Themen.

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Todesfeindschaft, Geschichtsskeptizismus,
mythisches Denken

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Die Todesfeindschaft Canettis bekommt bei Angelova religiöse Züge. Sie nimmt in Canettis Weltbild »eine zentrale Stellung ein und verwandelt sich für ihn in eine Art von Religion« (S. 30). Die Haltung zum Tod werde hier zur Grundlage für »eine neue Art des Denkens, die von dem Mythischen bzw. dem Religiösen getragen oder zusammengehalten wird« (S. 32). Der neue »Glauben« hat einen lebensbejahenden, anthropozentrischen Charakter. Er fußt auf einer Kritik an der Geschichtsauffassung 9 und Wissenschaftsgläubigkeit (»Die aus der Geschichte nicht mehr herausfinden, sind verloren, und alle ihre Völker dazu.« – IV, S. 52), welche Canetti in Opposition zu anderen Theorien wie auch jeglichem Systemdenken bringt. Dem negativen Bild der Geschichte bzw. Geschichtsschreibung stellt Canetti das Soziale und Zwischenmenschliche entgegen, als deren Basis führt Angelova den neuen Mythos der Verwandlung vor, der sich bei Canetti in zwei Prozessen zeigt:

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[E]iner Entmythologisierung der Welt und der Geschichte auf der einen Seite durch die Ansammlung allen gespaltenen Wissens und die Aufdeckung der Manipulierbarkeit von Geschichte; auf der anderen Seite jedoch eine Bewegung zum Mythos hin, eine Remythologisierung der Welt und der Geschichte durch die Spurensuche nach einem Mythos der Ursprünge, der ontologisch und sozial zu verstehen ist – einem Mythos, der zum sozialen Rätsel des Lebens hinführen soll und die unentschlüsselbaren Räume des Zwischenmenschlichen zu transzendieren versucht. (S. 40)
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Angelova zeichnet hier das Bild eines Mythenbegeisterten nach: Canetti in seinem Versuch, das Denken auf mythische Spuren zurückzuführen. Denn (nur) diese können zu einer »Erneuerung und Umgestaltung der geistigen Welt und des Menschen« (S. 36) beitragen. Canettis Mythosbegriff trennt Angelova hier zwischen 1) den »alten Mythen der Menschheit in ihrer Vielfalt und Mannigfaltigkeit«, die er beständig rezipiert, und 2) dem neuen »Mythos, den sich Canetti zu durchdenken berufen fühlt«, namentlich dem Verwandlungsmythos (S. 53). So zeigt sich, dass Canetti einerseits die alten Mythen in ihrer eigenständigen Wahrhaftigkeit rehabilitiert, für ihn erschließt der Mythos »die Wirklichkeit des Menschen und die Hintergründe seines Daseins, seines Lebens in Welt und Geschichte« (S. 58). Andererseits, so Angelova, weist er dem Dichter die Aufgabe zu, den richtigen, lebenswerten Mythos zu suchen und zu finden. Und bei Canetti manifestiert sich dieser ›richtige‹ Mythos im »anthropologischen Mythos der Verwandlung, der gegen den Tod gerichtet ist« (S. 64).

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Menschenbild, Charakterbilder

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Des Weiteren führt Angelova das spezifische Menschenbild als Grundkonstante des Canettischen Denkens vor. Dieses ist »in jedem seiner Werke ein wichtiger Bezugspunkt, ein Organisationszentrum von Handlung und Geschehen, von Gesinnung und Reflexion« (S. 71). In den uralten Mythen wurde der Mensch noch als Ganzes betrachtet, Canetti strebt zu dieser Vorstellung zurück; zusätzlich findet Angelova den Begriff vom Menschen bei Canetti um die Aspekte der Vielfalt, der Masse, des Tierischen und Göttlichen erweitert. Diese erscheinen als verschiedene Seinsweisen, als Bündel von Identitäten, aus dem ein Einzelner besteht; sie ergeben die Möglichkeit zu einer Reichhaltigkeit des Menschseins.

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Am Beispiel des Tierischen: Angelova erläutert dieses nicht als niedrige Vorform, sondern als Bestandteil des Menschlichen; womit »eine neue Auffassung von der Stellung des Menschen innerhalb der Natur und der Weltzusammenhänge« (S. 82) eröffnet wird. Auch ein Unbehagen an der zivilisatorisch machtbesessenen Tradition zeigt sich in dieser welt- und naturoffenen Konzeption.

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Ein ganz anderes, fast entgegengesetztes Menschenbild entdeckt Angelova in den Charakterbildern der Aufzeichnungen und des Ohrenzeugen. Diese heben »überpersönliche Charakterzüge der Gesellschaft« (S. 96) hervor, sie sind in keine Erzählstruktur eingebunden, sondern ohne festen Zeit- und Raumbezug präsentiert. Doch zugleich können die Charakterbilder durch die Art der Typisierung zwingend dem 20. Jahrhundert zugeordnet werden und ergeben in ihrer Gesamtheit ein komplexes Bild der Zeit (S. 98, S. 101 f., S. 105). So kann man beispielsweise den Satten (IV, S. 116–118) als den Konsummenschen schlechthin sehen, analog beurteilt Angelova den Belesenen (IV, S. 236–239) als Konsument des Geistigen. Der Trickster (IV, S. 230–231) wiederum nimmt eine zentrale Stelle als Verwandlungswesen par excellence ein, das dem in seinem Machtwillen erstarrten Machthaber entgegenzusetzen ist (S. 99 f.).

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Zur erkenntnistheoretischen Struktur von
Masse und Macht

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In einem kenntnisreichen Überblick zur Forschungsliteratur (S. 109–117) zeigt Angelova, dass Masse und Macht bisher hauptsächlich unter Fragen nach werkangewandten (immanentpoetischen), gesellschaftlich angewandten (rezeptionsästhetisch, – politisch oder sozialgeschichtlich orientierten) oder auch produktionsästhetisch-entstehungsgeschichtlichen Aspekten untersucht wurde. Analysen, die das Werk in seiner Gesamtheit, seinen Strukturen und den spezifischen Funktionen in den Blick nimmt, sind eher rar. So deckt Angelova ein Forschungsdesiderat auf, dem sich ihre Monographie gleichsam entgegenstellt: Um hinter den erkenntnistheoretischen Ansatz Canettis zu kommen, nähert sie sich dem philosophisch-anthropologischen Werk Masse und Macht mittels eines struktur-funktionalen Blicks.

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Das Anliegen von Canettis selbst angezeigtem »Hauptwerk« ist, nach Angelova, die Erkenntnis der menschlichen Natur. Canetti sucht das Allgemein-Menschliche, das Gemeinsame eines Begriffs der Menschheit, der nur raum-, zeit (und kultur-)unabhängig bestehen kann. Wie sich dies nun in der inhaltlichen und erzählerischen Strukturierung des Werks niederschlägt, zeichnet Angelova im zweiten Teil ihrer Untersuchung nach. So gelingt es ihr, hinter der Vielfältigkeit von Masse und Macht das mythische Denken Canettis aufzudecken.

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Individuelles, Soziales, Globales –
auf der Basis des mythischen Denkens

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Ausgehend von dem Initiationserlebnis mit der Masse, das Canetti in der Fackel im Ohr beschreibt, identifiziert Angelova als strukturelle Basis von Masse und Macht die Dreierkonstellation von individueller Erfahrung (Individuum / Individuelles), kultureller Erfahrung (Großstadt als Massenbecken / Soziales) und dem Erlebnis des Universalen (Universum / Globales) (S. 121–123, S. 127, S. 137). Auch hier beschreibt Angelova als Grundlage des Canettischen Vorgehens das mythische Denken.

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Der Mythos Canettis gewinnt so in Angelovas Beschreibung einen weiteren Umriss. Sie führt ihn nun als Abstraktum ein, als Idee oder subliterarische Form, die aus dem Textganzen herausgelöst werden kann. Als den Kern dieser Idee stellt sie wiederum die Verwandlungsfähigkeit des Menschen dar. Dem Verwandlungsbegriff Canettis kommt so »eine zentrale erkenntnistheoretische Bedeutung« (S. 138) zu, da er eben diese Dreierkonstellation, die »Einheit zwischen Individuellem, Sozialem und Universalem« herstellen soll, »es wäre nicht verfehlt zu sagen auch eine unio mystica der getrennten Wissenschaften.« (S. 139) Canettis Mythosbegriff erhält damit einen universalen, allerdings auch utopisch anmutenden Charakter; er soll die Spaltung der Zivilisation überbrücken und im Kontext des Universums die ganze Menschheit fassen.

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Mnemotechnisches Verfahren,
Er-Zähl-Perspektive(n)

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Da Masse und Macht auf der Grenze zwischen wissenschaftlichem und ästhetischem Werk angesiedelt ist, erscheint die Frage nach dem Bezug Autor-Erzähler schwierig. Angelova identifiziert Erzählermodus und -standpunkt des Werks, wobei sie feststellt, dass »von einem fingierten Erzähler als Vermittlerinstanz nicht die Rede sein« kann (S. 114). Vielmehr versammelt Canetti Quellen unter ihren jeweils verschiedenen Perspektiven und ›Stimmen‹ frei, er trägt individuelle und kollektive Erfahrungen aus verschiedenen Zeit- und Raumbedingungen zusammen und lässt sie sich selbst präsentieren. Für Angelova erscheint Masse und Macht solcherart als »Welttheater« (S. 180), auf dem Canetti die Vielstimmigkeit der Zivilisation und »die Erfahrung der Menschheit« (S. 124) darstellt und zugleich ein mögliches kollektives Gedächtnis der Menschheit vorschlägt (S. 142).

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Außerdem erprobt Canetti im und über den Text ein spezifisches mnemotechnisches Vorgehen. »Es ist in Masse und Macht ein polyhistorisches Verfahren, welches verschiedene Geschichten und Historien zu einem Gebilde zusammensetzt, um durch Erinnerung Erkenntnis zu ermöglichen.« (S. 147) Mittels der Verwandlungsfähigkeit des sich erinnernden Subjekts (Erzähler / Leser), das sich in das erzählte Allgemein-Menschliche je individuell hineinversetzt, kann Canetti individuelle und kollektive Erinnerung verbinden. Damit gelingt es ihm einerseits, so Angelova, der Aufspaltung der Wissenschaften im Kopf des Einzelnen entgegenzuwirken und andererseits das Zugehörigkeitsgefühl aller Kulturen zu der einen Menschheit zu befördern. Dies wiederum weckt das Verantwortungsgefühl der Menschheit und baut Abgrenzungen untereinander ab (S. 154).

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Allerdings kann Angelova auch zeigen, dass Canettis Erzählstandpunkt kein rein objektiver, unabhängig darstellender ist, der vollkommen von der eigenen Person absehen könnte. 10 Anhand mnemotechnischer Aspekte der Autobiographie und spezifischer Beispiele aus Masse und Macht weist sie überzeugend nach, inwieweit Canettis »Erzählperspektive genauer eine Er-Erzählperspektive oder eine Er-Zähl-Perspektive ist, die nur Er-Perspektiven aufzählt« (S. 158). Der Canettische Mensch erscheint als »männliche Instanz«, das Erinnerungsmodell in Masse und Macht ist »männlicher Prägung und Präsenz«, die weibliche Perspektive hingegen wird unter den verschiedenen nebeneinander versammelten Standpunkten und Blickrichtungen vergeblich gesucht (S. 165 f.).

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Perspektive außerhalb der Geschichte

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Im Kontext der Aufzeichnungen hat Angelova die Kritik Canettis an gängigen Geschichtsauffassungen bereits thematisiert. Indem sie dem Erzählmodus von Masse und Macht nachgeht und dessen parallaxische Darstellungsweise aufdeckt (S. 213–217) verdeutlicht sie die Tragweite seiner Kritik. Mit seiner ahistorischen Quellenpräsentation stellt sich Canetti außerhalb der Vorstellung eines jeglich geordneten Geschichtsverlaufs, sei dieser nun zirkulärer Art, oder auf Verfall bzw. Genese der Menschheit hin (evolutionär) strukturiert.

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Was Canetti mit Masse und Macht unternimmt, ist der Ausstieg aus einer allumfassenden Geschichtlichkeit und aus der Universalgeschichte, um danach zu fragen, welche Mächte diese Geschichte regieren, und eine Antwort auf die ihn interessierenden Menschheitsprobleme zu suchen, die hinter der historisch-geographischen Fixiertheit, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der einzelnen Ereignisse sich abzeichnen. (S. 198)
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Geschichte erscheint im Rahmen des anthropologisch-philosophischen Werks als Zitatpool, aus dem der Dichter einzelne Beispiele herausgreift und nebeneinander stellt. Solcherart von ihrem historischen Kontext befreit dienen sie Canetti zu überhistorischem, allgemeinem Erkenntnisgewinn. So sind beispielsweise Nationen als historische Erscheinungen bestimmter Funktion und Dynamik beschreibbar, was Angelova an der Balkanproblematik der letzten Jahrzehnte zeigt (S. 195, S. 204–207).

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Begriffsklärung durch vergleichende Analyse:
Verwandlung und Mythos

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Zum Abschluss der Untersuchung spezifiziert Angelova die für Canetti zentralen Begriffe ›Mythos‹ und ›Verwandlung‹ genauer, die im Rahmen ihrer Untersuchung bereits an einigen Stellen aufschienen. Einige der hier heraus gearbeiteten Thesen sind keine Neuigkeiten für die Canetti-Forschung, oft können diese bereits über die Lektüre von Canettis Rede Der Beruf des Dichters (1976) erfasst werden. Doch kann Angelova jeweils durch eine komparative Analyse neue Aspekte zur Diskussion anbieten.

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Den Canettischen Verwandlungsbegriff arbeitet sie im Vergleich mit Karl Jaspers existenzphilosophischem Kommunikationsbegriff heraus (S. 218–228). So kann sie Verwandlung als eine interdiskursive, interkulturelle und interaktive Kommunikation mit dem ›Anderen‹ vorstellen: Das je Andere wird aufgenommen (sprunghaft, nicht dialektisch) und erkannt, was Spuren im Rezipienten hinterlässt. Die Fähigkeit zur Verwandlung steht bei Canetti außerhalb eines definiert methodischen Zugangs, sie kann vielmehr überhistorisch beobachtet werden als Konstante des menschlichen Daseins. Canetti greift mit ihr auf den Ursprung des Menschseins (und damit auch auf das Allgemein-Menschliche) zurück, auf den »präexistenten Urzustand des Menschen und der Menschheit, in dem die Spaltung von Ich und Welt noch nicht erfolgt ist« (S. 223 f.).

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Sowohl Canetti als auch Hermann Broch, in der Wiener Zeit vor dem Exil ein enger Freund des Dichters, haben ihr theoretisches und literarisches Werk auf einer Kunst- und mythopoetischen Basis errichtet. Die Zivilisationskritik beider Dichter drängt zum Gegenentwurf: Der Mythos in seiner universalen, anthropologischen und ethischen Dimension bildet dessen Material. Dem Mythos wird, wie auch der Dichtung, Erkenntnisfunktion zugesprochen. Er soll die Trennung von Wissenschaften und Künsten überbrücken und gegen den Kulturzerfall zu einer neuen Einheit führen, »im Dienste einer Totalität der Welterfahrung« (S. 238). So sieht Angelova Canetti in der Suche nach diesem neuen Mythos begriffen, dem »Mythos vom Beruf des Dichters, der in einer gewissen Ausprägung auch als Canettis Verwandlungsmythos zu verstehen ist« (S. 242). Diesen Mythos entwickelt er in seinen theoretischen Schriften: Dem Essay Der Beruf des Dichters, dem Kapitel »Der Überlebende« in Masse und Macht, aber auch in den autobiographischen Texten, in denen er den »Verwandlungsmythos auch als einen Mythos gegen die Grenzen des Todes« (S. 243) etabliert.

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Das von Angelova skizzierte Mythos-Bewusstsein Canettis zeugt und verlangt die Verantwortung des Dichters, der der Menschheit positiv gegenübersteht. Die Utopie des humanen Lebens, die Canetti mit seinem Mythos der Verwandlung entwirft, kann er, so Angelova, allerdings nicht vollständig vorführen. Sie zeigt dies im Vergleich mit Broch: Im Gegensatz zu diesem vermag es Canetti nicht, aus der männlichen Perspektive, der Er-Zähl-Perspektive, herauszutreten. Letztendlich verbleibt der humanitäre Weltentwurf Canettis so zwangsweise ein unvollständiger, halbierter (S. 249–252).

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Kritische Randbemerkungen

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Die Kontextualisierungen und Interpretationen, die Angelova vornimmt, sind beeindruckend weitreichend und kundig, die Leitlinien fundiert – allerdings erdrückt die Fülle der vorgenommen Bezüge den Leser beinahe. Dieser muss sich bemühen, neben den verschiedenen, ausgesprochen fruchtbaren Gedankenanregungen nicht die zugrunde liegende Fragestellung Angelovas aus dem Blick zu verlieren. Kleinere Fehler haben sich aufgrund der Vielfalt der Untersuchung außerdem (fast zwangsläufig) eingeschlichen.

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So greift Angelova teils in der Interpretation über den Dichter hinaus. Sie vermerkt beispielsweise, Canetti sehe die welterschaffende Macht des Wortes in »einer langen dichterischen Tradition von Goethe (Faust, Vorspiel auf dem Theater) und Heine (Wintermärchen, XII. Kaput) über Rilke (Was bist Du, Gott, ohne mich) bis zur Gegenwart« (S. 87). Sie belegt dies durch eine Aufzeichnung Canettis: »Die Götter, von Anbetung genährt, in Ungenanntheit verhungert, in Dichtern erinnert, und dann erst ewig.« (IV, S. 83) Angelovas Grundaussage mag zutreffen, dass sie Canetti die explizite Beispielsreihe Goethe, Heine, Rilke an die Seite stellt führt allerdings etwas weit; vor allem, da Rilke nicht unbedingt zu Canettis Dichtervorbildern zählt, und auch seine Auseinandersetzung mit Heine (bedingt durch den Einfluss von Karl Kraus) lange kritischer Natur war. 11

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Der Leser stutzt außerdem, wenn Angelova zu den Figurenporträts aus den Aufzeichnungen und dem Ohrenzeugen vermerkt, »die Charakterbilder sind die zu Figuren erstarrten Charakterzüge der Masse des 20. Jahrhunderts« (S. 95). Eine starke und interessante, in aller Konsequenz aber nicht haltbare These, zieht man Canettis eigene Massentheorie hinzu, die in ihrer Spezifik schwerlich auf die Charakterbilder angewandt werden kann (vgl. III, S. 30–32). Angelova geht dann ihrer aufgeworfenen Massenanalogie im Text auch nicht weiter nach, stattdessen verfolgt sie gewinnbringend den Vergleich der Charakterbilder mit Zügen der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts.

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In der Fülle der Kontextualisierungen bleibt Altvertrautes stellenweise vermisst. So wird beispielsweise im Umfeld von Canettis Kritik an der »Fiktion der Geschichtsschreibung« der Querverweis von Angelova auf Hayden White vergeblich gesucht (S. 49 f.). Gerade dieser Name ist jedoch mit einer solchen Kritik aufs engste verbunden: White trug als erster Kategorien der Literaturwissenschaft an die Geschichtsschreibung heran, seine Thesen zu deren Fiktionscharakter gehören zum Grundwissen in den Geisteswissenschaften. 12 Auch die Charakteristik verschiedener Tendenzen des Mythosbegriffs abendländischer Prägung, die Angelova vornimmt (S. 66 f.), hätte vervollständigt werden können durch den Bezug auf Aleida und Jan Assmann, 13 die sieben wichtige Leitvorstellungen vom Mythos differenzieren.

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Hieraus leitet sich möglicherweise auch die gewichtigste Ungenauigkeit der Studie ab. So vermengt Angelova an einigen Stellen der Untersuchung Canettis Mythos-Vorstellung mit einem emphatischen Mythos-Begriff allgemeiner Prägung, der den Begriff Canettis überhöht. Außerdem verwischen sich die Grenzen zwischen ›Verwandlung‹ und ›Mythos‹ in dem von Angelova geprägten Begriff des ›Verwandlungsmythos‹ – die Verwendung ist hier zu ungenau: ›Verwandlung‹ ist bei Canetti zwar eng mit dem Mythos verbunden, jedoch nicht gleichzusetzen – Verwandlung ist eine wichtige Eigenschaft des Mythos. ›Mythos‹ erscheint bei Canetti als eigenständiger Begriff, der strukturell-funktional eher in der Nähe der Literatur als der Verwandlung anzusiedeln ist. 14

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Auch Canettis Begriff des Privatmythos’ erscheint bei Angelova unscharf. Sie identifiziert den Begriff mit der Suche eines Einzelnen nach einem neuen Mythos (S. 241), unterschlägt aber, dass Canetti den Privatmythos in die Nähe des Wahns rückt (X, S. 236), wodurch dieser eine eindeutig negative Prägung erfährt. 15

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Da sich beide Begriffe – Verwandlung und Mythos – bei Canetti eng aneinander anlehnen, stört die Unschärfe zwar kaum die Folgerichtigkeit von Angelovas Studie. Allerdings verbleiben so einige charakteristische Merkmale des Mythos im Dunkeln, beispielsweise das Ursprünglich-Alte, Vergangene, das einen neuen Mythos per definitionem für Canetti unmöglich macht.

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Schließlich sind noch Ungenauigkeiten formaler Art aufzuzeigen. Es wurde nicht durchgängig nach den bereits vorliegenden Bänden der Hanser-Gesamtausgabe zitiert. Eine vollständige Übersicht über die hinzugezogene Primärliteratur von Elias Canetti fehlt, die Texte sind eher chaotisch auf den Eintrag in der Bibliographie und das Siglenverzeichnis verteilt. Letzteres wiederum ist unvollständig und uneinheitlich, das Literaturverzeichnis nicht sauber formatiert. So wird beispielsweise Die gerettete Zunge im Siglenverzeichnis (S. 267) unter dem Sigle GZ genannt, ist aber in der Bibliographie (S. 268) nicht aufzufinden. Hier stößt der Leser dafür auf Die gespaltene Zukunft von Elias Canetti, im Siglenverzeichnis nicht erwähnt, in der Bibliographie aber mit in Klammern angefügter Sigle GZ (!). Im Fließtext wiederum finde ich dann die unerklärte Angabe ›Gesp. Zuk.‹ (S. 131). Auch in Verweise auf einzelne Aufzeichnungsbände Canettis, teils auch auf verschiedene Sekundärliteratur haben sich leichte Fehler und Ungenauigkeiten eingeschlichen.

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Fazit

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Angelova legt insgesamt eine weitreichende Studie zu Elias Canettis Denkkonzeption vor. Souverän verfügt sie sowohl über das Oeuvre Canettis, wie auch die betreffende Forschungsliteratur. Sie beleuchtet Denken und Werk unter dem Blickwinkel der verschiedensten geistes- und kulturwissenschaftlichen Ansätze und setzte es in den Kontext theoretischer oder literarischer Erträge von Zeitgenossen oder Ahnen des Dichters. Die vielfältigen Aspekte entwickelt sie entlang einer kenntnisreichen Studie zu den Aufzeichnungen und Masse und Macht. Zu dem philosophisch-anthropologischen Werk legt sie zudem eine der ersten struktural-funktionalen Untersuchungen vor, die es ihr beispielsweise ermöglicht, die er-zähl-perspektivische Färbung des Darstellungsmodus aufzudecken. Angelovas Monographie erscheint so als facettenreiche, anschlussfähige Untersuchung, die verschiedene Aspekte von Canettis Denken und Werk neu beleuchtet. Insgesamt inspiriert der Band zur weiteren Beschäftigung mit dem Nobelpreisträger, auch auf einer theoretischeren Basis. Unschärfen in Bezug auf Kontexte, Interpretationsaspekte oder im Umriss von Canettis Mythos-Begriff sind anzuzeigen, können aber durch Vielfalt und Ertragsreichtum der Arbeit ausgeglichen werden.

 
 

Anmerkungen

Elias Canetti: Werkausgabe in zehn Bänden, München / Wien: Hanser 1992–2005. (I Die Blendung. Roman. o.J. [1992] – II Hochzeit. Komödie der Eitelkeit. Die Befristeten. Dramen. Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere. 1995 – III Masse und Macht. o.J. [1994] – IV Aufzeichnungen 1942–1985. Die Provinz des Menschen. Das Geheimherz der Uhr. 1993 – V Aufzeichnungen 1954–1993. Die Fliegenpein. Nachträge aus Hampstead. Postum veröffentlichte Aufzeichnungen. 2004 – VI Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise. Das Gewissen der Worte. Essays. 1995 – VII Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. 1994 – VIII Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931. 1993 – IX Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931–1937. 1994 – X Aufsätze. Reden. Gespräche. 2005). Zitate aus der Gesamtausgabe Canettis erscheinen im Folgenden im Fließtext in der Form (IX, S. 159) für Seite 159 des neunten Bandes. (Das Zitat aus dem Titel stammt aus Elias Canetti: Aufzeichnungen 1942–1985. Die Provinz des Menschen. Das Geheimherz der Uhr (Werke IV) München / Wien: Hanser 1993, S. 162).   zurück
Elias Canetti: Aufzeichnungen für Marie-Louise. Aus dem Nachlaß herausgegeben und mit einem Nachwort von Jeremy Adler. München / Wien: Hanser 2005.   zurück
Sven Hanuschek: Elias Canetti. Biographie. München / Wien: Hanser 2005.   zurück
Kristian Wachinger: Elias Canetti. Bilder aus seinem Leben. München / Wien: Hanser 2005.   zurück
Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Elias Canetti. 28 (2005) 4. Auflage: Neufassung.    zurück
Penka Angelova: Elias Canetti. Spuren zum mythischen Denken. Wien: Zsolnay 2005.    zurück
Penka Angelova / Emilia Staitscheva (Hg.): Autobiographie zwischen Fiktion und Wirklichkeit (Schriftenreihe der Elias-Canetti-Gesellschaft 1) St. Ingbert: Röhrig 1997; Penka Angelova (Hg.): Die Massen und die Geschichte (Schriftenreihe der Elias-Canetti-Gesellschaft 2) St. Ingbert: Röhrig 1998; Penka Angelova / Judith Veichtlbauer (Hg.): Pulverfass Balkan. Mythos oder Realität (Schriftenreihe der Elias-Canetti-Gesellschaft 3) St. Ingbert: Röhrig 2001.   zurück
Eine Auflistung hinzugezogener Einzeldisziplinen unter Anm. 13, S. 291.   zurück
Angelova charakterisiert die für Canetti negativen Aspekte der Geschichte: 1) Der Anspruch der Geschichte, als Ersatz-Mythos zu dienen; 2) Geschichte als ein Geschehenes, das sich als ständige Wiederkehr des Gleichen entpuppt, aus dem immer nur die falschen Lehren gezogen werden; 3) Das Auswahlverfahren der Geschichtsschreibung, das nur den Mythos des sich ewig wiederholenden Krieges variiere; 4) Geschichte als ein Macht- und Kampffeld der Namen der Machthabenden; 5) Eine letzte Möglichkeit für eine positive Wendung scheint bei Canetti in der Vorstellung von der Gespaltenheit der Zukunft durch – Hoffnung sei hier zumindest möglich; 6) Neben der Fiktion der Geschichtsschreibung als teleologische Auslegung wird das Beharren auf Wirklichkeitssinn und Wirklichkeitshörigkeit der Geschichte zum Machtphänomen, das die Korrelation zwischen Wirklichem und Möglichem aussperrt (S. 40–50).   zurück
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Dies wird im Allgemeinen nicht bestritten, auch wenn in Bezug auf Masse und Macht ein Mangel an Wissenschaftlichkeit, besonders an wissenschaftlich etablierter Terminologie und Traditionsbezug beklagt wird. Eine Ausnahme in Bezug auf die Unvoreingenommenheit und ›Unschuld‹ Canettis bildet der Sammelband von Kurt Bartsch / Gerhard Melzer (Hg.): Experte der Macht. Elias Canetti. Graz: Droschl 1985, der sich unter anderem der Frage widmet, inwieweit nicht Canettis selbst in und über seine Texte bewusst und gezielt Macht ausübt.    zurück
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Zur Heine Auseinandersetzung vgl. Hanuschek 2005, S. 164–166, Rilke fehlt meines Wissens nach vollständig in der autobiographischen Trilogie Canettis, die ansonsten voller Auseinandersetzungen mit Literatur und hymnischer Reden auf Dichtervorbilder ist. Vgl. hierzu Beatrix Kampel: »Ein Dichter braucht Ahnen«. Canettis Begegnung mit Literatur und Literaten im Spiegel seiner Autobiographie. In: Kurt Bartsch / Gerhard Melzer (Hg.): Experte der Macht. Elias Canetti. Graz: Droschl 1985, S. 102–113.   zurück
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Vgl. Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett-Cotta 1986; sowie Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt / M.: Fischer 1991.   zurück
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Aleida Assmann / Jan Assmann: Mythos. In: Hubert Cancik / Burkhard Gladigow / Karl-Heinz Kohl (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (Band IV) Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 1998, S. 179–200.   zurück
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Vgl. hierzu Karoline Hornik: Mythoman und Menschenfresser. Zum Mythos in Elias Canettis Dichterbild (Chironeia – Die unwürdigen Künste. Studien zur deutschen Literatur seit der frühen Moderne. Band 1) Bielefeld: Aisthesis 2006.   zurück
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Vgl. Heike Knoll: Das System Canetti. Zur Rekonstruktion eines Wirklichkeitsentwurfs. Stuttgart: M&P Verlag für Wissenschaft und Forschung 1993, S. 165.   zurück