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Hundert Seiten europäische Sinngeschichte

  • Hans-Georg Pott: Kurze Geschichte der europäischen Kultur. (UTB S 2684) Paderborn: Wilhelm Fink 2005. 116 S. Kartoniert. EUR (D) 9,90.
    ISBN: 978-3-8252-2684-8.
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In einer zunehmend spezialisierten geisteswissenschaftlichen Forschung, die durch die Erweiterungen der Arbeitsfelder im Zuge der kulturwissenschaftlichen Öffnung nur noch differenzierter geworden ist, gewinnen Einführungen und Übersichtsdarstellungen eine immer wichtigere Position. Sie sind häufig der erste Zugriff auf ein neues Thema für Schüler, Studenten, Lehrer und Dozenten, weil sie im Idealfall Orientierung leisten können, Schwerpunkte setzen, die Forschung resümieren und – in selteneren Fällen – sogar Anregungen für weitere Arbeiten geben können. Einführungen sind ein wichtiges wissenschaftliches Genre, gleichwohl häufig weniger anerkannt als andere Monographien. Das erscheint besonders dann ungerecht, wenn das Themengebiet unübersichtlich, inhaltlich schwierig oder überforscht ist. Manchmal trifft sogar alles zu. Dann ist es besonders schwierig, eine gute Einführung zu schreiben, die wirklich das leisten kann, was sie leisten soll.

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Eine Geschichte der europäischen Kultur schreiben zu wollen, ist an sich ein anspruchsvolles Unterfangen, das sich mit allen Schwierigkeiten transnationaler und transepochaler Geschichtswissenschaft zu plagen hat. Diese Geschichte auf gut 100 Seiten zu verfassen, erscheint auf den ersten Blick fast unmöglich. Der Düsseldorfer Germanist Hans-Georg Pott hat sich mit dem vorliegenden Bändchen dieser Aufgabe gestellt und damit auf einen Bedarf an Orientierungswissen reagiert, der sich im täglichen Lehrbetrieb der Universität gezeigt hatte. Manchmal reagiert die Forschung eben doch auf Desiderate, die die »institutionelle Ökonomie« (S. 7) der Universitäten unweigerlich produziert. Pott antwortet auf die Unmöglichkeit, Fakten und Daten der europäischen Geschichte auch nur einigermaßen angemessen versammeln zu wollen, indem er seine kurze Geschichte konzeptuell als Sinngeschichte anlegt. Im methodischen Anschluss an Jan Assmanns Ägypten. Eine Sinngeschichte will er die »kulturellen Grundlagen Europas« (S. 7) als Abfolge kultureller Formen darstellen. Eine europäische Sinngeschichte soll eine Geschichte der sinnstiftenden und sinnreflektierenden Diskurse sein. Hegels Geschichtsphilosophie – ohne deren implizite Vernunftgläubigkeit – und Luhmanns Gedanke zunehmender kultureller Differenzierung sind nicht nur selbst zwei solche Diskurse. Diese beiden nutzt Pott zudem als mitlaufenden Kommentar seiner Ausführungen zur »Kultur der Kulturwissenschaften« (S. 8).

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»Ägypten, Moses«

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Seinen ersten Sinnstiftungsdiskurs findet der Autor im mosaischen Ägypten. Dort beginne jene Form von Zivilisiertheit, die zu »geselligem Betragen und friedfertigem Benehmen« (S. 10) führen könne. Im alten Ägypten begründe sich die Hoffnung, dass aus diesem Osten das Heil kommen möge. Im Orient werden die Schrift und der Monotheismus erfunden. Vor allem letzterer erscheint wichtiger »als alle politischen Veränderungen, die die Welt bis heute bestimmt haben« (S. 12). Ausgehend vom ersten Stifter des Monotheismus, Echnaton von Amarna, erläutert Pott die Entstehung des mosaischen, ethischen Monotheismus des Judentums als Verbindung von Geschichte und Legende im Deuteronomium. Der Monotheismus habe die letzte Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit, von Inklusion und Exklusion gebracht, die von der Anerkennung des wahren und einzigen Gottes abhing. Im Altertum seien Gesellschaft und Religion ununterscheidbar:

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Europa als das Abendland ruht auf den beiden Säulen der jüdischen und der griechischen Kultur, die im gemeinsamen Boden des Orients und besonders Ägyptens verankert sind, oder in einem anderen Bild ausgesprochen: die Verbindung der Traditionen führt über Moses und Jerusalem und Orpheus und Athen nach Rom. (S. 19)
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So entstehe das Christentum als »synkretistische Religion«, die gerade durch ein fehlendes Bilderverbot großen Erfolg habe. Denn durch die Bilder entstehe das höchste Wesen in Menschengestalt. Darin sieht Pott kritisch die Ursprünge der Selbstvergottung des Menschen auf der einen Seite. Auf der anderen liegen hier die Ansätze, durch die Religion Gewalt zu regulieren und die »Anfänge einer sittlichen und sozialen Ordnung« zu stiften (S. 21).

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»Die griechische Antike und Homer«

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Von Ägypten und dem Monotheismus wechselt Pott in die griechische Antike, »die zweite Quelle Europas« (S. 23). Mit seinem Gewährsmann Hegel argumentiert er, die Entwicklung zum sich selbst wissenden Geist setze sich hier fort: Bei den Griechen lerne der Mensch sich selbst zu erkennen. Der antike Mythos, die Götterwelt und Homers Epen sind Teil dieses Prozesses. Homer kommt eine weitere Schlüsselfunktion zu. Mit ihm beginne die europäische Literatur. In der Ilias finde sich eine ungekannte »künstlerisch-erzählerische Qualität der Sprache«, perspektivisches Erzählen und ein komplexer Aufbau der Fabel (S. 29). Die Odyssee tendiere hingegen schon fast zur »Unterhaltungskultur« (S. 31). Auf das Epos folgt mit den Tragödien besonders des Aischylos die Zeit der griechischen Stadtstaaten: »Es beginnt die Zeit der Vorherrschaft des Logos, des Wortes, der Rhetorik über alle anderen Instrumente der Macht.« (S. 34) Die Tragödie ist Medium des Politischen im Prozess antiker Aufklärung. Pott fasst den »Weg […] zur Selbstverantwortung« zusammen, wenn er schreibt, die Entmachtung der Götter führe

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über den Monotheismus zur Selbstermächtigung des Menschen, über die Kompromissformel der Halbgötter, über die Gestalt des Prometheus schließlich zum Gottmenschen Christus und der seltsamen Konstruktion von Vater, Sohn und Heiligem Geist. (S. 35)
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»Frühchristentum, Gnosis«

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Es treten in dieser europäischen Geschichte nun Frühchristentum und Gnosis auf. Der Apostel Paulus bekommt eine Schlüsselposition für die Verbreitung des Christentums zugewiesen. Ebenso charismatisch wie legendär predigte Paulus die Utopie der Gleichheit aller Gotteskinder. Das Paulinische Christentum als Religion der Unterdrückten: deswegen wurde es zu einer »großen sittlichen Bewegung«, wie Pott mit Harnack sagt (S. 41). Bei Paulus sieht Pott auch die Anfangsgründe christlicher Innerlichkeit, die den Glauben als Sache des Herzens versteht. Deswegen spricht er von Paulus als Vorläufer Luthers und Erfinder des Subjekts. Für den Erfolg des Christentums stehen außerdem die Vorstellung vom göttlichen Sohn Christus, der Identifikation ermöglicht und eine neue Stufe der Selbstermächtigung des Menschen ist (S. 44). Die Auseinandersetzung mit Marcion, der frühen Gnostik und ihrer Botschaft des fremden Gottes hat das Frühchristentum zusätzlich herausgefordert und gestärkt, weil als Reaktion auf die Gnosis das orthodoxe Dogma entstand, wie Pott im Anschluss an Adolf von Harnack und Hans Jonas ausführt.

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»Spätantike, Mittelalter, Übergang zur Moderne«

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Die Spätantike ist die Zeit der »Transformation« hin zum Mittelalter:

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Es handelt sich um eine Periode des Zusammenwachsens von antiker Zivilisation, Christentum und germanischer Welt der Stammeskulturen, um die Vorbereitung des Mittelalters und damit um die des heutigen Europas. (S. 49)
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Hier finden die Auseinandersetzungen zwischen Barbaren und Christen statt, hier etabliert sich langsam die Konkurrenz, die die Unabhängigkeit von Staat und Kirche erst ermöglichen wird. Die Säkularisierung habe diesen Kampf versöhnt, indem Staat und Kirche zunehmend gleichgültig gegeneinander geworden seien. Das aber greift vor. Denn im Mittelalter entstehe zunächst das lateinisch-christliche Europa. Kulturträger werden anfangs die Klöster. Der Klerus ist der gebildete Stand, der sich mit der Übersetzung und Verbreitung der Bibel beschäftigt. Mit der Idee der translatio imperii entstehen aber im 12. Jahrhundert auch die ersten Universitäten in Europa. Zeitgleich schreitet die Feudalisierung voran. Für die mittelalterliche Schriftkultur sind – neben der Bibel – vor allem die höfische Epik als »Standesdichtung des Adels« (S. 54) und später Dantes Göttliche Komödie wichtig. Beide zeigen auf ihre Art Vorstellungen mittelalterlicher Gesellschaft, bei Dante sogar Imaginationen von Welt- und Heilsgeschehen. Dante stelle die »Wissensordnungen des Abendlandes« vor (S. 55) – eine wichtige Station auf dem Weg in die Moderne ist die Entstehung von Nationalstaaten. Sie sind Teil des Zivilisationsprozesses, wobei es sich nach Pott eigentlich um Formen der Machtakkumulation handelt. Innerhalb dieser Monopolbildungen situiert er den Übergang von der Boden- zur Geldwirtschaft. »Die bedeutendsten Erfindungen aber sind das Schießpulver, die Artillerie und der Buchdruck.« (S. 57) Kanonen und Buchdruck stehen am Anfang der Moderne: »Mit den technischen Erfindungen des Buchdrucks und der Artillerie ist das Zeitalter der Reformation vorbereitet.« (S. 58) Luther führt die Paulinische Theologie der Innerlichkeit fort. Ähnlich wichtig ist die Etablierung der Geldwirtschaft, mit der ein Wandel gesellschaftlicher Werte verbunden ist. Langsam ändert sich die hierarchische Ständewelt zu einer funktional differenzierten Gesellschaft. Etikette und Ehre, das symbolische Kapital des Adels, verliert sukzessive seine Bedeutung und wird im 18. Jahrhundert durch »Programme der Bildung und Erziehung« (S. 61) ersetzt.

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»Die Moderne 1: Die bürgerliche Gesellschaft«

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Mit der Transformation der Adelskultur in der Goethezeit ist die europäische Kultur in der 1. Moderne der bürgerlichen Gesellschaft angelangt. Das klassisch-humanistische Bildungsprojekt der Zeit zwischen 1770 und 1830 hat Teil an der Entwicklung der modernen Zivilgesellschaft. Hier findet die genannte Transformation der Adelsgesellschaft statt, indem das Bürgertum nach neuen Umgangsformen und den »Bedingungen des Glücks« (S. 64) fragt. Pott wendet sich in seiner Darstellung unter dem Stichwort »Kultur als Spiel« nun Schiller und seinen Briefen über die ästhetische Erziehung zu. Er liest sie als Diskussion um »Kunst und Lebensgestaltung«, als Frage, wie man zu »einer ästhetischen Lebensform« gelangen könnte (S. 67). Schiller glaubt, die Kunst sei »Medium der Bildung des Menschen zur wahren politischen Freiheit« und löse darin die Religion ab. »Die unauflösliche und nur um den Preis der Unterdrückung aufkündbare Verbindung von Schönheit und Freiheit ist Schillers ganz eigener und genuiner Beitrag zum Diskurs der Moderne.« (S. 72) Schleiermacher steht Schiller nahe, wenn er sich mit seiner Theorie des geselligen Betragens ebenfalls um adäquate soziale Umgangsformen bemüht. Er entwirft ein Modell geselliger Gesellschaft, das den Gedanken der Selbstgesetzlichkeit des Menschen mit der Spiel-Theorie Schillers verbindet. Es entsteht eine Salonkultur, die einem emphatischen Bildungskonzept verpflichtet ist. Auch Schleiermacher geht es um den ›ganzen Menschen‹. Schiller, Schleiermacher und schließlich Kant geht es

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um nichts geringeres […] als die ›totale Revolution‹ der Empfindungsweise des Menschen zum Aufbau einer Persönlichkeit in Verbindung mit der Kunst des Ideals; so und nur so erlangt er die Freiheit, die den ästhetischen Staat auszeichnet. (S. 82)
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»Die Moderne 2: Der Beobachter«

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Die zweite Moderne hat gezeigt, dass die Hoffnung auf dauerhafte Humanität vergebens war. Der Mensch sucht und findet neue Götter, nachdem Nietzsche den Tod des einzigen Gottes verkündet hatte. Die Nation soll neuer Garant für Sinn und Kultur werden. Pott schreibt, Nation sei Macht in Verbindung mit Kultur. Aber auch der Nationalismus war, in geschichtswissenschaftlichen Dimensionen, nicht von langer Dauer. Die Frage nach regionalen Identitäten und die Globalisierung, vermittelt durch Massenmedien, sind heute drängender. »Die bedeutsamste Eigenschaft der Globalisierung liegt wohl in dem, was Anthony Giddens die ›Time-space-distanciation‹ nennt, also in den Veränderungen des Raum- und Zeitbegriffs.« (S. 91) Die Souveränität alter Nationalstaaten ist verloren. Pott stellt mit Luhmann fest:

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Unsere Lebenswelt, wenn ich damit den Bereich der Beobachtungen erster Ordnung (Wahrnehmen, Denken, Handeln) bezeichne, wird immer mehr durchsetzt mit Beobachtungen zweiter Ordnung (den reflexiven Mechanismen, von denen Giddens spricht), dem Beobachten von Beobachtungen. (S. 95)
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Die Lebenswelt wird heteronomer. Auch in der Moderne bleibt die aufklärerische Aufgabe der Selbsterkenntnis bestehen. »Kulturarbeit am Selbst« ist nach wie vor gefordert, denn an »der Entwicklung des Kulturbegriffs vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart lässt sich die Verschiebung von Identität auf Differenz beobachten« (S. 99). Und ohne die »Fähigkeit zur autologischen Selbstimplikation alles Beobachtens und Handelns« wird ein kultivierter zwischenmenschlicher Umgang unmöglich, wie Pott seinen Gang aus Ägypten in die Moderne beendet (S. 102).

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»Kultur als Sinnform«

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Das abschließende Kurzkapitel ist »Kultur als Sinnform«, also dem theoretisch-methodischen Rahmen, gewidmet (S. 103–108). Pott stellt zunächst fest, schon der Kulturbegriff sei terminologisch unscharf, um dann weitergehend nach dem »Sinn von Sinn« zu fragen (S. 103). Die systemtheoretische Antwort ist:

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Sinn, rein formal gefaßt, ist die Aktualisierung einer bestimmten Kommunikation im Horizont ihrer möglichen Alternativen. Der Sinn von Sinn liegt dann in der Reduktion von Komplexität und der Bewältigung von Kontingenz. (S. 104)
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Von dieser Definition gelange man zum Begriff des kulturellen Wissens. Für Pott macht Kultur dann Sinn, weil sie »Reflexion, Vergleichung, Kritik; Beobachtung zweiter Ordnung also, [beinhaltet], die den Begriff einer universalen Vernunft ersetzen muß.« (S. 105) Sinnstiftung findet in der modernen Welt vor allem in den Künsten und manchmal in der Wissenschaft statt. Diese Bereiche werden ihrerseits vor allem von Kunst und Wissenschaft beobachtet. Deswegen spricht Pott von Kultur als Sinnform.

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Fazit

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Potts Kurze Geschichte der europäischen Kultur überzeugt und lässt doch einige Fragen offen. Vor allem bei den Abschnitten zur Moderne kann man sich fragen, inwiefern es sich hier wirklich um eine europäische Geschichte handelt. Die Beispiele stammen aus der deutschen Geschichte, und ob sich Länder wie Frankreich, Italien, England oder Spanien im 18. und 19. Jahrhundert so einfach in dieses Muster von Sinnformen fügen, bleibt doch fraglich. Hier wäre ein stärker vergleichender Blick – man denke nur an die konfessionelle Prägung der Länder – hilfreich gewesen, der aber sicher auf so knappem Raum nicht zu leisten war. Man mag sich auch wundern, warum Schiller und seinem Spiel-Konzept so viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Eine Frage der Disposition des Bandes ist es, ob das letzte, systematisch-theoretische Kapitel zu Kultur als Sinnform seinen geeigneten Platz am Schluss des Bandes hat. Gerade bei einer Einführung wäre es für den einen oder anderen Leser sicher hilfreich, er hätte die grundsätzlichen Überlegungen von Anfang an zur Verfügung. Schließlich stellt sich die schwierige Frage, wie weit denn die Kronzeugen von Potts Argumentation, Hegel und Luhmann, miteinander kompatibel sind. Hegel nimmt bis zur Moderne viel mehr Raum ein, Luhmann wird erst spät zu Rate gezogen. Aber gehen die Prämissen beider Groß-Theorien vom Verlauf der Geschichte und von der strukturellen Differenzierung eigentlich zusammen? Hier bleibt meines Erachtens ein systematisches Fragezeichen. Gleichwohl hat Hans-Georg Pott einen bemerkenswerten Versuch vorgelegt, die komplexe europäische Geschichte sinnvoll zu strukturieren.