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Warmes Herz und kalter Kopf

Innovation und Tradition
in Albrecht Dürers kleineren Texten

  • Heike Sahm: Dürers kleinere Texte. Konventionen als Spielraum für Individualität. (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge 97) Tübingen: Max Niemeyer 2002. VIII, 215 S. 11 Abb. Kartoniert. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 3-484-15097-1.
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Heike Sahms 2002 erschienene Tübinger Dissertation von 1997/98 liegt mit 216 Seiten angenehm schlank in der Hand. Die Autorin hat sich »Dürers kleinere Texte« zum Untersuchungsgegenstand genommen, was zugleich bedeutet, dass die »großen«, nämlich in Form gedruckter Bücher erschienenen Texte dieses ersten und für lange Jahre einzigen deutschen »pictor doctus« ausgeklammert bleiben: die Unterweisung der Messung (1525), die Befestigungslehre (1527) und die postum erschienene Proportionslehre (1528). Diese drei Bücher sind kürzlich im 3. Band des von Rainer Schoch herausgegebenen druckgraphischen Werks Dürers erneut zugänglich gemacht und durch vorzügliche Kommentare erschlossen worden. 1

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Die Autorin wendet sich mit Ausnahme der Widmungsvorreden (S. 117 ff.) jenen Schriften zu, die von Dürer nicht veröffentlicht wurden: Familiengeschichte und Briefe, Dichtungen und Niederländisches Tagebuch. Zwischen den veröffentlichten Büchern und den privaten Notizen steht Dürers unvollendetes Lehrbuch der Malerei (Speis des Malerknaben), dessen Fragmente eine eigene Untersuchung verdienen würden.

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Der Acker, auf dem Heike Sahm ernten kann, ist einerseits gut bestellt. Hans Rupprich hat 1956 die »kleinen Schriften« philologisch-kritisch ediert und somit das Untersuchungsmaterial zur Verfügung gestellt. 2 Andererseits sind Analysen der Texte dünn gesät – mit Ausnahme des »Tagebuchs der niederländischen Reise«. Daran ändert die Tatsache nichts, dass in der Dürerliteratur eifrig aus dem Tagebuch, der Familienchronik und den Briefen zitiert wird. Denn diese Zitate haben eher illustrativen Charakter. Der Aufgabe, den historischen und literaturhistorischen Ort der »kleineren Texte« zu bestimmen, hat Heike Sahm sich nun zugewandt. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Textgruppen:

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1. Die familiären Aufzeichnungen

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2. Die Briefe

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3. Die Reimpaardichtungen

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4. Die Widmungsvorreden

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5. Das Tagebuch der Reise in die Niederlande

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Im Verlauf der Untersuchung zeigt sich, dass die bisherige Auswertung der »kleineren Texte« für Dürers Biographie oder Kunstverständnis nicht einer gewissen Naivität entbehren. Heike Sahm formuliert den Sachverhalt einleitend freundlicher:

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Je nach Funktion des Textes äußert sich Dürer anders in religiösen, ethischen, sozialen und wirtschaftlichen Dingen. So stellt er zum Beispiel in einem Brief, zumal in einem Geschäftsbrief, seine wirtschaftlichen Interessen anders dar als in einer Widmungsvorrede. Oder die Frage seiner sozialen Stellung wird in den familiären Aufzeichnungen anders verhandelt als in einem Spottgedicht. Beim Umgang mit diesen scheinbaren Widersprüchen hilft eine genauere Orientierung darüber, in welchen Zusammenhängen der jeweilige Text steht. (S. 1)
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Gehen wir dieser Frage mit der Autorin in der Reihenfolge des Buches nach.

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1. Die familiären Aufzeichnungen

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Wie das spätere »Tagebuch der niederländischen Reise« ist auch die sogenannte »Familienchronik« nur in Abschriften des 17. Jahrhunderts überliefert (S. 11). Ihr Inhalt nennt die Herkunft des Vaters (aus Ungarn), beschreibt dessen verwandtschaftliche Verhältnisse, nennt Kinder und Erziehungsweise, reflektiert über den Tod.

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Die »Familienchronik« ist – wie auch andere der »kleineren Schriften« – wiederholt als persönliches Bekenntnis Dürers verstanden worden. Hans Rupprich, der verdienstvolle Herausgeber seiner Schriften, fomulierte das so: »Aus ihnen [den »kleineren Schriften«] fühlen wir noch heute: er hat ein treues und warmes Herz besessen und ist ein guter Mensch gewesen.« 3

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Dieser Individualisierung Dürers setzt Heike Sahm im Vergleich mit anderen Nürnberger Familienchroniken um 1500 die These entgegen, dass die »Familienchronik« (und anderes) literarischen Formeln entspricht. Die »Familienchronik« wäre demnach nicht ein Ausweis des treuen und warmen Herzens Dürers, sondern in ihren genealogischen Mitteilungen ein Memorialtext (»Geschlechterbuch«), der hinsichtlich der genealogischen Aufzeichnungen zu einer Rechtsurkunde wird. Weniger Familiensinn als vielmehr juristische Notwendigkeit liegen der Niederschrift zugrunde – konkret: Es geht um Erbfolgeregelung sowie die Voraussetzungen zur Zulassung zum Handwerk und zur Übernahme städtischer Ämter (S. 15 ff.). Auch der Wechsel in Dürers Ausbildung vom Goldschmied zum Maler war angesichts der Nürnberger Zunftstruktur »rechtserheblich« (S. 13). Deswegen wird der Wechsel erwähnt; die privaten Reisen nach Italien fehlen hingegen.

[16] 

Ein zweites und nun privates Ziel ist es, das »gute gedechtnus« der Vorfahren zu wahren. Man muß hierzu nicht auf die literarischen und bildnerischen Bemühungen Kaiser Maximilians zurückgreifen. Auch die Familienchroniken Nürnberger Bürger einschließlich der Dürers bieten hinreichende Belege. Dessen Vater »hat auch von menniglich, die jhn gekannt haben, ein gut lob gehabt« (S. 18).

[17] 

Wie die »Familienchronik« in ihren wesentlichen Aussagen den Formen einer noch jungen Tradition entspricht, so zeigt die eindringliche Analyse des doppelseitigen Bruchstücks aus Dürers »Gedenkbuch« (S. 26–40), dass auch dieser Text letztlich der Konvention folgt, sie aber auch partiell überwindet:

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Gerade im ›Bruchstück‹ wird ein Ungenügen an den überkommenen Formeln familiärer Schriftlichkeit deutlich. Die außergewöhnliche Ausführlichkeit seiner Angaben zum Tod von Vater und Mutter korrespondiert mit der Genauigkeit seiner Welt- und Naturbeobachtung, die in seinen Skizzen vielfach bezeugt ist, und sie mag von daher begründet sein. (S. 41)
[19] 

Trotz dieser im Künstlertum Dürers begründeten Beobachtung und Beschreibung dürfte der von der älteren Forschung genutzte »Interpretationsschlüssel ›Individualität‹« als einziges Instrument zum Zugang zu Dürers familiären Aufzeichnungen ausgedient haben.

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2. Die Briefe

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Solchermaßen eingestimmt, wenden wir uns der Untersuchung von 19 Briefen Dürers zu. Es handelt sich dabei um die Schreiben an Jakob Heller (S. 51–60) und Willibald Pirckheimer (S. 60–85). Auch hier gilt im Vergleich mit frühen Briefstellern und zeitgenössischen Briefen, dass Dürer die Normen des Briefverkehrs nutzte.

[22] 

In den Briefen an Heller geht es um geschäftliche Dinge: Der Frankfurter Kaufmann hatte Dürer 1507 mit der Fertigung eines Triptychons beauftragt. Die anschließende Korrespondenz – von der nur neun Briefe Dürers erhalten sind (in Abschrift) – handelt von Terminen und Kosten, Formalien also. Künstlerische Erwägungen kommen nur am Rande vor. Dürer feilscht in diesen Briefen um eine Erhöhung des ursprünglich vereinbarten Lohns und setzt diese schließlich durch geschicktes Missverstehen durch. Sahm zeigt ferner, dass der Künstler in Anrede und Gruß einen »instrumentellen Verzicht auf Freundlichkeit« leistete. Dies mag durch die Spannungen begründet sein, die zwischen Maler und Auftraggeber bestanden. Die andere, künstlersoziologisch interessante Erklärung Sahms, Dürers »Knappheit« gegenüber Heller sei »Ausdruck einer Selbsteinschätzung, die den Künstler Dürer dem Kaufmann Heller im gesellschaftlichen Rang nicht unterordnet« (S. 60), will nicht ganz einleuchten, denn an anderer Stelle zitiert die Verfasserin aus einem Formularbuch von 1484, »dass man gesellschaftlich Gleichgestellten ›ersamlich, früntlich vnd lieblich schreiben sol als seiner genoßschaft gepürlich‹« (S. 49).

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Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um zehn Briefe, die Dürer 1506 aus Venedig an Willibald Pirckheimer schrieb. Sie berichten über Besorgungen, die Pirckheimer aufgetragen hatte, über die Arbeit am Rosenkranzfest, von finanziellen und familiären Angelegenheiten. So aufschlussreich diese Informationen für die Biographie Dürers und sein Verhältnis zu Pirckheimer auch sein mögen: Es sind die letzten vier, die besondere philologische Aufmerksamkeit verdienen. Denn in ihnen nutzt Dürer die Kunstform der Parodie, und zwar der Parodie von Höflichkeitskonventionen (S. 71). Hinzu kommen mitunter grobianische Scherze, auch gezeichnete, über Pirckheimers Frauengeschichten, die im Detail nicht mehr aufzuklären und möglicherweise auch fiktionales Spiel im Rahmen der Scherzkultur sind (S. 78 f.).

[24] 

3. Die Reimpaardichtungen

[25] 

Jene Scherzkultur setzt sich in den nur in Abschrift erhaltenen Reimpaardichtungen fort. Aus dem Jahr 1509 stammt eine ›literarische Kontroverse‹ zwischen Dürer und dem Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler, in die auch Pirckheimer verwickelt war. Gegenstand ist »Dürers dichterische Aktivität«, zu der Spengler Folgendes anmerkt:

[26] 
Ihr kenndt ohn zweifel einen mann,
Hat kraußes harr vnnd einen bart,
Der ist auß angebornen art
Ein Maler maler ye vnnd allweg gwesen.
Vnd darumb daz er schreiben vnnd lesen
Zwo elen vnnd ein virtel kann,
Vermeint er sich zu untersthan,
Die kunst der Schreiberey zu treiben,
Han angefanngen reimen schreiben. (S. 90)
[27] 

Die Wortfehde in wechselseitigen Reimen ist durch Heike Sahm dokumentiert und analysiert (S. 89–98). Anlaß war der Vorwurf zuerst Pirckheimers, dann Spenglers, Dürers Verse zählten mehr als acht Silben und seien daher nicht normgerecht. Dieser formale Vorwurf ist jedoch gegenstandslos, da es eine derart »normgerechte ›Dichtkunst‹« nicht gab. »So völlig aus der Welt, wie die Dürer-Forschung das gerne unterstellt, sind Dürers Ansätze zum Reimen also nicht.« (S. 93 f.) Dürer selbst verstand seine Reime als Freizeitvergnügen und hat die Auseinandersetzung schließlich mit dem ihm eigenen Mittel beendet (?), mit einer Spengler gewidmeten Federzeichnung im Musée Bonnat, datiert 1511, auf der Schreiben und Zeichnen als gleichwertige Handwerke vereint sind (Abb. S. 97).

[28] 

Weitere 18 Reimpaardichtungen sind religiösen oder moraldidaktischen Inhalts (S. 102–114). Drei dieser Texte sind volkssprachlich auf Einblattdrucken mit Holzschnitten Dürers veröffentlicht worden (Abb. S 106, 109, 112), zwei weitere in lateinischer Übersetzung (durch Chelidonius?) finden sich als Beischriften zu Holzschnitten, die Dürers Mitarbeiter Hans Baldung zugeschrieben werden. Ob auch die restlichen Texte zur Veröffentlichung vorgesehen waren, bleibe der Spekulation überlassen. Jedenfalls waren gedruckte Gebets- und Erbauungstexte sowie in Holz geschnittene Andachtsbilder gängige Handelsware, nicht hingegen deren Kombination (S. 113). Es scheint, als habe sich der geschäftstüchtige Dürer ein neues Marktsegment erschließen wollen, in dem Text und Bild von einer Hand produziert wurden.

[29] 

4. Die Widmungsvorreden

[30] 

Die drei theoretischen Bücher Dürers (Unterweisung der Messung, Proportions- und Befestigungslehre) werden mit Widmungsvorreden eingeleitet (S. 117–131). Sie entsprechen formal der Tradition dieser Textsorte. Inhaltlich hingegen enthalten die Unterweisung und die Proportionslehre Dürers Kunstprogramm in nuce, nämlich die Wiederbelebung der Malerei aus dem Geist der antiken und italienischen Kunst und die Verteidigung der Malerei gegen bilderstürmerische Tendenzen. Aufs Ganze gesehen bringt dieses Kapitel den geringsten Erkenntnisgewinn, da die theoretischen Positionen Dürers in der kunstgeschichtlichen Literatur ausführlich diskutiert und die philologischen Probleme eher marginal sind (S. 118).

[31] 

5. Das Tagebuch der niederländischen Reise

[32] 

Das »Tagebuch« ist unter Dürers kleineren Texten der größte: nach Umfang, Zahl der Kommentare und auch nach Aussagekraft. Wie die »Familienchronik« ist es nur in zwei Abschriften überliefert.

[33] 

Der Rezensent hat Heike Sahms Ausführungen (S. 133–182) mit besonderem Interesse gelesen, da er selbst an einer kommentierten Ausgabe des Tagebuchs arbeitete. 4 Der Ausgangspunkt ist der gleiche: Ein Reisebericht und Rechnungsbuch aus den Jahren 1520/21, unterbrochen von der emotionalen »Lutherklage«. Buchhaltung, Beobachtung und Bekenntnis gehen eine untrennbare Verbindung ein. Vergleichbares lässt sich unter den Aufzeichnungen reisender Nürnberger Kaufleute nicht finden – und Dürer war durchaus als Händler unterwegs – wohl aber in Aufzeichnungen von Pilgern (S. 135 f.). Die wirtschaftsgeschichtlich orientierte Untersuchung Wolfgang Schmids von 2003, die allerdings kaum neue Erkenntnisse zum Tagebuch beiträgt, hat Heike Sahm nicht zur Kenntnis nehmen können. 5

[34] 

Die Fragen der Autorin an das Tagebuch beziehen sich auf die Aspekte Rechnungsbuch, Schenkungspraxis, Ehrungen, Besichtigungen und Lutherklage.

[35] 

a) Das Rechnungsbuch

[36] 
Im großen und ganzen hat Dürer sein mitgeführtes Buch – darin ist der Forschung zuzustimmen – als Register der Ausgaben und Einnahmen geführt. Dessen Bewertung jedoch ist, wie mir scheint, neu zu überdenken. Denn die Forschung wird nicht müde zu betonen, dass Dürer ›Heller für Heller‹ ›penibel‹ und ›akribisch‹ alle anfallenden Einzelposten eingetragen habe. Dagegen ist nun festzustellen, dass es Dürers Buchführung an Ordnung und Genauigkeit fehlt. (S. 144 f.)
[37] 

Dem ist zuzustimmen. Allerdings sehe ich nicht, »dass der Versuch einer Bilanzierung vor unlösbaren Schwierigkeiten« stehe (S. 143). Zwar nicht auf Heller und Pfennig, aber doch in Größenordnungen lässt die Bilanz sich erstellen, und Dürers Klage scheint so abwegig nicht zu sein: »Jch hab in allen meinen machen, zehrungen, verkaufen und andrer handlung nur nachthail gehabt jm Niederland.« In Zahlen ausgedrückt: Dürer hat dem Rechnungsbuch zufolge rund 184 Taler mehr ausgegeben als eingenommen. An anderer Stelle schreibt er dem Rat der Stadt Nürnberg, 50 Taler jährlich reichten aus, mit seiner Frau Agnes angemessen leben zu können. 6

[38] 

b) Schenkungspraxis und Ehrungen

[39] 

Der »nachthail« gilt jedenfalls für die Einnahmen und Ausgaben in klingender Münze. Was ihm an Geschenken im Rahmen gesellschaftlicher Umgangsform zufloß, ist – anders als die meisten Gegengeschenke – nicht zu beziffern, und der virtuelle Mehrwert, den er in Form von Ehrungen (S. 155–158) kassierte, muß gänzlich außer Betracht bleiben. Manche der Geschenke waren zum alsbaldigen Verzehr bestimmt (Austern, Zuckerwerk), andere (Exotica) hatten als Kunst- und Wunderkammerstücke bleibenden Wert. Und ebenso erfolgten manche Geschenke als Lohn für von Dürer erbrachte Leistungen, waren also eher Tauschware. Dieser wirtschaftliche Aspekt geht bei der heutigen Bedeutung des »Geschenks« als »freiwilliger Gabe« verloren und verunklärt in der Tat die Bilanz.

[40] 

Sahm macht weiterhin auf den Umstand aufmerksam, »dass auffallend viele Personen, von denen er keine Gegengabe erhält, mit einem Hof in Verbindung« stehen (S. 152). Im Falle der Statthalterin Margarethe von Österreich beklagt Dürer ausdrücklich, von ihr nichts erhalten zu haben. Andererseits sagte die Statthalterin ihm zu, sein letztlich erfolgreiches Begehren um eine jährliche Zahlung in Höhe von 100 Gulden durch Kaiser Karl V. zu unterstützen. Waren die Geschenke an Hofkreise die Wurst, mit der Dürer nach der Speckseite geworfen hat?

[41] 

c) Besichtigungen

[42] 

Eingesprengt in das Rechnungsbuch ist ein Itinerar (S. 158–170). Die Angaben zu Architektur und bildender Kunst sind im allgemeinen knapp gehalten, mitunter so knapp, dass nicht einmal eine Identifizierung der gesehenen Gegenstände möglich ist. Ästhetische Wertungen beschränken sich auf Adjektive wie »schön, köstlich, gut« und ähnliche. Dürer ist zwar nicht interesselos, aber nahezu wortlos an der spätgotischen Kunst der Niederlande vorbeigegangen. Bezeichnend, dass er das im Palast Hendricks III. von Nassau gesehene Riesenbett erwähnt, in dem 50 Menschen liegen könnten, den ebendort befindlichen Garten der Lüste des Hieronymus Bosch aber nicht (heute im Prado).

[43] 

Ausführlich beschreibt Dürer, der mit dem Triumphwagen und der Ehrenpforte Kaiser Maximilians einschlägige Erfahrungen gesammelt hatte, die Vorbereitungen für den Pompa Introitus Karls V. und die Liebfrauenprozession von 1520 (S. 159 f., 163). Beides muß ihm spektakulär erschienen sein, und ein Spektakel war auch gewiß der beim zeeländischen Zierikzee gestrandete Wal. Dürer macht sich mit einigen »Genossen« auf eine zwölftägige (nicht dreitägige, S. 164) Reise. Als er ankam, hatten Sturm und Meer den Wal wieder davongetragen. Wie das, was Dürer sehen wollte, ausgesehen haben mag, ist in zahlreichen Bildern und Beschreibungen überliefert. 7

[44] 

d) Die Lutherklage

[45] 

Zwischen Mitte April und Anfang Juni 1521 schreibt Dürer die Lutherklage nieder. Dürer hatte von der ›Entführung‹ Luthers auf die Wartburg erfahren –»Und lebt er noch oder haben sie jn gemördert, das ich nit weiß«. Für Dürer ist die klare Lehre Luthers das Gegenstück zum »unchristliche[n] pabstumb«, und wenn er eines Nachfolgers bedürfe, dann sei dieses Erasmus von Rotterdam.

[46] 

Die Lutherklage ist seit mehr als einem Jahrhundert vielfach diskutiert und in der konfessionellen Auseinandersetzung instrumentalisiert worden. Die Gretchenfrage nach Dürers Bekenntnis soll hier nicht neu aufgeworfen worden. Hingewiesen sei darauf, dass Heike Sahm den noch 1968 von Heinrich Lutz erhobenen Vorwurf, die Lutherklage sei eine Fälschung 8 , überzeugend zurückweist (S. 172–179): »Die Lutherklage geht demnach überein mit anderen Äußerungen Dürers zu Luther.« Manche der von Dürer ausgesprochenen Motive waren in frühreformatorischen Traktaten verbreitet, und aus dem Tagebuch selbst geht hervor, dass Dürer solche Traktate in Antwerpen erworben hat.

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Welchem Zwecke diente das Tagebuch? Im allgemeinen wird es als private Aufzeichnung verstanden, in der Dürer seine Reise materiell bilanzierte und Erinnernswertes notierte, allenfalls noch als Zeugnis der Selbstreflexion. Die weitergehende Vermutung Heike Sahms ist zwar nicht zu beweisen, liegt aber angesichts eines auf seinen Nachruhm bedachten Künstlers nahe, der sich 1500 in »unvergänglichen Farben« porträtierte:

[48] 
Wie schon mehrfach in dieser Arbeit stellt sich auch beim ›Tagebuch‹ abschließend die Frage, ob Dürer den Text partienweise nicht doch in dem Gedanken schrieb, man würde sich später für sein Leben interessieren. Wo und wieweit ein solches Motiv im gesamten Text mitschwingt, ist im einzelnen nicht zu entscheiden. (S. 184)
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Wie dem auch sei. Dürers Weg in die Schriftlichkeit führte ihn zu Kommunikationsformen, die für ›einfache‹ Handwerker ungewöhnlich waren. Man wird dies als den Versuch verstehen dürfen, sich gehobenen Schichten anzugleichen, die »die kunnst der schreiberey« beherrschten. Insofern markieren Dürers kleinere Texte als frühe nordalpine Beispiele den Übergang vom Handwerkerstand zum Künstlertum.

 
 

Anmerkungen

Rainer Schoch: Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Bd. 3: Buchillustrationen. Hg. von Matthias Mende und Anna Scherbaum. München u.a. 2004, S. 168 ff., 282 ff., 319 ff.   zurück
Hans Rupprich: Dürers schriftlicher Nachlaß. Bd. 1. Berlin 1956.   zurück
Rupprich, Bd. 1 (siehe Anm. 2), S. 7 f.   zurück
Gerd Unverfehrt: Da sah ich viel köstliche Dinge. Albrecht Dürers Reise in die Niederlande (erscheint 2007 bei Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen).   zurück
Wolfgang Schmid: Dürer als Unternehmer. Trier 2003.   zurück
Rupprich, Bd. 1 (siehe Anm. 2), S. 110 (Brief Nr. 53).   zurück
Zwei Titel seien zu Heike Sahms vorzüglichem Literaturverzeichnis nachgetragen: B. C. Sliggers (Hg.): »Op het strand gesmeten«. Vijf eeuwen potvisstrandingen aan de Nederlandsche kust. Haarlem 1992; sowie K. Barthelmes / J. Münzing: Monstrum horrendum. Wale und Walstrandungen in der Druckgraphik des 16. Jahrhunderts und ihr motivkundlicher Einfluss. (Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums 29) Hamburg u.a. 1991.   zurück
Heinrich Lutz: Albrecht Dürer in der Geschichte der Reformation. In: Historische Zeitschrift 206 (1968), S. 22–44.   zurück